Manic Street Preachers im Interview: „Unsere Band ist wie Medizin“
Die neue Platte der Manic Street Preachers ist auch eine Hommage an die Melodie, das Klavier – und an ABBA. Ein Gespräch mit Songwriter James Dean Bradfield über schöne Wörter und Liebeslieder
Wer an Abba denkt, hat auch „Fernando“ im Sinn, und wer sich für ihre Kompositionen interessiert, auch eines der schönsten Wörter in der Musik. Eines, das sich auf „Fernando“ reimt. Findet James Dean Bradfield auch: „Glissando!“. Er macht den Klang nach, jenen Piano-Swoosh, bei dem man mit den Fingerspitzen die weißen Tasten drückt und von tief bis hoch abrast, oder umgekehrt. „Das“, sagt der Sänger der Manic Street Preachers, „haben wir von Abba gelernt.“ Er spricht von „Don’t Let The Night Divide Us“. Der Titel ist eine höfliche Umschreibung für den Wunsch nach Sex – und der herausragende Song auf dem 14. Album der Band, „The Ultra Vivid Lament“. Abba-Reminiszenzen gibt es auf der neuen Platte viele, am auffälligsten sind die Triolen aus „Waterloo“ auf „The Secret He Had Missed“. „Das Album soll ein typisches 1970er-Gefühl transportieren“, sagt Bradfield. „Ein Top-of-the-World-Feeling, manchmal etwas schäbig, wie auch Glam es war.“ Er nennt diese neuzeitlichen Aneignungen „featurism“ und sagt, um die schwedischen Pop-Titanen zu beschreiben, einen treffenden Satz: „They lift you up … to a strange place.“ Freudig und erregt sein, aber das Anrecht darauf in Frage stellen. Das konnte keiner besser als Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid.
Allzu weit entfernt von Abba war die walisische Band nie. Zwar gründeten sich die Manic Street Preachers 1986 als Punk-Gruppe, und selten spiegeln sich in ihren Texten Freud und Leid innerhalb von Paarbeziehungen – das häufigste Abba-Thema. Bei den Manics – wie sie sich übrigens auch selbst nennen – ging es immer um politischen Protest. Gegen Unterdrückung der Frauen („She Is Suffering“), den Aufstand der Arbeiterklasse („Anthem For A Lost Cause“) sowie den Kampf gegen Kapitalismus. Songs wie „Freedom Of Speech Won’t Feed My Children“ führten sie auch vor Fidel Castro auf. Die selbsternannten Sozialisten gaben 2001 als erste westliche Musiker ein Konzert auf Kuba.
Aber beim Anspruch an Melodien sind sie ganz bei Abba und einigen anderen Ikonen. „Wir wuchsen mit ihnen auf, mit den Beatles, Rolling Stones, Smiths und The Clash“, sagt der 52-jährige. „Alles Ohrwurm-Bands. Viele stolze Musiker finden das unvereinbar – Melodien und lyrische Tiefe. Wir nicht.“ Es stimmt: Ihre Singles füllen Greatest-Hits-Doppelalben, und Klassiker wie „A Design for Life“, „Motorcycle Emptyness“ und „The Everlasting“ funktionieren als Instrumentalstücke des Schönklangs (allein die Verwendung von Alliterationen, wie im neuen Song „Still Snowing In Sapporo“!) genauso wie als Textbeiträge über Working Class oder die innere Leere von Wall-Street-Brokern. „Unsere Band“, befindet Bradfield, „ist wie Medizin für Kinder. Unangenehm zu schlucken, wäre da nicht das süße Stückchen Zucker, das der Medizin beigefügt wurde.“
