Matthew Herbert spielte und servierte „One Pig“ im Berliner Berghain
Am Donnerstagabend spielte der englische Produzent und große Geräusch-Impresario Matthew Herbert sein Konzeptalbum "One Pig" über das Leben und Sterben eines Mastschweins. Christoph Dorner war für uns vor Ort, lauschte - und kostete.
Am Ende kommt es entgegen so mancher Ankündigung doch noch zur öffentlichen Verköstigung. Zwei der Musiker und ein Mitarbeiter des Berghain bringen einen gedeckten Tisch herbei und stellen ihn genau da ab, wo sonst der Lautstärke nach das Epizentrum des Techno-Bebens zu verorten ist. Das Buffett ist schnell angerichtet, zubereitet wurden die Speisen ohnehin live auf der Bühne: Schweinefilets in medium, dazu angedünstete Kartoffeln, Blumenkohl, Salat. Gekocht hat Thomas Kaiser, sonst Chef de Cuisine im Berghain-Restaurant „Kreuz Friedrichs“. Der englische Produzent und große Geräusch-Impresario Matthew Herbert hatte mit seiner „Death-Show“ zuvor die Sau durchs Berghain getrieben: Aufgeführt wurde „One Pig“, sein dokumentarisch angelegtes und durchaus gesellschaftskritisch zu hörendes Konzeptalbum über den nur 20-wöchigen Lebensweg und die unausweichliche Bestimmung eines Mastschweines: „From birth to plate“.
Nach den Gesetzen der Natur könnte das Schwein bis zu zehn Jahre leben. Nur im Pop und der Fiktion ist ihm eine noch längere Lebensdauer sicher: siehe Pink Floyd’s Luftschwein, ein Schweinchen namens Babe, Miss Piggy. Herberts Schwein dagegen hat erst gar keinen Namen bekommen, es ist für ihn nur eine Metapher für ein ziemlich scheinheiliges, globales Ernährungssystem, in dem einerseits nur das möglichst billige Endprodukt zählt, gleichzeitig die grausame Methodik einer industriellen Massentierhaltung aber abgelehnt oder zumindest ins Unsichtbare verschoben wird. Nur so viel: Deutschland ist hinter China und den USA der weltweit drittgrößte Schweinefleischerzeuger.
Dennoch wird es ein Abend werden, an dem sich Matthew Herbert auf der Bühne ausnahmsweise nicht rechtfertigen muss. Politisierte Vegetarier und Aktivisten der PETA sind offensichtlich nicht im Publikum oder stehen allenfalls mit geballter Faust in der Tasche in den hinteren Reihen. Schon bei der Ankündigung des letzten Teils seiner dogmatischen One-Trilogie im Frühjahr 2010 war Herbert von der internationalen Tierrechtsorganisation heftig kritisiert worden: „No one with any true talent or creativity hurts animals to attract attention“, lautete damals der Vorwurf der PETA. Er sollte Herbert, der ohnehin schwer damit gehadert hatte, die eigentliche Tötung des Tieres in England nicht dokumentieren zu dürfen, tief in seinem Künstlerethos treffen. Neue Nahrung hatte die Auseinandersetzung erst neulich bekommen, als sich Herbert für die November-Ausgabe der Musikzeitschrift Visions einem Streitgespräch mit dem deutschen PETA-Chefredakteur Jobst Eggert gestellt hatte. Darin wurden erneut schwere emotionale Wortgeschütze aufgefahren: Mord, Folter, Respektlosigkeit, mangelndes Mitgefühl – logischerweise ging man wenig versöhnlich auseinander, obwohl jenseits der Mittel von Kunst und öffentlicher Aufklärung doch zumindest bei den Zielen prinzipiell Einigkeit herrscht. Denn auch Matthew Herbert geht es mit „One Pig“ um den Anstoß zu einem reflektierteren und damit maßvolleren Fleischkonsum.
