Mein heavy Halloween
Zeitungen warnen, Gegner werfen Flaschen - und die Jugendlichen verschieben extra den Selbstmord, um ins Konzert zu können. Es muss was dran sein am Neo-Emo, der schönsten Teenage-Punk-Welle, seit Männer Kajal tragen
Der Tag, an dem die neue Robbie-Williams-Platte herauskam, war ein besonderer Tag. „Sooo, ich fahr jetzt los“, schrieb die Berlinerin „ShadyLady“ um 10 Uhr 41 in ihr liebstes Online-Forum, „ich bin so aufgeregt, auweia… bestimmt fall ich im Laden einfach um.“ Da hatte „Miss_Take“ aus Oldenburg ihre CD bereits, denn sie war extra um halb sieben aufgestanden, und sie hatte den Discman dabei. „Nach der Busfahrt nach Hause, als ich ausgestiegen bin, fing es an zu regnen, und zwar genau, als das Ende von ,Sleep‘ anfing. Das war toll.“ „Zest“ vergaß vor Erregung fast ihre EC-Geheimzahl und schrieb schon um 4 Minuten nach 12: „Gawd, ich liebe diese CD jetzt schon so derbst, wo soll das noch enden?“
Robbie Williams haben die jungen Frauen nicht angerührt. Sie nahmen die CDs mit dem kleinen, gruseligen Totenkopf-Tambour, am selben Tag erschienen, „The Blacks Parade“ von My Chemical Romance aus New Jersey. Einer Glam-Punkrock-Gruppe, die vor gut vier Jahren ihr räudiges Independent-Debüt gab und jetzt auf dem schnellsten Weg ist, eine dieser typischen „größten Bands der Welt“ zu werden.
In den USA verkaufte „The Black Parade“ in der ersten Woche eine runde Viertelmillion und stieg auf Platz zwei in die Billboard-Charts, in Deutschland reichte es immerhin für Platz elf. Aber Mathematik könnte nie beweisen, dass hier mal wieder unheimlich was im Gange ist: Die blutfrische Teenager-Aufregung, die bei Konzerten, auf Fanseiten wie Demolitionlovers.de, in der „Bravo“-Presse und sogar in Plattenläden kreischt und wuselt – diese Euphorie gilt jetzt einer Art von Musik, die noch vor drei Jahren nur in informierten, als indie-alternativ kodierten Kreisen gehört und bewahrt wurde. „Emo“ sagen viele dazu, obwohl man den problematischen Begriff lieber nicht anrührt (siehe Seite 11). Ist es am Ende einfach – Punkrock für Mädchen? Schwierig. Weil auch Jungs es hören. Und weil man sich vor Gericht nicht mal darauf einigen könnte, dass es überhaupt Punkrock ist. Am ehesten noch bei der kanadischen Band Billy Talent, die mit der gut gebrüllten Hardcore-für-Kids-Platte „II“ im Sommer auf Platz eins der deutschen Charts kam. Fall Out Boy aus Chicago und Panic! At The Disco aus Las Vegas ziehen bei uns vor allem Konzertbesucher an, in bodenlosen Mengen – so viel Gewimmel um Bands, bei denen viele zu Recht fragen, ob man die denn kennen müsse. In den USA verkauften Fall Out Boy (mit Songs wie „I Slept With Someone In Fall Out Boy And All I Got Was This Stupid Song Written About Me“) zwei Millionen Platten, während Panic (auch gut: „The Only Difference Between Martyrdom And Suicide Is Press Coverage“) im September bei den „MTV Music Video Awards“ sensationell gegen Madonna und die Chili Peppers den Bestes-Video-Preis gewannen, für „I Write Sins Not Tragedies“, in dem der Panic-Sänger als Zirkusdirektor mit Hut eine gespenstische Hochzeit verhindert.
