Mein wundersames Jahr mit Joe Jackson
ROLLING-STONE-Autor Marc Vetter über die überraschend intensive Zuneigung zur Musik eines eigensinnigen Songwriters, die nicht so leicht abzuschütteln ist.
„Mein bestes Album ist immer das nächste.“ Ich konnte ein Augenrollen nicht unterdrücken, als mir Joe Jackson im Interview auf meine Frage, welches Album seiner Meinung nach das wichtigste in seiner langen Karriere war, diese Antwort gab. Eine Plattitüde, dachte ich, wie ich sie schon von vielen Künstlern gehört habe. Und nun ausgerechnet von diesem Berufsexzentriker, der immer das machte, was er wollte, diese hohle Ausrede?
(Dieser Artikel erschien zuerst im Dezember 2019)
Ich will es gar nicht verhehlen: Gespräche mit Musikern können das Bild, das man als Journalist über die Jahre von ihnen entwickelt hat, gefährlich ins Wanken bringen. Gerade dann, wenn solche Interviews am Telefon stattfinden und sie auf Gedeih und Verderb von der manchmal klinischen, manchmal von technischen Problemen befangenen Gesprächsatmosphäre abhängen. Ich hätte mir Jacksons neue Songs anhören und mich schnell von ihm wieder entfernen können. Das habe ich aber nicht.
Über 100 Stunden Joe Jackson im Ohr
Stattdessen habe ich ein ganzes Jahr lang mit Joe Jackson verbracht. Ich habe jedes seiner Alben gehört. Viele Male. Ich habe jedem einzelnen Song von ihm gelauscht. Viele Male. Ich habe seinen Live-Platten gehorcht. Viele Male. Ich habe sogar seine Soundtracks gehört. Nicht ganz so viele Male. Ich habe mir Verfügbares und weniger verfügbares Soundmaterial aus dem Untergrund besorgt. Ich habe seine aufschlussreiche Biographie „A Cure For Gravity“, Interviews und unzählige Berichte über ihn gelesen.
Man könnte sagen, ich bin süchtig nach diesem immer etwas gravitätisch wie außerirdisch daherkommenden britischen Sänger, Bandleader, Komponisten und Bewahrer einer rücksichtslosen Raucherkultur geworden. Mein Spotify-Account bezeugt es mit weit über 130 Stunden Hörzeit in der Jahresabrechnung. Ich wollte schon länger ausprobieren, was es heißt, wirklich jeden Tag aus dem musikalischen Brunnen nur eines Künstlers zu schöpfen. Nun war die Chance gekommen.
Aber warum höre ich plötzlich derart exzessiv die Musik eines Songwriters, der im Interview zwar selbstbewusst, dafür aber kaum sympathisch daher kam und von dem ich zuvor nur einige wenige Alben bewusst wahrgenommen hatte? „Night And Day“ gefiel mir schon beim ersten Hören. Der Jazz-Drive, die launigen Grooves und verschleppten Tempi, die etwas verschnörkelte Verneigung vor einem schmutzigen, aber eben immer noch hochlebendigen New York der 80er. Großartig.
Dann hörte ich „I’m The Man“ (es findet sich in der vom deutschen ROLLING STONE gewählten Liste der 500 besten Alben auf dem respektablen Platz 198), fand Gefallen, aber keine große Freude an den nur einige Jahre vorher aufgenommenen, manchmal etwas wehleidigen Poser-Krachern im kargen Stil. Das war es dann aber erst einmal auch. Nach „Fool“, das nach meinem Empfinden wieder souverän an die unkomplizierte Frühphase Jacksons anschließt, nahm ich mir diese ersten Platten noch einmal vor – und war ihnen plötzlich verfallen.
Kann man sich nach diesen Songs sehnen?
Noch einmal: Warum ausgerechnet Joe Jackson? Gab es in diesem bemerkenswerten Musikjahr nicht Wichtigeres zu hören? Ein fantastisches Album von einer jungen Songschreiberin nach dem nächsten. Wieder melancholische Meisterwerke von Bill Callahan, Nick Cave, Bonnie Prince Billy und (dem leider, leider verstorbenen) David Berman. Gleich zwei Großtaten von Big Thief. Brillante Platten von Wilco, Tindersticks und Deerhunter (mal wieder). Die britische Jazz-Welle. Sogar Mainstream-Musik ist wieder gut (King Princess und Coldplay!).