Die Live-Performance im gut besuchten Berghain wird von Drummer Tom Skinner eröffnet, der mit Strohbüscheln raschelt und mit einer animalischen Tiefe ins Mikrofon atmet, ehe Herbert und drei weitere Musiker die Bühne betreten, weiße Schlachterkittel überstreifen und sich an ihre elektronisches Instrumentarium begeben. Skinners Trommel, die er neben einem elektronischen Drum-Pad spielt, soll mit Schweinefell bezogen sein. Sofort fällt die sogenannte „Pig Sty Harp“ in der Bühnenmitte ins Auge, die der schottische Sounddesigner Yann Seznec konstruiert hat und an diesem Abend auch hauptsächlich bedient. Die Versuchsanordung ist dabei wohl ganz bewusst eine doppelte, sieht die Schweineharfe doch aus wie ein Tiergatter. An drei der vier Mikrofonständer hat Seznec jeweils vier Schnursensoren befestigt, die sonst in einem Gametrak-System stecken, das eine dreidimensionale Umsetzung von Bewegungen für Konsolenspiele garantiert. Die Seiten sind mit einem Laptop synchronisiert und ermöglichen wohl so, Herberts quieckend-grunzende Field Recordings aus dem Schweinestall je nach Zugkraft zu modulieren. Seznec ist es auch, der sichtbar am meisten Spaß an der Live-Umsetzung von „One Pig“ hat. Er zupft virtuos, zieht und reißt an den Seiten und springt beim Einsatz einer kickenden Bassdrum wild in seinem Gehege umher. Auf den weißen Kitteln, die er nach jedem Track neu überstreift, steht ein Kürzel für den jeweiligen Monat im Leben des Schweins. Aus seinen Geräuschen bei der Geburt, der Fütterung oder der Kommunikation hat Herbert mit dem Erfahrungsschatz der elektronischen Klang- und Beaterzeugung Tracks kreiert, die in der recht werktreuen Live-Umsetzung archaisch zwischen Ambient, Dub, Drone und eisig hämmerndem Industrial mäandern. Im Monat Januar endet das Leben des Schweins mit seiner Schlachtung, Seznec streift deshalb einen blutroten Mantel über. Das Licht wird etwas gedimmt, die Bühne rot eingefärbt.
Das wahre Grauen, es findet hier nur symbolisch statt. Ohnehin dürfte trotz der Altersauflage von 18 Jahren, die das Berghain für den Konzertbesuch vorausgesetzt hatte, niemand ernsthaft mit einem Tier-Splatter, einem „Animal Farm“ meets „Reign In Blood“ gerechnet haben. Nun betritt auch der Koch Thomas Kaiser die Bühne und beginnt im Bühnenhintergrund zu kochen. Er erhitzt zwei Pfannen und brät zunächst das Fleisch an, ein Mikrofon ist auf das Gebrutzel gerichtet. Alsbald liegt der fettige Geruch einer warmen Mahlzeit in der Luft. Ob es so etwas im Berghain schon mal gegeben hat?
Es folgt die nachvertonte Zerlegung des Schweins, Seznec sägt hierbei mit einer Eisensäge an einem Knochen herum. Der scharfe Beat stammt von wetzenden Messern. Die Blutorgel, die Herbert in der Videodokumentation zu „One Pig“ (siehe unten) zeigt, kommt dagegen nicht zum Einsatz. Im „Track August 2010“ wird das Schwein schließlich verspeist. Einer der Musiker spielt auf dem Synthesizer dazu einen irre quieckenden Schweine-Blues. Es ist so etwas wie der Abgesang auf die eigene Spezies, ehe man das aufgenommene Schmatzen von Menschen hören kann. Die Moral kommt hier mit dem Fressen, Herberts Abschied von dem Schwein gerät dann aber doch ganz persönlich. Begleitet von einer simplen Keyboard-Melodie singt er: „A simple life is all we need/ enough to multiply, magnify, dignify each day/ and so to rest upon my head/ let you occupy my thoughts instead“. Wer auf dem Album noch einmal genau hinhört, glaubt sogar anstatt „occupy“ die Wortneuschöpfung „pork-upy“ zu hören.
Das Schicksal eines Schweins, es lässt Herbert demnach nicht so einfach wieder los. So ist es auch nicht Herbert, der schlussendlich das Buffet herbeiträgt, über das sich ein Dutzend Besucher mit oder ohne Besteck hermacht und zuerst die Schweinefilets im Verteilungskampf in möglichst großen Happen herunterschlingt. Wer nach diesem Abend noch immer nach der Moral beim großen Fressen gesucht hat: Hier bekommt er sie serviert.