Kettcar im XXL-Interview: „Hauptsache, du machst es nicht allein!“

Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff über Rio-Reiser-Logik, Zumutungen und Gründe für Hoffnung

Es wird in diesem Jahr vielleicht kein anderes Album geben, das so berührend und gleichzeitig kraftvoll zusammenfasst, vor welche Herausforderungen uns die Welt mit all ihren Widersprüchlichkeiten gerade stellt und wie wir sie vielleicht aushalten können. „Gute Laune ungerecht verteilt“ ist das sechste Studiowerk von Kettcar, es erscheint am 5. April auf ihrem eigenen Label Grand Hotel van Cleef.

Wir haben die beiden Songwriter, Sänger Marcus Wiebusch und Bassist Reimer Bustorff, zum Gespräch in Hamburg getroffen, den einen zu Hause, den anderen im Büro, und doch ergeben ihre Antworten zusammengenommen Sinn – und trotz allem immer: Hoffnung!

Sieben Jahre sind vergangen, seit 2017 euer letztes Album „Ich vs. wir“ erschienen ist. Warum hat’s so lange gedauert bis „Gute Laune ungerecht verteilt“ – ist die Pandemie schuld?

MARCUS WIEBUSCH: 2019 gab es ja immerhin noch die Fünf-Song-EP („Der süße Duft der Widersprüchlichkeit“). Aber klar, Corona war ein Faktor, und dann hatte ich privat eine schwere Krise. Das hat mich so aus der Bahn geworfen, dass ich nichts mehr schreiben konnte. Manche Künstler können so was kanalisieren, aber ich war jahrelang lost. In der Band war eigentlich immer ein relativ guter Vibe, aber für mich persönlich war eine Zeitlang der Wurm drin. Dann ist Reimer in die Bresche gesprungen, dann habe ich zum Glück wieder Fahrt aufgenommen … aber so erklären sich die sieben Jahre. Es gibt einen tollen Satz auf dem letzten Album von Niels Frevert: „Warum das wieder so lange gedauert hat/ Werde ich in Interviews gefragt/ Ich sage, weil ich jeden Morgen auf Knien gebetet habe/ Dass es nur dauert.“ Also: Wenigstens haben wir es geschafft und uns nicht entnervt aufgelöst oder so.

REIMER BUSTORFF: Ich habe tatsächlich ein bisschen Druck gemacht, weil ich dachte, wir dürfen nicht zu viel Zeit ins Land gehen lassen. Es kann uns gar nicht so lange vor, auch wegen Corona. Wir waren ja zum Glück mit Kettcar gerade durch mit der Tournee, als das losging. Das war schon bitter – wie alles abgesagt wurde. Zu sehen, wie einige plötzlich dastehen und nichts mehr haben, war eigentlich das Schlimmste. Aber das muss ich auch sagen: Als Label sind wir hier in Hamburg ganz schön gut aufgefangen worden. Da können wir uns gar nicht beschweren, die Hilfe kam schnell und ohne allzu große bürokratische Hürden. Dafür bin ich recht dankbar. Die sowieso geplante Auszeit haben wir dann allerdings sehr ausgedehnt. Und den wachsenden Druck spürt man natürlich – die Erwartungen von draußen und an uns selbst.

Fehlt in Lebenskrisen dann auch einfach die Kraft fürs Kreative?

WIEBUSCH: Songwriting, das muss man mal klar sagen, auch wenn es vielleicht ein bisschen martialisch klingt, ist ab einem gewissen Punkt für mich eine Qual. Ich bin kein Genie, das einfach so „Sommer ’89“ oder „Der Tag wird kommen“ raushaut. Ich muss mich quälen, ich muss hart überlegen, man geht mit den Gedanken abends ins Bett und wacht morgens damit auf. Und man steht natürlich unter Druck – alle warten. Die Band wartet. Die Fans warten. Und dann sagen einem Journalisten: Das dauert zu lange … (lacht)

Entschuldigung! Auf dem neuen Album ist Reimer mit vier Songs vertreten. Gibt es zwischen euch Songwritern auch Konkurrenz?