Die „Black Parade“-Kostüme von My Chemical Romance morphen die gerippten Uniformen amerikanischer Marching Bands in den Halloween-Knochenmann – eine urbane Gotik, ohne Wasserleichen, Bauernopfer und böse Mönche, dafür mit Songs über die Krebsstation und den sterbenden Soldaten, trotzdem mit einer gewissen Herzenswärme, und mit hübschen Buben halt. Das Ringen um Bedeutsamkeit merkt man allen Neo-Emo-Bands an, am Kajal-Strich, an jedem Plattencover, das statt des Hardcore-Kopierer-Look lieber den Prunk des frühen Buchdrucks zitiert. Aus dem Merchandise von „My Chem“ (so sagt man) kann man sich auch einen schönen Kapuzenpulli bestellen, mit einem eher kurzen Songtitel über der Brust: „Dead!“ „Wir bekommen sehr emotionale Briefe von den Fans“, sagt Warner-Produktmanager Fabian Drebes, der My Chem in Deutschland betreut. „Viele empfinden sich als Außenseiter, und so sehen sie auch die Band.“ Für die Kinder im Schatten gab es früher Depeche Mode und Placebo – aber die gehören heute anderen, und spätestens seit der zweiten Markteinführung des Trios Green Day als gruselclownige, stylishe Weltweit-Punks ist alles anders, neu, hart, barock angehaucht. Die ganz Kleinen mögen Tokio Hotel und LaFee, auch abgedunkelte Figuren. „Das ist wie in der Techno-Zeit“, sagt Drebes. „Da gab es ja auch Scooter und Blümchen, die Pop-Blüten.“
Und der Rest der Welt tut ihnen den Gefallen: Er ignoriert sie nicht, er verachtet sie. Beim diesjährigen Reading-Festival wurden Panic! At The Disco und My Chem aus dem Publikum mit Flaschen beworfen. Killers-Sänger Brendan Flowers sagte dem „NME“, er würde alle Emo-Bands am liebsten totschlagen, und die englische „Daily Mail“ warnte in einem heiß geschriebenen Artikel vor dem „Emo-Kult“, der Jugendliche in den Selbstmord treiben würde. Selbst so dümmliche Kritik zeigt, wie der neue Teen-Punk gleich von zwei Seiten beschossen wird. Von Reaktionären, die jedes düstere Fantasma für zersetzendes Gift halten. Und von denen, die hier nur kommerzielles Kasperltheater sehen und keinerlei Camp. Dass eine so späte Schoko-Stufe des Punkrock tatsächlich noch kontrovers sein darf- darüber freut sich das Skelett im Jugendzimmer ganz, ganz dolle.
Spießig gefragt: Ist das auch für Erwachsene? Nun ja, aus der Vorliebe für College-Punk-Pop wachsen die Leute erfahrungsgemäß schnell raus, und dann bleibt nur My Chemical Romance. Die „Black Parade“-Platte klingt so, wie man sich heute ein großes, auf unschuldige Art pompöses, schon bei Geburt klassisches Rock’n’Roll-Album vorstellen würde, mit Hämmern, Balladen, Zwischenspielen. In einer Zeit, in der auf jeder neuen Gitarrenband schon der direkte historische Vorläufer draufpappt, ist das selten und angenehm.
„Viele meiner Lieblingsmusiker sind Geschichtenerzähler“, sagt Gerard Way, Sänger von My Chem, im Backstage-Kämmerchen kurz vor dem Auftritt im Kölner E-Werk. „Nick Cave, Tom Waits, Leonard Cohen. Im Punk gab es so etwas nicht.“ Way ist 29, hat sich die schwarzen Haare kürzlich in Neonweiß umgefärbt, spricht mit starkem Eastcoast-Drawl. Sein Bruder Mikey spielt Gitarre in der Band, als Söhne eines Mechanikers und einer Friseurin sind sie in New Jersey problemlos aufgewachsen, als Teenage-Punkrocker. Der herbeigefieberte Umzug nach New York brachte beiden einen Slacker-Job im Comic-Laden, Gerard entwarf Superhelden-Spielzeug. Angeblich war es die 9/11-Attacke, die die Brüder aus der Lethargie riss und die Band gründen ließ. Eine alte Geschichte, jetzt schon.