Kaum ein Mensch sehnt sich nach den Liedern des musikalischen Pilgers Joe Jackson. Aber ich brauche diese Songs – und ich behaupte, dass es viele andere gibt, denen es ähnlich geht oder gehen würde, wenn sie vielleicht zum ersten Mal „Steppin‘ Out“, „Is She Really Going Out With Him“ oder „It’s Different For Girls“ hören. Um nur einige wenige, aber nicht einmal die besten Hits Jacksons zu nennen.
Das Größte, was dieser in ärmlichen Verhältnissen in Burton-upon-Trent (Staffordshire) in Großbritannien geborene Musiker mit Stipendium für die klassische Musikausbildung geschrieben hat, ist „You Can’t Get What You Want (Till You Know What You Want)“. In einer gerechten Welt würde dieser von frenetischen Bläsern angetriebene Song genauso oft im Radio gespielt wie der Stones-Klassiker, den er frech zitiert.
Immer auf der Suche nach dem richtigen Klang
Das Stück stammt vom Album „Body And Soul“ aus dem Jahr 1984. Da hatte Jackson nach seinem stürmischen Debüt Ende der 70er und den nahtlos anschließenden Nachfolgern („I’m The Man“, „Beat Crazy“) Swing und Blues gefeiert („Jumpin‘ Jive“), seine frühe Band um den Bassisten Graham Maby, den Schlagzeuger Dave Houghton und den Gitarristen Gary Sanford abgestreift und mit „Night And Day“ vermutlich ein größeres Publikum angezogen als seiner immerzu obskuren Text- und Kompositionskunst, die Jazz und Klassik immer näher blieb als dem Rock, eigentlich vergönnt war.
Danach folgte Jackson seinen eigenen Pfaden zunehmend unabhängiger, mal mit alten Kollegen, mal mit neuen. Immer auf der Suche nach dem richtigen Klang, nach den richtigen Tönen für seine oft etwas quäkende Stimme, der er nie so recht vertrauen wollte. Dafür wurden die meisten Stücke live auseinander genommen, neu zusammengesetzt, beschleunigt, in verschiedenen Formationen zerkleinert und vergrößert. Wie es gerade passte. Die nostalgiebefreite Veränderung seines Werks gehört zur künstlerischen DNA Jacksons. Die Bühne blieb immer das Biotop für die Heranzüchtung neuer Ideen (weswegen auch eigentlich kein Album Jacksons durch und durch perfekt ist; sie sind eher so etwas wie sorgfältig angefertigte Arbeitsnachweise).
„Body And Soul“ wurde zum Teil in einer alten Fabrik eingespielt, um den richtigen Hall für die südamerikanischen Rhythmen zu erzeugen. Ein Spleen, den sich Jackson bewahrte: „Big World“, eine musikalische Weltreise, der Name sagt es ja schon, wurde vor Publikum aufgezeichnet, das aber keinen Mucks machen durfte. Später gab es auf Tour, noch bevor es zum retroseligen Trend wurde, ein komplettes Album am Stück („Blaze Of Glory“, Jacksons wohl am meisten durchdachte Platte – mit geschmeidigen Übergängen, kompositorischem Größenwahn und fantastischem Sound; eine Offenlegung der eigenen Schöpfungs- und Improvisationskraft, eine Offenbarung, als Geschöpf der 80er alle Ströme in sich aufgesaugt zu haben) und eine eigene Symphonie, für die es – dem Spötter Jackson angemessen – tatsächlich sogar einen Grammy gab.
Man könnte meinen, dass Joe Jackson seine Songs vor allem für sich selber spielte und erst danach an seine Zuhörer dachte.