WIEBUSCH: Dass Reimer so viel kreativen Output hatte – bei „Ich vs. wir“ ja auch schon, aber jetzt noch mehr, und dann mit so Brettern wie „München“ -, ist einerseits wahnsinnig entlastend für mich, weil ich wusste, dass wir ein Album schaffen, wenn er so weitermacht, und andererseits ist man natürlich auch getriggert: Jetzt muss ich aber auch mal ein bisschen … Dazu kommt noch, dass Erik (Langer, Gitarrist) mittlerweile musikalisch auch ein wichtiger Impulsgeber in der Band ist. Wir wählen dann zu fünft gemeinsam aus, was aufs Album kommt, und was raus muss, weil es sonst zu lang wird. Da wird aber nicht geweint. Ist natürlich fies, wenn man mit manchen Zeilen wochenlang gerungen hat, aber das ist eben so.

BUSTORFF: Ich sehe die Band nicht als eine mit zwei Songwritern. Da sind jetzt vier Songs von mir auf der Platte, der Rest ist von Marcus. Der ist schon der Haupt-Songwriter und auch derjenige, der die Marschroute vorgibt. Und der Sänger. Und das finde ich auch ganz gut so. Ich fühle mich in meiner Rolle wohl, ist weniger Druck. Und ich habe kein Bedürfnis, ganz vorne zu stehen.

Oft ist gar nicht klar erkennbar, von wem welcher Song ist …

BUSTORFF: Ich mache mit Marcus seit 1995 Musik. Mir fällt es nicht so schwer, mich in seinen Kopf zu setzen – und wenn ich schreibe, seine Stimme schon mitzuhören. Das klappt immer ganz gut. Ich kenne ja auch seine Range und weiß, was musikalisch geht. Und wir sprechen einfach eine Sprache. Wenn man eine so lange Zeit zusammen geht, ergibt sich das – wir machen ja nicht nur gemeinsam Musik, wir gehen zum Fußball, sitzen im Büro. Das ist ein bisschen wie eine Fremdsprache zu lernen, irgendwann kann man es.

„„Interview, Promo-Tage, Kommentieren der ganzen Lage/ Wichtig, dass man sich verhält, wichtig, dass man Haltung zeigt/ Unser politischstes Album seit … Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen.“ („Auch für mich sechste Stunde“)“

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In Songs wie „Auch für mich sechste Stunde“ gibt es so viele verschiedene Bilder. Wird das wie ein Flickenteppich zusammengesetzt oder wie funktioniert das?

WIEBUSCH: Dieser Song ist extrem ungewöhnlich für unsere Arbeit. „Flickenteppich“ trifft es schon genau. Der Erzähler geht ja durch verschiedene Phasen – was sieht man, wie verhält man sich, wie man sich der Lächerlichkeit des Musiker-Daseins bewusst wird, die Social-Media-Hölle, und dann in der zweiten Strophe noch mal was ganz Anderes. Insgesamt ist das eingebettet in dieses Gefühl der Erschöpfung – und das der Hoffnung, mit dem Horizont und den Bengalos in der Nacht. Der Arbeitstitel war ganz lange „Hope“. Hat ewig gedauert, bis das Stück fertig war. Vielleicht weil ich so brachial bleiben wollte – mit Sätzen wie „Headshotsfriedenstauben, aber an Liebe glauben/ Wenigstens Ziel vor Augen“ … Komm ich auch nicht jeden Tag drauf! (lacht)

Was sind denn eure persönlichen Bengalos, die euch Hoffnung geben?

WIEBUSCH: Die pathetische Antwort ist die einzige, die ich geben kann: Hauptsache, du machst es nicht allein! Was auch immer du tust, Hauptsache, du machst es nicht allein. Ob du zusammen mit einer Freundin in eine Partei eintrittst, ob du dich ehrenamtlich oder politisch engagierst: Hauptsache, du machst es nicht allein. Es geht in diesen Zeiten ja von Krise zu Krise – das ist alles so überfordernd, dass ich jeden verstehe, der nicht mehr kann. Das Sinnvollste ist aber doch, zu versuchen, irgendwas zu verbessern – und zwar nicht allein. Das ist ein Kerngedanke bei mir. Das ist auch das Gefühl, das wir bei den besten Konzerten haben: Wir 1000 oder wir 500 hier in diesem Raum, wir sind nicht allein. Wir teilen dieselben Werte und so weiter. Das darf natürlich nicht in so einem matschigen Wohlfühl-Wir enden, aber es gibt auf jeden Fall Hoffnung.

Euer Album wirft viele Fragen auf, aber gibt keine einfachen Antworten – weil es die nicht gibt? Blickt ihr auch oft ratlos in die Welt?

