Memos in Moll
Es war ein Jahr der Verlässlichkeit: Springsteen und Grönemeyer triumphieren, Eminem dominiert die Jugend, Adams rastet nicht, Stones, Tom Waits, Van Morrison liefern pflichtgemäß, Robbie kommt zu Weihnachten. Und Wilco gewinnen den Preis.
In Amerika kenne schon jeder Schüler den Spruch: „Ryan Adams ist nicht würdig, Jeff Tweedy die Schnürsenkel zuzubinden.“ Diese Kunde brachte uns zwar eine Vetreterin der Plattenfirma, die das neue Album von Wilco veröffentlichte, aber wir glaubten es sofort. Die alte Firma war die neue: Reprise, Teil des Warner-Imperiums, hatte „Yinkee Hotel Foxtrot“ abgelehnt und den Vertrag mit Wilco gelöst, daraufhin ging die Band mit den Bändern hausieren. Für ein paar Dollar mehr wollte auch ein Platten-Versandhandel in Beverungen zugreifen. Am Ende zahlte Nonsuch, ein eher avantgardistisch orientiertes Label, das zu Warner gehört. So blieb alles beim Alten.
„Yankee Hotel Foxtrot“, ein kompliziertes, in herzergreifenden Melodien, Lücken und Geräuschen kunstvoll zergliedertes Kompendium von klischeefreier Melancholie, wurde einhellig gefeiert. Jeff Tweedy musste sich die Schnürsenkel selbst binden. Ryan Adams veröffentlichte das Nebenwerk „Demolition“, nicht mehr als eine interessante Talentprobe nach dem Großwerk „Gold“. Dennoch bleibt Adams mit Konzerten, Liebschaften, Kooperationen, Exzessen, Titelbildern und Foto- und Textlawinen der Mann des Jahres.
Neben Bruce Springsteen, dessen Album „The Rising“ die einzige künstlerische Äußerung von Wert zum 11. September ist. Erstmals seit „Born In The USA.“ wurde er auch außerhalb von Musikzeitschriften wieder wahrgenommen, und während seine schmerzliche Bestandsaufnahme „The Ghost Of Tomjoad“ in den USA kaum vernommen wurde, gelangte „The Rising“ sofort auf Platz 1 der Charts. Die Rückkehr der E Street Band und damit auch seiner „Rock-Stimme“, wie Springsteen es nennt, machte die Rezeption einfach. Mit „Empty Sky“, „Paradise“ und „My City Of Ruins“ gelangen Stücke, die über die redliche Gospel-Tröstung der meisten anderen Songs hinausweisen in einer für Springsteen charakteristischen Vermengung von existenzialistischem und transzendentalem Pathos. Wenn dieser eine Satz noch erlaubt ist.
Tom Waits überraschte mit gleich zwei Alben aus seiner patentierten Produktion, doch „Alice“ und „Blood Money“ behinderten sich gegenseitig und wurden am Ende nicht recht gewürdigt (wir sind aber nicht daran schuld!). Van Morrison fuhr noch einmal die alte Straße hinunter und geriet dabei – anders als bei seinen Auftritten als mürrischer Magenbitter-Opa – beinahe in Rage. Neil Young enttäuschte mit dem uninspirierten „Are You Passionate?“ und verstörte mit dem peinlichen Revanchismus von „Let’s Roll“. Andere Veteranen wie Rod Stewart, Joe Cocker und Cliff Richard versumpften endgültig im Unterhaltungs-Schlamm, die Rolling Stones brauchten wie Elvis Presley nur eine Ladung alter Songs, um neuerlich zu begeistern. Peter Gabriel entzweite mit „Up“ die Kritik mehr als die Gemeinde, der unbeugsame Steve Earle und der biegsame James Taylor spielen ohnehin nur für gläubige Gemeinden. Lee Hazlewood, Warren Zevon und Guy Clark glänzten noch einmal ab begnadete Songschreiber, Jackson Browne und Tom Petty diesmal leider nicht. Solomon Burke erfreute als großer Sänger, Johnny Cash ebenso als routinierter Interpret mit alttestamentarischer Grandezza. Paul Westerberg behauptete sich als bellender Untergeher, Elvis Costello als Meister aller Klassen, Lambchop mit Piano-Meditationen auf „Is A Woman“ als Magier des Brummeins, und Mark Knopfler brummelte wie immer. Beck überzeugte mit dem brillanten, aber auch leblosen „Sea Change“, Roddy Frame mit altmeisterlichen Gitaren-Songs und Stimme auf „Surf“. Brian Wilson nahm noch einmal „Pet Sounds“ auf – allerdings live.
