Mein Leben mit den Tindersticks: Kleine Tränen, große Wirkung
Vor 30 Jahren erschien das epochale Debütalbum der Tindersticks. Für ROLLING-STONE-Autor Marc Vetter ein Monument des wohlklingenden Weltschmerzes und der Auftakt eines Werkes, das keinen, der ihm näher kommt, kalt lassen kann.
Die Tindersticks sind eine Band für gewisse Stunden. Jene der mal wonnigen und mal verdüsterten Trübsal; von knarzenden Gitarren, flehenden Violinen, gestriegeltem Saxophon, gestreicheltem Klavier, markanten Orgeln und vielen anderen Instrumenten zu einem orchestralen Klang fusioniert. Manche nennen das Chamber- oder Barock-Pop, andere sehen darin einen Indie-Rock, der sich zur Entstehungszeit der britischen Formation schlicht eigenwillig gegen den schmutzigen Schrummelsound oder den damit konkurrierenden kumpeligen Schunkelklang zu Wehr setzte, der Anfang und Mitte der 90er auf der Insel Erfolge feierte.
Anders als andere Protagonisten dieser Zeit sind die Tindersticks mit ihrer mal sehr dramatischen, mal stoischen Musik bis heute geblieben. Sie sind mit ihrer vertonten Schwerblütigkeit, die, als die großen Dramen erschöpft waren, auch Lounge-Entspanntheit annahm, aber ihr ganzes Selbstbewusstsein irgendwann aus cineastischer und theatralischer Filigranität bezog, schlicht ihr eigenes Genre und deshalb niemals langweilig geworden.
Wer kann schon sagen, worüber in diesen Klageliedern gesungen wird, aber ihre prosaischen Titel sprechen für sich: „Tiny Tears“, „City Sickness“, „My Sister“, „Another Night In“, „Can We Start Again?“, „Sometimes It Hurts“, „Raindrops“, „Medicine“. Mindestens die zwei ersten Alben, noch unbetitelt, sind für die Ewigkeit, „Curtains“, der dritte Streich, taugt wenigstens fürs Vorzimmer des Olymps feinsinniger Trauerschwelgereien.
Stille Brüter mit Stil-Bewusstsein
Die Tindersticks begleiten mich schon mein halbes Leben lang. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern, wie ich „Tindersticks I“ das erste Mal hörte. Liegend auf einem Bett, wie es sich gehört. Wie ich meinen Ohren kaum glauben wollte, als „Whiskey And Water“ angerührt wurde, wie „Blood“ gleich zweimal angezählt wird, um sich zu entfalten – und vor allem wie ich zu „Jism“ völlig spontan geradezu aufsprang vom Laken und mich traurig tanzend der Trance dieser Musik übergab. Ich habe mich schon als Jugendlicher für ein Leben als Melancholiker entschieden. Fernab von Mental-Health-Diskursen ist das auch eine Vergegenwärtigung von Kunst, Film, Literatur und vor allem Musik, die sich dieser Brüterhaltung widmet, sie ausdrückt und verfeinert. Es gibt nicht DIE Melancholie (den Weltschmerz, die Depression, die bange Angst, das in Watte gepackte Leiden auch und vor allem an eigenen Verlusterfahrungen), es gibt viele. Die Tindersticks treffen den Ton der Melancholie wie keine andere Band. Fast alle anderen Verfechter dieser Geisteshaltung sind allein auf der Bühne geblieben oder suchen sich nur von Zeit zu Zeit eine Begleitung.
Während die stets im edlen Zwirn auftretenden Schöpfer dieser Moll-Fantastereien eher etwas im Hintergrund werkeln, verkörpert ihr Sänger Stuart A. Staples den Dandy, den Zurückgewiesen, den Berufszweifler und Affärenjongleur. Ein Murmler im Anzug, mit kühlem Blick und introspektiver Noblesse. Steht er auf der Bühne, bewegt er sich kaum. Man sieht, dass er sich in seine Songs hineinflüchtet. Ein Schmerzensmann, der – so könnte man meinen, wenn man diese Stücke aufsaugt, und dazu sind sie bei Gott auch gemacht! – in einer Hafenkneipe an seinem dritten Whiskey nippt, versonnen auf das diesige Wasser schaut und eine verblasste Liebe in Gedanken wieder zum Leben erweckt. Solche Typen nennt man Schwärmer. Es gibt nicht mehr all zu viele von ihnen, seit die Zeiten formloser geworden sind.
Man hört die Tindersticks natürlich nicht zwischendurch. Sie gehören aufgelegt wie ein bestimmter Wein geöffnet wird, weil der Kummer es verlangt oder ein besonderer Gast zu Besuch ist. Vornehmlich richtet sich diese Band zu ihrer eindringlichen Wirkung natürlich in Herbst und Winter ein, wenn der Herzschmerz noch mehr weh tut, das Schmuddelwetter und die fahle Düsternis in die beheizte Stube zwingen. Ich höre sie eigentlich die ganze dunkle Jahreszeit hindurch. Die Tindersticks sind auch eine Band, die abgestreift gehört, wenn sich das Gemüt aufrichtet und die sich nicht fürchten braucht, dass man sie auf ewig fortsperrt. Das Wiedersehen wird kommen.