BUSTORFF: Immer wieder. Man hat ja auch aufgrund der Komplexität – wie jetzt wieder beim Israel/Palästina-Konflikt – keine Idee, wie es weitergehen könnte. Das laugt mich schon aus. Ich resigniere nicht, aber manchmal neige ich dann schon zur Berieselung und lese einfach ein gutes Buch. Es ist bei so vielen Themen schwer, sich zu positionieren. Bei anderen gar nicht – da freut man mich sich dann, dass so viel Proteste stattfinden, Demos gegen die AfD und so. Gut, dass sich die Leute wieder aufregen. In den Nullerjahren war da viel zu wenig. Wir sind ja Punk-sozialisiert und kommen aus einer Generation, die schon noch aufbegehrt hat. Das fehlte mir lange, darum habe ich mich über „Fridays For Future“ sehr gefreut. Ich gehe nicht mit allem d’accord, aber generell freue ich mich über Leute, die Haltung zeigen.

Eure Songs trösten die Gleichgesinnten – aber wahrscheinlich ist es schon eher „preaching to the converted“, oder? AfD-Leute, Querdenker, Klimaleugner und so weiter: Die wird man nicht erreichen können?

BUSTORFF: Natürlich spielen wir vor Gleichgesinnten. Und ich bin jetzt nicht der Meinung, dass ich mit Musik oder Texten groß die Welt verändern oder Frieden stiften kann. Aber was ich schon auch aus meiner eigenen Biografie weiß, ist: dass ich heute hier bin, so wie ich bin, weil ich Fugazi entdeckt habe, Bad Religion, diese ganze US-Hardcore-Punk-Szene, Straight Edge und was weiß ich. Dass ich diese Bewegung miterlebt habe und mir gewünscht, dass es in Deutschland genauso wäre, dass ich in diesen Musikkosmos eingetaucht bin – das hat mein ganzes Leben verändert. Und wenn wir es schaffen, mit Kettcar die eine oder andere verlorene Seele da draußen auch in irgendwas Gutes, was DIY-Mäßiges reinzuziehen, dann freue ich mich darüber. Für mich gab es so viele wichtige Bands, die mich verändert und wahnsinnig beeinflusst haben.

WIEBUSCH: Machen wir uns keine Illusionen: Leute umzudrehen werden wir nicht schaffen, für die sind wir links-grün-versiffte Nazis. Aber wir machen natürlich weiter und hoffen, den einen oder anderen Impuls zu geben. Wir werden vielleicht nur in unserer linken Bubble gehört, vielleicht auch mal von irgendjemandem von außerhalb. In der Regel denke ich meine privilegierte Position als weißer alter Mann in einer Wohlstandsgesellschaft schon immer mit. Gleichzeitig versuche ich natürlich, meine progressiven Ideen unterzubringen – „progressiv“ mag ich lieber als „links“. Das äußert sich dann in „Doug & Florence“, in „Sechste Stunde“. Und wenn jemand nicht gleich weiß, wer Doug ist: egal. Rätselraten macht ja auch Spaß.

„„Du wüsstest auch gern, wie das ist – einmal frei zu sein/ Dann könntest du dir durchaus vorstellen, mal liberal zu sein.“ („Doug & Florence“)“

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„Doug & Florence“ hat ja auch einen gewissen Witz, nicht nur im Refrain. Wichtig, sich nicht zu wichtig zu nehmen?

WIEBUSCH: Wenn man sich mit neoliberaler Zumutungspolitik auseinandersetzt und diesen Mantras wie „Alle können es schaffen, man muss sich nur anstrengen“, dann kann man das so ernst behandeln wie wir mit „Geringfügig, befristet, raus“ (auf „Sylt“, 2008) – oder man kann es als Quatsch entlarven. Jetzt hauen wir halt so Zeilen raus wie „Paketzusteller of the world, unite! Unite and take over!“ – was natürlich ein Smiths-Zitat ist. Oder wir sagen: „Treff mich am Champagnerstand bei den brennenden Barrikaden“. Man erkennt schon die Haltung hinter dem Song, aber wir haben den Song etwas komischer angelegt, irgendwie trippig – deshalb auch das irre Video.

„„Dass Moral hier objektiv ist, das glaub ich kaum/ Gegen Wagner ist jedes Arschloch ein Pausenclown/ Das ist subjektiv meine Meinung, scheißegal/ …/ Und jetzt guck in deinen Plattenschrank, und dann reg dich auf/ Heute Nacht geht’s für alle den grünen Hügel rauf.“ („Kanye in Bayreuth“)“

Und dann gibt es den Song „Kanye in Bayreuth“, der sich mit der Frage auseinandersetzt, ob man Werk und Künstler trennen kann und sollte. Kommt unsere Haltung dazu nicht auch immer sehr darauf an, wie gern wir die jeweiligen Künstler:innen mögen?