In Britannien dominierten die Libertines mit ihrem apodiktischen Handstreich-Debüt „Up The Brackel“ und Produkte 2002
wiesen damit auch die beliebten Wattebausch-Melancholiker Coldplay in die Schranken, die Thom Yorkes Abwesenheit zu einem wohltönenden Intermezzo nutzten. Oasis hauten das mediokre, aber unverkennbar plagiatreiche ^ieathen Chemistry“ heraus, David Bowies „Heaven“g ehört zu den angenehmen Überraschungen – wenngleich es nach erstem Lobpreis nicht ganz standhielt Blur verloren ihren Gitarristen Graham Coxon, der gibt nun SydBarrett. Edwyn Collins bewies wie stets Stärke, Haltung und Reife, Lloyd Cole musiziert tapfer vor sich hin, Supergrass schütteten wiederum ein Füllhorn lieb gewonnner Retro-Sounds aus. Paul Weller versammelte allerlei Nachfahren zur souveränen Selbstfeier auf „Illumination“, Doves gewannen moderate Modernisten, Haven und Vega 4 kamen nicht aus den Startblöcken (nicht unsere Schuld, nicht unsere Schuld!), Richard Ashcroft mag keiner so recht. Belle & Sebastian begnügten sich mit einem Soundtrack, der ihren apfelwangigen Messdiener-Kleinoden ebenbürtig ist. Die Pet Shop Boys, jetzt auch mit Gitarren, nahmen im Video zum lahmen „London“ offenbar ihre Zukunft als Straßenmusikanten vorweg der Ofen ist aus. Dagegen wird der Straßenmusikant Badl yDrawn Boy wohl nach seinen zwei Streichen in diesem Jahr endgültig zum Popstar.
Mag London dank der Libertines auch die Hauptstadt des Popkönigreiches sein, liegt die Hauptstadt der Herzen doch auf der anderen Seite des Atlantiks: Omaha. Unsere Schuld ist das nicht, eher schon die des 22-jährigen Kopfhängers Conor Oberst, der mit seinem Musikerkollektiv Bright Eyes das wundervolle „Lifted – The Story Is In The Soil Keep Your Ear To The Ground“ vorlegte. Formiert haften sich die Indie-Folker in einem Kaffeehaus.
Auch in New York lebte die Kaffeehaus-Tradition wieder auf. Kimya Dawson und Adam Green von den Moldy Peaches ließen uns auf ihrer vorbildlichen Zusammenstellung „AntiFolk Vol.1“ daran teilhaben. Die Bezeichnung „Anti-Folk“ fuhrt allerdings leicht in die Irre, da es sich hier um eine, wenn auch skurrile, Rückkehr zu alten Folk-Idealen mit einer Spur Punk handelt. Ein weiterer Meilenstein dieses Genres: das herrlich verschrobene Debütalbum des Comic-Zeichners Jeffrey Lewis: „The Last TimeI Did Acid Wentlnsane“.
Neben den beiden Szenen von Omaha und New York bezauberten im Independent-Bereich vor allem wieder die alten Helden und Solitäre. Mark Olson glänzte wie gewohnt mit den Creekdippers, Jason Molina von Songs: Ohia mit seinem bisher vielleicht schönsten Werk, „Didn ‚t It Rain“ ein Album wie eine Sanduhr. Fast schon verspielt dagegen ,“Amore Del Tropico “ der Black Heart Procession, das teilweise klingt wie die Gothic-Variante des Buena Vista Social Clubs.
Richtig dunkel wurde es in diesem Jahr bei Sixteen Horsepowers Ausflug in die Folk-Historie,“Folklore“. Auch David Eugene Edwards‘ Solo-Werk “ Woven Hand“ eignete sich kaum fürs Cabrio.
Der wohl bedeutendste amerikanische Eremit und Songschreiber, Will Oldham, hielt sich in diesem Jahr (bis auf eine vorzügliche EP) zurück, verhalf aber dem Schweden Nicolai Dunger als musikalischem Gast zu einer weiteren Großtat: „Tranquil Isolation“, das bei uns zunächst nur als Import zu haben war, jetzt aber doch offiziell erscheint (dies könnte allerdings unsere Schuld sein). Weniger folkig-verschroben machte White-Stripes-Freund Brendan Benson mit „Lapalco“ das wohl geradlinigste Pop-Album des Jahres. Über den Vereinigten Staaten liegt bekanntlich Kanada – und über allen amerikanischen Songschreibern thronte in diesem Jahr der Kanadier Ron Sexsmith. Der elektro-soulige Folk von „Cobblestone Runway“ ist mehr als ein retum toform.