Doch niemand aus der Emo-Zunft wollte die theatralischen, geschminkten My Chem damals mit auf Tour nehmen – nur bei Christen-Punks kamen sie an. „Bei Hardcore geht es ja um Community, um Gemeinschaft“, sagt Gerard Way. „Die Christen haben ihre Bands gegründet, weil sie sich in der Hardcore-Szene wie Ausgestoßene fühlten. Wie wir. Die Verstoßenen nahmen die Verstoßenen mit auf Tour. Die wussten nicht, ob wir schwul oder Satanisten waren, aber sie haben uns akzeptiert.“
Dass My Chem sich als Künstler sehr ernst nehmen, wirkt im herbeizitierten Punk-Kontext tatsächlich oft komisch. Sänger Wav kann erklären, wie das Ausrufezeichen auf dem „Dead!“-Pulli das Todesklischee bricht, wie ihn das expressionistische Kino beeinflusst hat. Wenn er dann ankündigt, dass die Band sich bald noch expliziter den sozialen Themen widmen wird, würde man ihn gerne zwingen, sofort die ganze „Live8“-DVD anzusehen, um Schlimmeres zu verhindern. Andererseits ist es genau dieses Prätentiöse, Überambitionierte, das My Chemical Romance wie ein schweres Gegengewicht aus dem Sumpf der begrenzten Mittel hebelt, das den notwendigen Keil zwischen den Neo-Emo und den Sauf-und-Fick-Punk der Jahrtausendwende treibt.
Die fliegenden Flaschen von Reading kamen schließlich von Slayer-Fans. „Das Lustige ist, dass es im UK erst danach richtig losging“, sagt Way. „Die Leute, die uns zum Schweigen bringen wollten, haben das Gegenteil erreicht.“ Die Briefe mit den Testimonials junger Fans, die den Selbstmord aufschoben, weil My Chem in ihr Leben traten, werden alle, alle gelesen.
Vor der Halle in Köln sieht man den Unterschied so schön, weil gegenüber, im Palladium am selben, kalten Abend Mando Diao spielen. Jenseits der Straße stehen Parkas und H&M-Modelle an, auf der 2500 Leute starken Außenseiter-Seite huschen lustige Mädchen umher, die bergeweise Totenköpfe auf den Jacken tragen. Alles, was bei Wikipedia zum Stichwort „Emo“ steht, ist da: spitzwinklige schwarze Seitenscheitel, Röhrenhosen, karierte Röcke und Schuhe, Nietengürtel, Haarschleifen. Was die 14-Jährigen sonst so hören? Panic, Fall Out Boy, Billy Talent. „Emocore halt!“ Eine 15-Jährige sagt, die „Styler“ in der Schule würden sie als „Zecke“ beschimpfen. Das haben früher nur Autonome aus Skinhead-Mäulern gehört.
Und tatsächlich steht da auch ein Junge aus Düsseldorf, mehrfach gepierct, unvorstellbar gescheitelt, Fan der allerersten Stunde, dem das alles stinkt. „Letztens war ich bei Partie“, meint er, „und das war vom Publikum her einfach nur grausam. Wie ein Boygroup-Konzert, mit dem Gekreische und Geschubse…“ Da haben My Chem in Knochen-Parade-Jacketts den Abend schon losgetreten, und man muss sich schon wahnsinnig fest einbilden, sehr erwachsen zu sein, um dieser majestätischen Todesmusik von der Schippe zu springen.
Der beste Song von My Chemical Romance heißt „Teenagers“. Inspiriert von verschiedenen High-School-Schießereien, mit dem Refrain „They said all teenagers scare the living shit out of me“. „So soll das auch sein“, hat Gerard Way vorher gesagt. „Wenn die Leute sich vor Angst in die Hose machen, zeigt das, wieviel Macht man eigentlich hat. Die Teenager, die heute von den Eltern verprügelt und mit Medikamenten ruhiggestellt werden, sitzen morgen in der Regierung und an unseren Krankenbetten. Das Blatt wird sich wenden.“
An der Bar zieht sich ein dünnes Emo-Mädchen die Krawatte zu, säuberlich, bestimmt. Es sieht ein bisschen so aus, als würde sie sich erwürgen.