WIEBUSCH: Natürlich. Alle bringen dieselben Argumente für oder gegen den jeweiligen Protagonisten, je nachdem wie gut sie ihn finden. Es ist absurd, wie schwierig es ist, die Werk-und-Autor-Problematik auf objektive Füße zu stellen. Das wollte ich einfach mal zu Protokoll bringen. Damit wir, wenn wir den nächsten Künstler durchs Dorf treiben, überlegen: Warum ihn jetzt? Warum genau? Und warum das Werk? Ich hoffe, der Song ist so vielschichtig, dass begriffen wird, dass es keine klare Position gibt. ich wünsche mir eine ernsthafte Auseinandersetzung für jeden Fall, eine differenziertere Sicht – Mob-Mentalität finde ich natürlich nicht so toll. Ich selbst kann bestimmte Künstler nicht mehr hören, aber ich würde nie, nie zu dir gehen und sagen: Du hörst das jetzt auch nicht mehr!

Du bringst in dem Song den Antisemiten Richard Wagner ins Spiel – ein gutes Beispiel, weil man daran auch sieht, dass die Diskussion um Autor/Werk keine Zeitgeist-Erfindung ist, sondern schon einen langen Weg geht …

WIEBUSCH: In Israel lief nur einmal, 2018, Wagner im Radio, ansonsten never ever, wird dort nicht aufgeführt – und es gibt viele Wagnerianer dort. Da wird es dann hyperkompliziert. Ich finde es für eine Zivilgesellschaft, die so mit Antisemitismus konfrontiert ist wie Israel, nachvollziehbar, dass sie sagt: Einen der größten, wirkungsmächtigsten Antisemiten wollen wir jetzt mal nicht. Und ich finde es auch nachvollziehbar, dass Leute sagen: Ich weiß, dass er ein Idiot war, aber ich kann Werk und Autor trennen und gehe zu den Wagner-Festspielen. Wenn das Werk mit der moralischen Verkommenheit eines Autors einhergeht, ist das natürlich noch mal etwas Anderes. Superkompliziertes Thema – da kommt man nicht auf kurze, allgemeingültige Antworten.

Wird ein Songtext wie „Kanye in Bayreuth“ dann auch innerhalb der Band länger diskutiert?

BUSTORFF: Natürlich haben wir das diskutiert. Wahnsinnig viel darüber geredet, wie unsere Einstellung ist, ob das in einem Popsong geht. Von außen betrachtet muss ich schon sagen, dass Marcus die Fähigkeit hat, es in so einem Viereinhalb-Minuten-Song zu schaffen, dieses Thema zumindest so zu verpacken, dass man einen Denkanstoß kriegt. Dass man überlegt: Wo stehe ich eigentlich? All die Nuancen sind eben auch wichtig. Ich will jemanden wie Morrissey nicht verglichen wissen mit Michael Jackson. Ich finde, man muss das schon auch ächten, aber… Mich haben die Smiths sehr geprägt, ich bin Morrissey hinterhergefahren zu Konzerten, aber jetzt ist der Typ für mich durch. Das tut natürlich auch weh. Die alten Smiths-Sachen höre ich schon noch – ich rechtfertige das mit Johnny Marr, ich höre nur auf die Gitarren! (lacht)

Neben den politischen Songs gibt es auch sehr persönliche Lieder wie „Rügen“ und „Zurück“. Ist die Mischung das Entscheidende?

WIEBUSCH: Bei mir ist das ein natürlicher Impuls: Wenn wir genügend politische Songs haben, dann schreibe ich ein Liebeslied. Ich bin ja nicht euer Polit-Onkel, der euch die Welt erklärt. Dann schreibe ich „Zurück“ – und dann sagt mir der Manager: Willst du nicht kohärenter bleiben? Nee. Das ist die Rio-Reiser-Logik: Er konnte die absoluten Polit-Brecher neben die zärtlichsten Liebeslieder stellen, und die berühren dadurch umso mehr. Die meisten trauen sich nicht beides. Danger Dan hat auf seinem letzten Album auch beides sehr gut hingelegt.

