Marianne Faithfull

Sie genoss eine aristokratische Erziehung, erwarb Bildung, besaß Schönheit, Charme und Talent, hatte Erfolg als Sängerin und Schauspielerin, wurde berühmt als Mick Jaggers Muse und bewundert als Ikone der Swinging Sixties. Marianne Faithfull schien ein Schoßkind des Glücks zu sein, doch dann begannen ihre Fundamente zu bröckeln, die Künstlerin verlor den Halt und fast ihr Leben. Inzwischen wird sie wieder gefeiert.

Es war ein traumhafter Tag für Marianne Faithfull, jener Sonntag im Mai 1967, der jäh umschlug in einen Albtraum von grausam langer Dauer. „Ich liebe London noch immer, könnte dort aber nicht mehr leben“, sagt sie 40 Jahre später, „ich liebe England, aber es ist nicht mehr mein England. Was sie damals mit mir anstellten, war schändlich. Ich wurde an den Pranger gestellt, ohne je angeklagt worden zu sein. Man raubte mir meinen unbescholtenen Ruf, meine Würde, meinen inneren Frieden.“

Bis in die frühen Morgenstunden des Vortags waren sie noch Gäste der Beatles gewesen, Marianne und Mick Jagger, völlig vernarrt ineinander, und Keith Richard, offiziell noch ohne das ihm geburtsrechtlich zustehende „s“. Anlass war eine Aufnahme-Session mit 40-Mann-Orchester zur Untermalung eines Fernsehfilms. Mick und Keith sollten daran teilnehmen, doch mündete das Musizieren in ein Chaos mit angeschlossener Party. Die zünftig ausuferte. Ein als „Acid King David“ berüchtigter Kanadier reichte bunte Pillen, Marianne Faithfull begab sich nicht ohne schlechtes Gewissen auf ihren ersten LSD-Trip, kurzum: Man kostete nach Kräften den Umstand aus, „jung, frei und reich“ zu sein, wie es der mitgefangene, mitgehangene Galerist Robert Fraser dann vor Gericht ausdrückte.

Am Sonntag abend hatte sich das Geschehen nach Sussex verlagert, genauer: nach West Wittering, in ein altes, von einem Wassergraben umgebenes Tudor-Landhaus namens „Redlands“, das Keith gehörte und nun Schauplatz des größten Drogenskandals der jüngeren Menschheitsgeschichte wurde, wie später die „Times“ spöttelte. Während Marianne im oberen Stockwerk ein Bad nahm und die übrige Gesellschaft unten entspannt parlierte und „Blonde On Blonde“ hörte, brachte draußen Chief Inspector Gordon Dineley sein Einsatzkommando in Stellung. Noch wollte er nicht eingreifen, denn seine Späher hatten ihm gemeldet, dass sich auch George Harrison und seine Frau Pattie im Haus aufhielten. „Wir warten, bis George weg ist“, befahl Dineley über Funk, „we’re not here to bust a Beatle.“ Erst als die Harrisons gegangen waren, drang die Ordnungsmacht, 18 Männer und Frauen stark, in das Anwesen ein. Was sich ihren Augen bot, war unspektakulär. Ein paar langhaarige, müde Typen, die, aus ihrem Gespräch aufgeschreckt, ungläubig dreinschauten ob der ihrerseits finster dreinblickenden Uniformierten. Ferner ein Mädchen auf dem Sofa, in einen Teppich gehüllt, leere Flaschen, volle Aschenbecher, zwei kursierende Joints und jede Menge Musikinstrumente. Bestimmt nicht die erhoffte Orgie oder Opiumhöhle. Vom Plattenspieler her freilich dröhnte ein verfänglicher Imperativ. „Everybody must get stoned.“

