Maschine in Moll: Wie KI die Musikproduktion verändert
Mittels künstlicher Intelligenz wurde die unvollendete Sinfonie von Franz Schubert vollendet – und von einem Orchester in London uraufgeführt
Glaubt man Ray Kurzweil, steht das Ende der Welt, wie wir sie kennen, kurz bevor. Spätestens 2045, so der Pionier der künstlichen Intelligenz, wird der Fortschritt selbst lernender Maschinen so sehr an Fahrt aufnehmen, dass es zu einem Bruch in der Menschheitsgeschichte kommt, dessen Tragweite wir uns noch nicht vorstellen können. Schon jetzt konfrontiert uns die KI mit philosophischen Grundfragen: Was wird noch herausragend sein am Menschen, wenn eine Intelligenz aus neuronal vernetzten Algorithmen unseren Verstand bei Weitem übersteigt? Viele ziehen sich auf die Gewissheit zurück, dass eine KI nie etwas „Beseeltes“ wie Musik erschaffen könne, da ihr schlicht das Bewusstsein dafür fehle. Andererseits dachte vor 50 Jahren auch kaum einer, dass eine Maschine einmal besser Schach spielen oder bei medizinischen Diagnosen treffsicherer sein könnte als der Mensch.Und was ist Musik schlussendlich anderes als eine Folge mathematischer Muster?
Im Februar erklärte der chinesische Telekommunikationskonzern Huawei, dass er mithilfe des sogenannten Machine Learning Schuberts „Unvollendete“ fertiggestellt habe, jene legendenumrankte h‑Moll-Sinfonie, mit der der Komponist, wäre er nicht mit 31 Jahren gestorben, vielleicht aus dem Schatten seines Zeitgenossen Beethoven hätte treten können. Beim Machine Learning wurden Datenpakete aus Noten, Klangfarben und Rhythmen von Schubert in ein künstliches Gehirn eingespeist. Damit habe das Programm so lange trainiert, bis es die „DNA“ des Komponisten entschlüsseln und selbst Musik in seinem Stil hervorbringen konnte.
Wenn eine künstliche Intelligenz die Sache zu Ende denkt, klingt das dann wie „Franz Schubert“ vom Kraftwerk-Album „Trans Europa Express“, dirigiert von einer Mensch-Maschine mit hydraulisch schwingendem Taktstock? Bei der Erstaufführung in London wurde schnell klar: Die zwei hinzugefügten, vom English Session Orchestra gespielten Sätze fallen nicht aus der Reihe, ähneln mit bombastischen Spannungsbögen aber eher zeitgenössischer Filmmusik als Schubert 1828. Schuld war ausgerechnet das menschliche Element: Der Soundtrack-Komponist Lucas Cantor war beauftragt worden, die „guten Ansätze der KI“ so zu überarbeiten, dass ein Orchester aus Fleisch und Blut sie als Partitur spielen kann. „Dieses Vorgehen ist bei der musikalischen Arbeit mit KI heute die Regel“, erklärt Dr. Stephan Baumann, KI-Musik-Experte am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern. „Die Vorschläge der KI werden sortiert, restrukturiert, stilistisch angepasst und von Musikern eingespielt. Der Hörer kann kaum nachvollziehen, was von der Maschine generiert wurde.“
Gibt es bald KI-Alben von Prince, Bowie und Elvis?
Beispiele gibt es längst auch im Pop. Bereits 2016 hat der mittlerweile bei Spotify angestellte KI-Experte François Pachet einen Song mit dem Titel „Daddy’s Car“ veröffentlicht, dessen Fundament von einer KI aus den Harmonien der Beatles gestrickt wurde. Dass der Markt bald mit stilecht von künstlicher Intelligenz improvisierten „neuen“ Alben von Bowie, Prince und Elvis geflutet wird, ist also durchaus vorstellbar.
Das wirft eine Menge Fragen auf, etwa bei wem am Ende die Rechte liegen: dem Urheber des „Stils“, dem Programmierer oder gar der KI selbst. „Es wäre sogar denkbar, dass eine Band ihren Sound für eine KI-Software lizensiert, mit der der Nutzer dann Stücke komponieren kann. Eine Demokratisierung der kreativen Arbeitsmittel auf höchstem Niveau sozusagen“, sagt Baumann, der selbst Musiker ist.
Gute Kandidaten dafür wären wahrscheinlich die Hipster von Bilderbuch. Die Band aus Österreich kündigte unlängst in einigen Interviews zu ihren beiden neuen Alben an, womöglich bald eine Single herausbringen zu wollen, die von einer KI aus älterem Material errechnet wurde. Falls das Ergebnis dann „supergeil“ werde, wäre das wahrscheinlich „erst mal extrem schwierig für uns“, befürchtet Sänger Maurice Ernst – der Computer könnte ohne die Band weitermachen. Die „Marke Bilderbuch“ wäre damit vollendet. „Das ist ein schräger Gedanke, aber man muss ihn ernst nehmen.
Ein neues Tool
Statt hinzuschmeißen könne man die KI aber auch einfach als Werkzeug begreifen, sagt Filmkomponist Lucas Cantor. Für ihn sei das Brainstorming und Bälle zuspielen nicht unähnlich abgelaufen wie mit einem menschlichen Kollegen – „Mit dem Unterschied, dass die KI nie müde wurde oder mies gelaunt Ideen abschmettert hat“. Die Stärke der Technik bestehe momentan vor allem darin, Massendaten schnell und effizient auszuwerten, sagt Baumann. Wie bei Autotune oder dem Sampling im HipHop könne sie in den Händen kreativer Menschen ganz neue Möglichkeiten eröffnen. „Man kann mit der KI stilistische Querverbindungen herstellen, auf die man selbst nie gekommen wäre. Man kann mit ihr spielen um aus einem kreativen Loch herauszufinden oder sie auch nur zur eigenen Profilierung nutzen, um zu zeigen, was für ein moderner Künstler man ist.“
Dass eine KI einem eigenen Willen folgend selbstständig kreativ tätig wird, kann Baumann sich nicht vorstellen. Dafür hat sie aber das Potential etwas zu kreieren, nach dem übersättigte Hörer und auch Musikjournalisten gieren: den heißesten Scheiß der Stunde.