„„Ohne Kinder ab nach Rügen/ Und die kurz geparkt bei Oma/ Jetzt mal kein Bart, Lisa, Maggie/ Jetzt mal nur Marge und Homer/ Erst mal Paar und dann mal Eltern/ Erst ma Sex und dann ma sehen / … / Da ist so viel Freude, aber kein, kein Spaß“ („Rügen“)“

Der Song „Rügen“ ist schon krass gnadenlos in seiner Beschreibung, wie fordernd Familienalltag sein kann. Überlegst du da manchmal, ob man das so veröffentlichen kann? Kinder als „Knalltüten“ bezeichnen und so?

WIEBUSCH: Bei dem und „Kanye“ habe ich schon überlegt, ob man das bringen kann. Grenzen des Popsongs und so… Bei „Rügen“ war es eher so, dass die Frage war, ob das Gnadenlose, Ehrliche andere Leute interessiert. Aber wer, wenn nicht wir soll sich so was trauen? Inspiriert dazu hat mich Judd Apatows Film „This Is 40“ – der trifft die widersprüchlichen Gefühle von Eltern so genau. Unser Ziel ist ja immer: nicht in den luftleeren Raum hineintexten, sondern so dass es mit den Leuten resoniert. Wenn wir solche gnadenlosen Texte zulassen, genau wie die zärtlicheren, dann nennen wir das immer „das ganze Bild malen“ – also nicht nur einen Aspekt des Lebens beleuchten, sondern alle.

„„Nicht alle in Hamburg wollen zu König der Löwen/ Und es ist alles schon gesagt, aber noch nicht von jedem“ („Einkaufen in Zeiten des Kriegs“)“

Ähnlich bildstark wie „Sechstes Stunde“ ist auch Reimers „Einkaufen in Zeiten des Krieges“. Wie kommt man auf so was?

BUSTORFF: Ich brauche nicht lange dafür. Das entsteht ja im Alltag, ist eine Momentaufnahme, in der ich versuche, etwas wiederzuspiegeln, was jeder kennt – immer an der falschen Kasse zu stehen, immer an der längsten Schlange. Und dann bringt es mir viel Spaß, die einzelnen Charaktere zu betrachten und ihnen Sachen zuzuschreiben. Ich mache das auch so im Leben, ohne Songs zu schreiben. (lacht)

„„In jedem grauen Haar, in deinem Eigenheimsparplan, dem Kitsch in deinen Texten, deinen Falten im Gesicht, sehe ich: Du hast immer noch die gleiche Angst wie ich / … / Und du tust was du musst/ Und du hoffst, dass es langt. („Ein Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“)“

Im letzten Song führt Marcus einen Dialog mit seinem jüngeren Ich – und singt unter anderem vom „Planeten Kompromissbereit“. Aber eigentlich habt Ihr euer Leben bisher doch sehr konsequent gelebt, mit der Band und mit eurem eigenen Label Grand Hotel van Cleef?

WIEBUSCH: Das ist das, was du von mir weißt. Das ist das, was ich zeige. Der Typ vom Grand Hotel, der auf der Bühne steht und noch Feuer gibt – aber ich mache mindestens genauso viel Kompromisse in meinem täglichen Leben wie alle. Die sind manchmal nachvollziehbar und vielleicht folgerichtig, aber wenn man dem Gedankenexperiment folgt, auch fragwürdig: Mein 20-jähriges Ich war schon hart drauf, das ist mit den ersten …But-Alive-Platten wohldokumentiert. Das war sehr moralisch, und das würde mein 55-jähriges Ich kritisieren. Wie kannst du es wagen, noch bei Spotify stattzufinden? Wie kannst du mit deinem Scheiß-Auto rumfahren? „Kannst du wollen, was du willst, mit deinem geilen, freien Willen …“ Es ist natürlich schön, dass die Außenwahrnehmung so ist, dass wir relativ wenig Kompromisse in unserem künstlerischen Feld machen, und unterm Strich ist es auch so. In die Songs redet uns nichts und niemand rein. Das Leben haben wir uns aufgebaut, aber die kleinen fiesen Kompromisse am Rande kennen wir auch.

Kettcar
Kettcar

Die vergangenen Jahre waren wahrscheinlich gerade für die Firma sicher auch nicht einfach – und Reimer und Du habt ja als Musiker und Label-Inhaber doppelten Druck, oder?