Marianne hielt die Invasion der Uniformen zunächst für die surreale Spätwirkung ihres Trips, doch als Dineley mit Stentorstimme den Haussuchungsbefehl verlas und die Polizisten mit Leibesvisitationen begannen, dämmerte ihr langsam, dass dies definitiv keine Halluzination war. Detective Constable Rosemary Slade fand nicht Verdächtiges bei der Verdächtigten, außer dass sie nackt war unter dem Bettvorleger aus Fell. Ein Faktum, das später vor Gericht genüsslich ausgeschmückt wurde. Marianne habe sich vor den anwesenden Männern schamlos entblößt und sich „in a merry mood and one of vague unconcern“ befunden, so die Einlassung einer anderen Gesetzeshüterin über „Miss X“. Ein Deckname, da Faithfull nicht unter Anklage stand, ein so durchsichtiger aber, dass die sensationslüsterne Öffentlichkeit über die wahre Identität der Sünderin keinen Augenblick im Dunkeln blieb. Am Ende wirkte sich die gutgemeinte Anonymisierung der prozessual Unbeteiligten in Mariannes Fall sogar zu ihrem Schaden aus, weil die Organe der Fleet Street nun „Miss X“ ungeahndet als Flittchen, drogensüchtige Nymphomanin und Schlimmeres titulieren durften. Marianne musste ohnmächtig zusehen, wie sich die von der Staatsmacht gestreuten Gerüchte von einer Sex-Orgie in „Redlands“ medial verbreiteten. Infamer Gipfel der Verleumdungskampagne war die Aussage einer nicht näher benannten „Zeugin“, Mick Jagger habe sich an einem Mars-Riegel gütlich getan, der ihm von „Miss X“ mit den Schamlippen dargereicht wurde. „This whole thing was so fucking ridiculous“, so Faithfull heute eher traurig als erbost, „aber es wird mich verfolgen, so lange ich lebe.“

Sie ist mehr überzeugt denn je, dass die ganze Affäre von langer Hand geplant war, mit dem Ziel, den Stones und ihrer Gefolgschaft Grenzen zu setzen, sie einzuschüchtern. „Das Establishment überschätzte generell den Einnuss von Popmusik auf die politische Meinungsbildung, man schoss mit Kanonen, dabei waren die Stones nur unbotmäßige Jungs, die gern über die Stränge schlugen. Die Ironie bei der Sache ist, dass Mick und Keith zwar kurz weggesperrt waren, an Aura und Standing aber nichts einbüßten. Im Gegenteil, dieser Kleinkrieg mit der Staatsgewalt machte sie nur berüchtigter und wichtiger. Für eine Frau ist das bedauerlicherweise anders. Mich machte das Getuschel fertig, die verächtlichen Blicke, das ganze Spießrutenlaufen. Ich war ja gerade erst 20, immer wohlbehütet gewesen und abgeschirmt von allem, was man Laster nennen könnte. Mick und Keith verhielten sich vorbildlich, versuchten mich zu beschützen, vor Gericht und danach in der Öffentlichkeit, aber ich war zerbrechlich, knickte wie ein kleiner Zweig. So unreif war ich, dass meine Rache darin bestand, die haltlose Person zu werden, für die mich die Leute nun ohnehin hielten. Ein paar Jahre später lebte ich auf der Straße und hing an der Nadel.“

Marian Evelyn Faithfull wird am 29. Dezember 1946 in Hampstead, einem Vorort Londons, geboren, als Kind einer Mesalliance zweier Welten, die in den Nachwehen des Krieges zueinander gefunden, einander im profanen Alltag aber schon bald nicht mehr viel zu sagen hatten. Glynn Faithfull war Universtäts-Dozent und weilte im Auftrag des britischen Geheimdienstes in Wien, wo er die Baroness Eva Erisso kennenlernte, Spross des verarmten Adelsgeschlechts derer von Sacher-Masoch. Eva schlug sich als Tänzerin durch, sehnte sich nach geordneten Verhältnissen und gab bald dem Werben des nicht mit Charme und Geschenken geizenden Spions nach.