Starkes Debüt mit „Look Sharp“
In der US-Ausgabe des ROLLING STONE las man so schön über sein famoses Debüt mit dem so sinnfälligen Lackschuh-Cover, der Sänger könne mit Worten nicht annähernd so gut umgehen wie Elvis Costello und bleibe weit hinter dem Blue-Eyed-Soul-Man-Style seines Meisters Graham Parker zurück. Aber er könne es trotzdem Song für Song mit all den grimmigen britischen Bands aufnehmen, die den Post-Punk und New Wave anheizen.
Das ist das Schöne an der Frühphase Jacksons: All diese bewusst minimalistisch gehaltenen Songs mit ihrem befremdlich sentimentalen Personal – vom kantigen „One More Time“ über das giftig-sarkastische „Geraldine And John“ bis zum genölten „Beat Crazy“ – bilden zugleich perfekt die musikalischen Moden ihrer Zeit ab (Punk-Wut, gescheites und gescheitertes Lieben, scharfe Gegenwartsbeobachtung), ziehen sie aber durch einen Ironiefilter. Heute würde man wohl sagen, dass sie ihre Grundlagen dekonstruieren. Aber Joe Jackson ist ein Intellektueller, der solche leblosen Begriffe wie der Teufel das Weihwasser scheut.
(Un-)Happy Loving Couples
Stattdessen tat er immer alles dafür, dass seine Musik dem Zahn der Zeit nicht anheim zu fallen drohte. Songs wie „It’s Different For Girls“ (Freud hätte seine helle Freude daran) und „Real Men“ wirken wie flüchtig dahin geworfene Kommentare zum nimmermüden Kampf der Geschlechter und können es locker mit all den aktuellen Beziehungsratgebern der Popmusik aufnehmen. Weil sie eigenartigerweise gleichsam von ihren eigenen, sich immer wiederholenden Motiven besessen sind und distanziert neben ihnen stehen. „Cancer“ könnte heute wieder als sarkastische Abrechnung mit dem Ernährungs- und Gesundheitskult durchgehen. Und „Blaze Of Glory“ kündet von Schönheit und Wahn des Narzissmus‘.
In fast jedem Lied sind die „Happy Loving Couples“ eben alles andere als das. Und doch verstehen Jacksons Songs nur eine Richtung, nämlich jene zu einer gewiss nicht weinerlichen Romantik. Joe Jackson kennt keine Kalamitäten, nur Fluchtlinien zu einer neuen Sicht auf die Dinge. Vielleicht auch deshalb erscheinen mir seine Lieder, die wirklich niemals traurig sind und doch immer einen heiter-melancholischen Touch haben, tröstlich.
Joe Jackson muss man live hören
Und sie werden nie langweilig, wie sich eindrucksvoll auf Joe Jacksons erstem Live-Doppelalbum „Live 1980/1986“ zeigt. Es ist mir im Grunde zur liebsten seiner Platten geworden, weil hier alles elektrisierend erscheint, die knarzigen Gitarrenbrecher neben verzauberten Neufassungen der New-York-Phase stehen, weil hier „Is She Really Going Out With Him“ in drei höchst unterschiedlichen Versionen zu hören ist (angeblich konnte sich Jackson bei der Auswahl für keine Variante entscheiden, weil alle drei authentisch widergaben, was dieses Lied auszudrücken vermag), „Fools In Love“ zum Herzschmerzepos gerinnt, „You Can’t Get What You Want“ gleißend rockt und „Steppin‘ Out“ als düsterer Epilog nach dem beschwingten „Jumpin‘ Jive“ plötzlich eine Tragik erfasst, dass einem das Herz schockgefriert. (Es gibt einige Live-LPs von Joe Jackson aus verschiedenen seiner Werkphasen, etwa eine Manifestierung der untrüglichen Qualitäten seines späten Comebacks mit der Joe Jackson Band, passend betitelt: „Afterlife“.)