WIEBUSCH: Reimer und Rainer (G. Ott, Geschäftsführer und Manager) konnten die Firma trotz Corona auf Kurs halten – das ist Glück und Privileg, dass wir das hinbekommen haben und weitermachen können. Aber klar, unser Druck ist schon extrem: Wir müssen ja erfolgreich sein, damit das Geld für die nächsten Jahre langt. Es ist eben einfach so, dass wir das Label dank Thees (Uhlmann) und Kettcar stemmen. Wenn das funktioniert, können wir auch die kleinen Sachen machen. Aber das soll jetzt nicht so nach „oh Gott, oh Gott, der arme Künstler“ klingen. Wir machen das ja seit 20 Jahren so, das schwebt nicht ständig wie ein Damoklesschwert über mir. Es ist einfach so.

BUSTORFF: Ich kriege das alles ganz gut unter einen Hut, und mir macht es auch Spaß. Vormittags Proben, dann nachmittags ins Büro, ein bisschen reden und dann noch ein bisschen Buchhaltung machen – damit bin ich ja außerdem nicht allein. Das ist schon super, das gleicht sich gut aus. Und das Schöne zum Beispiel bei Abrechnungen ist ja auch: Am Ende muss die Summe stimmen, dann ist alles klar. Formel, zack, passt. Beim Schreiben nagen die Zweifel an dir, da hat man nie diese mathematisch-logische Klarheit. Die ist ganz wunderbar. Die würde ich mir fürs Schreiben auch öfter wünschen! (lacht)

Schlagen dann manchmal zwei Herzen in der Brust – Musiker gegen Label-Chef?

BUSTORFF: Eigentlich ist das immer eins. Auch wenn ich hier im Büro sitze, weiche ich ja nicht ab von meinen Moralvorstellungen und meiner Idee davon, wie man mit Musik umgeht, nur weil ich irgendwelche Excel-Tabellen hier habe. Da kommt nicht der BWLer in mir raus. (lacht) Und wir norden uns hier natürlich immer wieder gegenseitig ein und sind ein gutes Korrektiv füreinander. Und was für Kettcar gilt, gilt dann für andere Bands auf unserem Labels auch. Die müssen nichts machen, was sie nicht wollen und wir nicht auch machen würden. Wenn man sich mit etwas nicht wohlfühlt, dann lässt man es besser.

Ihr geht jetzt auch wieder auf Tournee. Wie wählt ihr die Setlist aus – ein paar neue Stücke, aber die Hits müssen schon dabei sein, oder?

WIEBUSCH: Natürlich, wir sind ja keine Idioten! Die Leute zahlen an die 50 Euro, die sollen eine gute Zeit haben. Interessanterweise überschneidet sich das sowieso. „Landungsbrücken raus“ ist auch immer noch einer meiner allerallerliebsten Songs.

Es gibt ja gerade eine große Diskussion um Ticketpreise – da ist alles unter 50 Euro für ein gutes Rockkonzert ja fast billig.

WIEBUSCH: Ich finde, es ist schon echt viel Geld, da müssen wir richtig abliefern. Ich finde es immer irritierend, wenn Bands nicht mal kämpfen. Manche Abende sind besser als andere, aber unser Ethos in der Band ist schon sehr ausgeprägt: Wir lassen uns nie hängen. Wir stecken gerade sehr viel Leidenschaft in die Tour-Vorbereitung, wir arbeiten wirklich hart und gewissenhaft. Das macht großen Spaß.

An die Rente wird also noch nicht gedacht?

BUSTORFF: Ich sehe mich da gar nicht, ich war ja immer – als Musiker und mit dem Label – selbstständig, für mich gibt es wahrscheinlich niemals den Punkt, an dem ich so weit bin. Wann ist überhaupt das Rentenalter?

Bei uns wahrscheinlich 67.

BUSTORFF: Vielleicht geht’s dann nicht mehr, das hoffe ich natürlich nicht. Ich bin sehr demütig und dankbar, dass wir das hier haben und ich das machen kann. Ich habe ja mal auf Lehramt studiert, und so wichtig der Lehrer-Job ist: Gut, dass ich das nicht machen muss! (lacht) Wir sind als Band menschlich so stabil und vom Erfolg einigermaßen verwöhnt und das Label kommt gut zurecht, das ist alles ein Segen. Und vor der Tournee habe ich schon Respekt, deshalb proben wir ja so viel, und das ist wirklich anstrengend, aber die Vorfreude ist natürlich auch extrem groß.

Andreas Hornoff
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