Ein Besuch eines Konzerts der zurückhaltenden Briten gleicht seit vielen Jahren einer Messe, in der allerdings andächtiges Schweigen verlangt wird. Auf Festivals sollte man die Tindersticks nicht mehr zwingen, sie spielen mit ihrer Tiny-Orchestra-Music ja längst auch in den Philharmonien. Sie gehören dort hin, und dann wieder doch nicht. Denn zur klassischen Musik sind diese auch nach mehr als drei Dekaden wandlungsfähigen Klangmalereien (wie zuletzt das überraschend elektronisch pluckernde „Distractions“ zeigte) nicht geronnen. Es bleibt immer ein schmutziger, chaotischer Kern, eine Fläche, die sich vor Perfektionismus in Acht nimmt, weil der Faden zum produktiven Scheitern andernfalls vermutlich verloren ginge.
Spricht man mit Staples über seine Musik, dann bekommt man wenige klare Antworten. Seine Songs haben eine in sich gekehrte Mystik. Bedeutung zu suchen wäre vergebens, es kommt auf die Wirkung und die Vertiefung ihres emotionalen Zustands an. So wie das Verständnis für das, was Melancholie ist, immer mehr verschwindet, je häufiger man den Begriff in Stellung bringt. Wie gesagt: Es gibt nicht eine bestimmte Form dieser Weltflucht. Es ist nicht einmal klar, ob sie Schicksal ist (im Zeichen des Saturns, eine Ausgeburt des introvertierten Temperaments, genetische Disposition) oder Wahl (sich nicht nur hüten vor der wild gewordenen Außenwelt, sondern sich mentalverwandtschaftlich in Obhut einer Gruppe von meist begabten Außenseitern begeben, die das Leben nicht nur mit bitterem Ernst betrachten oder es mit infantilem Hedonismus zerkleistern, sondern das Hoffen und Streben und Suchen zu ihrem wichtigsten Anliegen machen).
Verkörperung von Demut und exemplarischem Leiden
Erlebt man die Tindersticks auf der Bühne, lässt sich auch erkennen, was der gemeinsame Nenner dieser Vorstellungen ist, wenn sie zu einem Dienst der Musiker für ihr Publikum gerinnt: Demut. Diese Erkenntnis kam mir, als ich die Band einmal von allen Lasten des Überschwangs befreit bei einer Art Privatkonzert im Berliner Kunsthaus Bethanien sah. Sie spielten einen akustischen Gig, was sie für gewöhnlich nie tun. Sie minimalisierten ihre Lieder, die ihre Spannung doch dadurch erhalten, dass sie von kleinen Tränen sprechen, aber das noch nutzloseste, pikierteste Leiden in außerordentliches musikalisches Pathos kleiden. Das hatte einen eigentümlichen, rührenden Effekt; eine kunstgewordene Nacktheit.
Passend dazu wurden die Bilder von Staples Ehefrau und Lebensmensch Suzanne Osborne gezeigt. Sie gehören zu den Tindersticks dazu. Schon das Cover ihrer ersten Platte wurde von ihr gestaltet. Zu sehen waren ihre Wolkengemälde, zu unterschiedlichsten Zeiten an verschiedenen Orten gemalt. Die Band adoptierte einige davon für die graphische Gestaltung ihres Meisterstücks „The Something Rain“. Hier, an diesem Abend, symbolisierten sie wie von selbst das Luftige, Prozessuale, Vergängliche und Auferstehende der Musik der Tindersticks. Einer Formation, die verschiedenste Veränderungen durchmachte, Mitglieder verlor, neue gewann, sich stets strebend bemühte und auch deshalb über allem schwebt.
Die Tindersticks sind keine Überlebenden, sie verkörpern den stoischen Fluss der Dinge, die Allgegenwärtigkeit von Dramatik, geistiger und emotionaler Bewegung. Und einer Demut, dies als Kunsthandwerker in einer Form zu übermitteln, die eben auch bewusst artifiziell und damit auch leicht weltfremd sein will. Das Programm dieser Musik beschreibt der Titel einer ihrer schönsten Songs: „What Are You Fighting For?“
Staples weiß darauf keine eindeutige Antwort. Vielleicht liegt aber ein Funke von existenzialistischer Wahrhaftigkeit in der Art, wie er sich verabschiedet. Melancholiker pflegen und kultivieren das Lebewohlsagen wie es etwa auch Leonard Cohen in vielen seiner Songs tat. Staples, der Sänger, der auf der Bühne stets wie entschwunden, manchmal gar benebelt erscheint (profane Geister würden sagen: konzentriert), wispert nach vielen seiner Darbietungen ein kurzes, leises „Thank You“.
Er meint es vielleicht etwas anders als andere Musiker, denn er flüstert es nicht nur jenen zu, die ihm im Saal zuhören, er richtet sich damit auch an die Geister, die der Musik der Tindersticks ihre Seele verleihen, er bedankt sich für die stets kussbereite Muse, gibt sich als ergebener Beschwörer einer Klangkunst, die im Tragischen auch Heilung findet.
Stuart A. Staples sagt „Thank You“ wie einer, der vor seinem Schöpfer auf die Knie geht und Vergebung für seine Sünden erbittet – und gleichzeitig sicher weiß, dass er sie durch das, was er tut, was er anderen schenkt, auch erhalten wird.
Die Songs der Tindersticks bleiben ein Leben lang, wenn man sich ihnen geöffnet hat.
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