In England hält die Liebe nicht lange, ohne Zwist trennen sich die Wege der Eltern, als Marianne sechs Jahre alt ist. Sie wächst bei der Mutter auf, wird aber nicht verhätschelt, sondern in einem Geiste erzogen, dessen vornehmste Ziele Haltung und Bildung sind. Marianne liest viel, schon weil Radio, Fernsehen und Plattenspieler im Faithfull-Haushalt verpönt sind. Auch ihr Auftreten orientiert das Mädchen an dem der Mutter. Mit sieben spricht Marianne so gepflegt ins Reine, bewegt sich so anmutig und trägt das Naschen so hoch, dass sie es schwer hat, gleichaltrige Freundinnen zu finden. „She was always a little madam“, erinnert sich eine Nachbarin, „everything seemed to be boring to her.“

Was von ihrer Umgebung am Wohnort als Hochmut missdeutet wird, lässt ihr auch im Internat nicht die Herzen zufliegen. Eva, selbst streng katholisch erzogen, schickt die Tochter auf die St. Joseph’s Convent School, – wo Bescheidenheit und Anpassung verlangt werden. Musisch begabt und den schulischen Anforderungen mühelos gewachsen, verbringt Marianne viel Zeit mit Träumereien von einem wundervoll aufregenden Leben in der weiten Welt, als Schriftstellerin, Schauspielerin oder Sängerin. Die Klarheit ihres Mezzo-Soprans war ihrem Musiklehrer nicht entgangen. Er übt mit ihr, ermuntert sie, an ihr Talent zu glauben. Doch Mariannes Faszination für das Theater ist größer. Mit 14 übernimmt sie kleine Rollen im Progress Theatre, einer Nachwuchsbühne, die auch Größen wie Vanessa Redgrave oder Kenneth Branagh als Sprungbrett genutzt hatten. Marianne wird gefördert und gefordert, sie spielt in Thornton Wilders „Our Town“, tanzt und singt in Revuen. Und wächst nebenbei zu einer Schönheit heran, um die sich ganze Rudel stieläugiger Jünglinge scharen, wenn sie an Wochenenden die Klosterschule verlässt und ihre Mutter besucht. „A stunning picture of loveliness, elegance and selfassurance“ habe sie abgegeben.

Marianne weiß ihre Attribute einzusetzen, genießt ihre Wirkung auf das andere Geschlecht, bleibt in sexueller Hinsicht indes unerfahren. So ist ihre erste Beziehung auch gleich eine ernste. Er heißt John Dunbar, ist ein wortgewandter Cambridge-Student, trägt eine Hornbrille und besitzt Jazz-Schallplatten. Im Sommer 1962 lernt sie ihn bei einem Ball kennen, bald darauf ist sie schwanger. Heirat und Geburt von Söhnchen Nicholas fallen in die Zeit des Aufbruchs einer Ära, die man in Britannien „Beat-Boom“, in Amerika „British Invasion“ nennen wird. Die musikalischen Entwicklungen überschlagen sich, Marianne möchte Teil davon sein. Für Beat und Rhythm & Blues interessiert sie sich nur am Rande, der elektrisch verstärkte Radau ist ihr zu juvenil und hormongesteuert. Ihre Herzensmusik ist Folk, sie verehrt Joan Baez und tritt mit deren und Bob Dylans Songs in Pubs auf, findet Anklang. Und zufällig Anschluss an eine Szene, die sie eigentlich eher abstößt. Dunbars Freund Peter Asher, eine Hälfte des Erfolgsduos Peter & Gordon, lädt Marianne zu einer Party ein, bei der die Rolling Stones mächtig auf den Putz hauen. Marianne Faithfull gefällt nicht, was sie sieht und hört. Vulgär, ungehobelt und arrogant findet sie das Benehmen diverser Bandmitglieder, deren äußere Erscheinung zudem provozierend nachlässig. Vor allem Mick Jaggers unverblümt anzügliche Art lässt sie auf Distanz gehen. Nur wenige Sätze wechseln die beiden bei ihrer ersten Begegnung, nicht ahnend, das sie in absehbarer Zeit das berühmteste und skandalträchtigste Liebespaar der Pop-Society sein würden.

