Marek Dutschke über die Frage: Was ist heute links?
Für unsere aktuelle Titelgeschichte wollten wir von zehn Gastautoren wissen: Was ist heute links? Den Anfang macht Marek Dutschke, der für sich feststellt: Die Linke ist keine Partei. Wir werden in den nächsten Tagen einige der Essays aus dem Heft vorstellen.
Ich fühle mich dem linken Lager zugehörig. Aber was bedeutet das eigentlich? Gilt als Kriterium immer noch die Einteilung der parlamentarischen Sitzordnung, wie einst während der Französischen Revolution, als alle, die links saßen, gegen die Monarchie waren? Wohl kaum. Das politisch Linke als solches ist, wie die Schriften von Karl Marx, die Bibel oder auch der Koran, ein Selbstbedienungsladen geworden. Es ist heute nicht einfach, Linkssein zu definieren. Und seit es eine Linkspartei gibt, ist es eher noch schwerer geworden.
Obwohl ich mich als Linker fühle, treibt mich die Frage um, was denn eigentlich damit einhergeht. Bedeutet es im Jahr 2012, dass ich fordern muss, alle Banken zu verstaatlichen? Ich denke eher, dass damit heute weniger die konkreten Charakteristika einer Person gemeint sind als vielmehr die Möglichkeit, jemanden mittels der Kategorie „links“ in eine bestimmte Schublade zu stecken. Doch von jemand anders als links abgestempelt zu werden – das geht schnell. Eine adäquate Definition von Linkssein zu finden, das dauert lange.
Wenn ich lese, was sich die großen Denker der linken Richtung – also die des Marxismus, der Sozialdemokratie und des Kommunismus – darunter so vorgestellt hatten, geht die Verwirrung los. Sie wollten gleichsam den Himmel auf Erden ermöglichen, institutionalisierte Verdummung der Menschen abschaffen und radikal mit der herkömmlichen, ausbeuterischen Struktur der Eigentumsverhältnisse brechen. Deshalb standen die Enteignung von Grund und Boden, die Abschaffung des Erbrechts, die Verstaatlichung der Fabriken, die Zentralisierung des Kreditwesens in den Händen des Staates und die gesellschaftliche Planungswirtschaft auf dem Programm. Es wird wahrscheinlich nicht wenige in der Linkspartei geben, die mit diesen Punkten einverstanden sind. Aber wie das alles freiheitlich umgesetzt werden könnte, bleibt mir schleierhaft.
Die Freiheit ist nun mal, wie Rosa Luxemburg angemahnt hat, die Freiheit des Andersdenkenden. Daher bleibt bei mir die Frage offen, ob die Umverteilungsvorschläge der Linkspartei – die zwar bei Weitem weniger radikal sind als die oben genannten Maßregeln – gerade in den Zeiten der Euro-Krise nicht ein viel zu großes Vertrauen in nationalstaatliche Instrumente und Maßnahmen setzen. Der Mensch, der dabei die Gestaltungsmöglichkeiten haben soll, kommt nur noch als Kleindarsteller vor.
Ich war vor langer Zeit bei einer Veranstaltung im Verlagsgebäude der „Berliner Zeitung“, als Gregor Gysi während eines Wahlkampfauftritts dem Publikum Rede und Antwort stand. Eine Frage an ihn war, ob er denn eigentlich ein Kommunist sei. Gysi nannte sich lieber einen demokratischen Sozialisten, der an die Einheit von Freiheit und sozialer Sicherheit glaube. Die autoritäre, bürokratisierte Staatssklaverei der DDR, in der Rechte einzelner Menschen eingeschränkt wurden, sei ein Fehler gewesen, so Gysi.
Das ist eine schöne Einsicht. Ich zweifle nicht daran, dass es Parteien geben muss, die dagegen kämpfen, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklafft, dafür dass es einen menschenwürdigen Mindestlohn und eine sichere Rente gibt, dass Abrüstung und Friedenspolitik eine Priorität der politisch Verantwortlichen darstellen. Doch linkes politisches Engagement fängt nicht in der Politik an, wenn über Gesetze zur Euro-Rettung gestritten wird. Nein, Linkssein fängt auf der zwischenmenschlichen Ebene an. Dort, wo wir als Gesellschaft bereit sind, Verantwortung füreinander zu übernehmen – unabhängig vom politischen, finanziellen oder religiösen Hintergrund. Für mich ist das der erste Schritt, um linkes Engagement zu definieren.
Vor einigen Jahren habe ich mich um einen Listenplatz bei Bündnis 90/Die Grünen für den Deutschen Bundestag beworben, bewegt von meinem Verständnis von linker Politik. Damals befand sich die rot-grüne Bundesregierung in einer prekären Situation der Selbstauflösung. Ich fühlte, dass die Grünen nach sieben Jahren als Regierungspartei ihre Aura des Unangepassten, der politischen Neuartigkeit und Anständigkeit zu verlieren drohten. Ich wollte Verantwortung für unsere Gesellschaft übernehmen und hoffte, dass ich durch den Aufruf zum erneuten politischen Umbruch viele Wähler finden würde. Es ist mir nicht geglückt. Das heißt aber nicht, dass es sich nicht lohnen würde, linke Ideen zu entwickeln und über Alternativen zum etablierten politischen System oder auch zum Kapitalismus nachzudenken.
Nun wird ersichtlich, wie schwierig es ist, eine Definition des Linksseins zu formulieren, die dem Begriff gerecht wird. Die aktuelle Krise des Wirtschafts- und Finanzsystems hat es nicht einfacher gemacht – auch wenn sie die Attraktivität linker Positionen erhöht hat. Selbst in den Texten meines Vaters werde ich nicht fündig. Vielleicht hat das auch seine Richtigkeit.
Für mich wird jedenfalls klar, dass weder der Blick in die Geschichte noch die Positionen unserer politischen Parteien Orientierungspunkte einer Definition sein können. Warum sollte auch die Parteizugehörigkeit Auskunft darüber geben, ob jemand links ist? Für mich ist jemand links, der sozial-liberal, humanistisch, undogmatisch und kritisch zugleich ist. Jemand, der eine starke Vorstellung davon hat, wie unsere Gesellschaft aussehen sollte und wie Gerechtigkeit hergestellt werden kann. Das ist meine Definition.
Rudi-Marek Dutschke, 31, arbeitet an der Hertie School of Governance in Berlin und ist als Autor tätig. Als Sohn von Rudi Dutschke, dem Wortführer der deutschen Studentenbewegung, wuchs er in den USA auf. 2005 bewarb er sich (vergeblich) bei den Berliner Grünen um einen Listenplatz für die Bundestagswahl.