Wenn es so etwas gibt wie einen Wert des festgehaltenen Live-Augenblicks, also eine Rechtfertigung, warum überhaupt etwas auf Scheibe gepresst wird, was doch im Konzertsaal unendlich viel mehr Eindruck macht, dann finden sich hier gleich mehrere schöne Berechtigungen. Ein Künstler zieht ein erstes Fazit seines Werks über die Form, in denen seine Songs wirklich lebendig sind (auf der Bühne). Die absoluten Höhepunkte von sieben Platten auf einen Streich ohne auch nur einen Aussetzer zu produzieren. Ein Klang, der so satt ist, dass man selbst hört, wie die Gitarren an die Verstärker angeschlossen werden.
Es gibt viele ergreifende Live-Platten. Neben „The Name Of This Band Is Talking Heads“ erweist sich „Live 1980/86“ als eine der wenigen, die ein Eigenleben neben dem Hauptwerk haben und das Zeug dazu haben, etwas über die Musiker zu erzählen, die dort auf der Bühne stehen.
Der unerschütterliche Bass von Graham Maby
Zum Beispiel Graham Maby, der Joe Jackson schon seit den 70ern, so auch bei seinen ersten Gehversuchen in der Bar-Rock-Szene mit der bald wieder fallen gelassenen Band Arms And Legs, unterstützte. Vielleicht der talentierteste Bassist ohne großen Namen, wenn man seinen Rang nur danach bemisst, wie er die Musik einer Band mit seinem Spiel prägte. Recht eigentlich hält Maby, der auch mit They Might Be Giants und Natalie Merchant zusammenarbeitete, die Songs mit seinen mal zackigen, mal mäandernden Bass-Sequenzen zusammen.
Seine Fingerfertigkeit sorgt für den Herzschlag, für das improvisatorische Rückgrat in Tracks wie „Look Sharp“, „Sunday Papers“ oder eben „Fabulously Absolute“ von der letzten LP „Fool“. Diese Konstanz einer künstlerischen Partnerschaft leistet sich Jackson wohl auch, weil er Freundschaft stets als wirkungsvolleres Medium der Liebe betrachtete als andere Beziehungsformen.
Ich gehöre der Generation an, die gleichzeitig eine nicht mehr zu kontrollierende Plattensammlung hegen und in Streaming-Diensten hemmungslos zuschlagen, wenn es etwas Neues zu entdecken gibt. Es gibt für mich nichts Erfüllenderes, als sich einer Künstlerin oder einem Künstler oder einer Band vollständig und mit Haut und Haaren zu verschreiben. Jeden Partikel eines musikalischen Universums aufzunehmen. Natürlich finden sich Fixsterne seltener, gerade wenn es darum geht, auch unter professionellen Bedingungen so viel wie möglich zu hören. Umso erschütternder ist es, wenn dann doch wieder etwas wie aus dem Nichts wie ein Vorschlaghammer zuschlägt (wie es Joe Jackson in seinem „Slow Song“ beschreibt).
Musik, die mir ein Leben lang zur Begleitung wird, erscheint mir oft in der Nacht oder am Morgen. Von Neil Young habe ich geträumt, bevor ich mir meine erste Scheibe von ihm gekauft habe. Die Talking Heads tat ich ab, bis ich morgens mit dem Beat von „Born Under Punches“ erwachte. Ähnlich erging es mir mit R.E.M., den White Stripes und Patti Smith. Träume kennen keinen gemeinsamen Nenner. Ich kann so etwas nicht erzwingen. Irgendwann pfiff ich zum Kaffee am Morgen Melodien von Jackson oder rief sie mir bewusst ins Gedächtnis, wenn der Stress des Alltags mich zu verschlingen drohte.
Es ist ja so, dass Lieder, die sich nicht mehr abschütteln lassen, zu so etwas wie einer Droge werden, die man benötigt, um den Blick nach oben zu richten. Songs, die man mitsingen kann, bei denen man jeden einzelnen Ton mit dem Gehirn vorbilden kann, bevor er aus dem Lautsprecher kriecht und wo sich der Körper in einem Takt bewegt, der vielleicht auch von der Erstarrung der Gewohnheiten ein Stück weit befreit.
Nicht jede Musik ist dazu in der Lage. Den ruhelosen, furchtlosen Songs von Joe Jackson gelingt es bei mir vortrefflich. Ich habe diese Musik nötig.
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