Neben aller Liebe zum Song, glänzte auch die milde Avantgarde, vor allem die Liars und die (dank Jim O’Rourke) wiedererstarkten Sonic Youth.
Und im Metal zogen sich die Dumpfbacken endlich ein wenig zurück und ließen aufregenderen Bands den Vortritt Queens Of The Stone Age kamen mit „Songs For The Deaf“ aus dem Hinterhalt – so viel Mut war selten: ein wildes, undefinierbares Album. Und zwei Parteien, die gar nicht kompatibel schienen, trafen sich und ließen einen staunen: Chris Cornell und die Musiker von Rage Against The Machine wurden zu Audioslave (an dem Namen sind sie selbst schuld)- a match made in heaven. Cornells Kumpel von Pearl Jam waren mit ihrem „Riot Ad“ allerdings nicht zu sei Jagen: Eddie Vedder singt schöner denn je, seine Texte sind so kryptisch wie bewegend. Und jetzt redet er sogar wieder! Das berührt doch mehr als das Epigonentum von Puddle Of Mudd. Filter verloren den Bezug zur Realität und fanden kaum noch interessante Songs, die Foo Fighters sind leider auch nicht mehr lustig. Dafür überraschten die auch nicht immer geschmackssicheren Red Hot Chili Peppers mit dem wunderbaren „By The Way“, das nur Hits enthielt und ihnen endlich den Weg zur Nummereins-Rockband für die Massen ebnete.
Richtig gerockt hat Alanis Morissette nicht, dafür hat sie endlich den Indien-Quatsch hinter sich gelassen und widmet sich auf „Under Rug Swept“ ihren Lieblingsthemen Selbstfindung und Beziehungssorgen. Tori Amos ist längst erwachsen und hat das nicht mehr nötig – auf dem bezaubernden „Scarlet’s Walk“ seziert sie Amerikas Nöte und Hoffnungen so klarsichtig wie nie. Indes lieferte Aimee Mann mit „Lost In Space“ noch ein Meisterwerk ab, das zu wenig beachtet wurde – genau wie Bedi Ortons „Daybreaker“. Pech für die Unwissenden.
Die HipHop-Szene hat zumindest in den USA die industrielle Struktur so in sich hineinverlagert, dass die einschlägigen Stimmen Jay-Z-Ja Rule und Snoop Dogg mit der Wortmeldung bis Weihnachten warteten. Umso mehr Aufsehen erregten der Dirty-South-Bouncer Nelly, das innovative Mini-Label Def Jux und – einsam oben – Eminem. Der sammelte weiter Lob, seit er auf „The Eminem Show“ die Homophobie weitgehend durch Introspektion ersetzt und einen ganz guten Film gedreht hat Mike Skinner aus London adaptierte da^ Eminem-Prinzip überzeugend fiir England, nahm als The Streets ein unglaublich eigenständiges, naivsozialrealistisches Sprechgesangs-Album auf. Wie wenig berechenbar ein altes Team sein kann, bewies Missy Elliott mit Doktorvater Timbaland, der wie das Duo Neptunes als Feature-Produzent inflationär allgegenwärtig war. Die Neptunes klickerten für Beyonce Knowles immerhin „Work It Out“, die Black-Music-Single des Jahres. Und während Moby, Chemical Brothers und (nur mit Maxi) Prodigy versagten, kam die beste Elektronik vom Label Kompakt aus Köln.
Hamburg und Weilheim, die Indie-Pop-Wallfahrtsorte, spuckten zwei Meisterstücke aus: das weiße Tocotronic-Album, mit dem die unglücklichen Pop-Beatniks den Ausweg in die inhaltliche Tiefe fanden, und das lebkuchenweiche „Neon Golden“ von The Notwist, die Weltformel für Gitarren-Digitalmusik. Man stand mit allen Beinen so fest in der Zukunft, dass Zeit für historische Besinnung war: Jürgen Teipels Buch „Verschwende deine Jugend“ stieß die Diskussion über deutsche Punk-Wurzeln an, eine junge (schwer erträglich: Mia) und eine alte Punkband (Fehlfarben mit umstrittenem Comeback) stiegen aus dem Schaum. Herbert Grönemeyer, der sich mit „Mensch“ zum Erwachsensein bekannte, entschied das Duell gegen den verzweifelt spätpubertierenden Westernhagen für sich, aber noch größer war die Freude, als einer der unvermeidlichsten deutschen Stars seine beste Platte in 20 Jahren machte: Dieter Bohlen brachte ein Hörbuch heraus.