Mehr Weitsicht beweist Stones-Manager Andrew Loog Oldham, völlig hingerissen von Mariannes „fantastic virginal look“, das perplexe Mädchen mit Schnellfeuerkomplimenten in Hipster-Slang eindeckend. „I can sell that look“, verrät er ihr, „you don’t need to audition, I can see the charisma in your eyes, darling.“ So jedenfalls erinnert sich Faithfull Jahrzehnte später an die Anmache. Auf die sie natürlich hereinfällt. Zwei Tage danach bereits singt sie bei ihm vor. „Irgendwelche Folk-Nummern“, schreibt Oldham in seinem Memoiren-Band „Stoned“, doch habe ihn nicht die Frage beschäftigt, ob sie singen könne, sondern nur die, mit welchem Song sich das Image einer personifizierten Unschuld am besten verkaufen ließe. Fündig wird er in der Ablage des inzwischen recht produktiven Songwriter-Gespanns Jagger/Richard. „As Tears Go By“ heißt die wehmütige Ballade, in Oldhams Vision kongenial zu den Promo-Fotos passend, die erst in seiner Fantasie existieren, das aber detailgenau: die Klosterschülerin in züchtig hochgeschlossenem, aber modisch kurzem Kleid und weißen Kniestrümpfen. Er macht sich mit Eifer an die Arbeit.

Die süße Früchte trägt. „As Tears Go By“, das Marianne so entrückt wie entzückend vorträgt, jede Silbe betonend, schießt in die Top 10, und die Medien spielen die ihnen zugedachte Rolle. „Marianne is a sweetie, a doll, a dish“, sabbert ein Interviewer, ein anderer gesteht, er habe sich in ihrer Anwesenheit nicht auf seinen Job konzentrieren können, so „incredibly beautiful“ sei sie und überdies noch „slightly snobby“, was ihren Reiz noch steigere. Als sich die Sängerin selbst im Fernsehen sieht, erkennt sie „an angel with really big tits“, ein Hymnus, dessen Urheberschaft gern Oldham zugeschrieben wird, was dieser mal bestreitet, mal freimütig bekennt. Gleichviel, der Engel reüssiert im Plattengeschäft.

Eva Faithfull hatte den Vertrag mit Decca nur unter Vorbehalt für ihre minderjährige Tochter unterschrieben, weil sie befürchtete, Marianne könnte in falsche Gesellschaft geraten.

Anfangs läuft die Sängerkarriere fast wie am Schnürchen, Mariannes Singles sind mehrheitlich Hits, doch als Oldham sich anderen Dingen zuwendet, verliert die Studio-Crew um den Produzenten Mike Leander langsam den Anschluss an das aktuelle Musikgeschehen. Zu spät merkt Faithfull, dass es mit ihrer Laufbahn als Popstar bergab geht, kreativ wie kommerziell. Doch da hat ihr Ruhm als Jaggers Geliebte und Muse ihr altes Leben bereits überstrahlt. Das neue besteht darin, Mick zur Seite zu stehen, ihn zu inspirieren und zu kultivieren. Sie genießt die Privilegien, die ihr in den Schoß fallen. „Redlands“ bewirkt eine Zäsur, das Drogen-Dramolett ändert die Vorzeichen ihrer Gemütsbilanz in negativ.

Und sie rutscht tiefer ins Minus. Ihre Single „Something Better“, von Mick Jagger produziert, von Jack Nitzsche arrangiert und mit Abstand das Beste, das sie sich je abgerungen hat, wird von Decca kurz nach Veröffentlichung wieder aus dem Verkehr gezogen. Zu riskant sei der Text von „Sister Morphine“ auf der Rückseite, den Marianne selbst verfasst hatte, noch in trautem Tandem mit Mick. Doch auch das geht schließlich in die Brüche, nach einer Fehlgeburt, einem Suizidversuch und tagelangem Koma. Heroin soll den Schmerz dämpfen, Marianne verliert das Sorgerecht für Nicholas, dann den letzten Halt und landet in der Gosse. „I won’t let you go/ I won’t let the honey drain/ From your sweet sweet box“, solidarisiert sich eine blutjunge Patti Smith in einem Poem mit dem gefallenen Engel, „Won’t let the flower girls fan you/ Hind a big black hearse/Won’t let the pearls crumble crumble from your little girl mouth.“

„Ergreifend“, befindet die 60-jährige Marianne Faithfull. Und verblüfft mit der Ankündigung, ab sofort Vorsorge treffen zu wollen, „für das Alter“.

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