Die neue Single „Orwellian“ ist eine solche Medizin. Eine „reicht euch die Hände und stimmt ein“-Melodie, deren Lyrics jedoch vom Missbrauch der Sprache handeln, dem Gift der Filterblasen, der Hetze in den sozialen Medien. In George Orwells Roman „1984“ geht es um eine Diktatur, die auch durch die Entmenschlichung von Sprache ihr Volk versklaven will. In Bradfields Song geht es um Wörter, die nicht mehr als Argument, sondern als Waffe eingesetzt werden, unter einfachen Leuten, wie auch Politikern. „Wörter polarisieren, sie armieren politische Ränder, rechts wie links. Je mehr gebrüllt wird, desto größer werden die Gräben.“ Bradfield kann das schwer ertragen. Er, der einst mit Hasskappe und Uniform in der altehrwürdigen Musiksendung „Top Of The Pops“ auftrat, trifft die bemerkenswerte Einschätzung: „Beide Seiten müssen aufeinander zugehen.“
Aber sollte diese Milde wirklich verwundern? Die Manics existieren seit 35 Jahren. In dieser Zeitspanne waren die Rolling Stones, gegründet 1962, schon bei „Bridges to Babylon“, einem Spätwerk, angelangt. Mit Mitgliederwechseln und einer Musik, die ihren rebellischen Ursprüngen im Rock’n’Roll und Blues auch nicht immer ähnelt. Wie ihre Vorbilder haben es sich Bradfield, Bassist Nicky Wire sowie Schlagzeuger Sean Moore erarbeitet, versöhnlicher aufzutreten. Zu Beginn der 1990er-Jahre galten sie noch als ungezogene Brüder der Big Four des Britpop, Oasis, Blur, Pulp und Suede – dabei wollten sie eher klingen wie alles, was Slash bei Guns N’Roses intoniert.
Zwei Krisen hatten sie in 35 Jahren zu meistern. 1995 verschwand ihr Gitarrist Richey Edwards spurlos; 2008 wurde er von den Behörden für „vermutlich tot“ erklärt. Das als Trio eingespielte Album „Everything Must Go“, welches sie als Supportband von Oasis live vorstellten, entwickelte sich im Britpop-Jahr 1996 zu ihrem größten Triumph. Die zweite Krise entstand nach dem Misserfolg ihrer mutigen, aber mit Schulterzucken aufgenommenen Platte „Lifeblood“ von 2004, die mit Bowie-Produzent Tony Visconti eine technoide Hommage an dessen „Low“ war. Danach setzten die Manic Street Preachers mit „Send Away The Tigers“ sicherheitshalber auf Hard-Rock – und halten sich damit bis heute im Spiel. „Wir bezeichnen uns als culture sluts“, sagt Bradfield. „Wir beschäftigen uns mit vielen Strömungen, und wir verarbeiten viele Strömungen. „Be it low, middle or high brow culture.“
„Der Trick besteht darin, alle Wörter zu lieben, auch die rein funktionalen“
„The Ultra Vivid Lament“ bewegt sich zwischen den Kulturen, ist aber, mit seiner radikalen Hingabe an Schlager, ihr experimentellstes und auch bestes Album seit „Journal For Plague Lovers“ von 2009. Darauf kleideten sie Textfragmente Richey Edwards‘ mit antikem Grunge-Rock aus, angeleitet von Nirvana-Produzent Steve Albini. Die Softness des neuen Albums liegt auch in einer Herangehensweise begründet, die neu war für sie. Alle Lieder entstanden am Klavier. Bradfield scheut den Vergleich mit Ernest Hemingway nicht, auch, wenn es nicht überbordende Musikalität ist, für die der Schriftsteller bekannt war. „Das Piano erfordert ein ökonomischeres Vorgehen als die Gitarre. Die Akkordfolgen sind, zumindest bei mir, auf den Tasten einfacher, und ich texte dazu auch knapper.“ So wie Hemingway, ein Meister der reduzierten, aber zielführenden Sprache, habe auch er versucht, exotische Formulierungen zu vermeiden. „Der Trick besteht darin, alle Wörter zu lieben, auch die rein funktionalen.“ Irgendwann wurde das Manics-Jucken aber doch zu stark: „Als die Stücke fertig waren, merkten wir, dass bei einigen etwas fehlte – also legte ich Gitarrensoli drüber!“
Wer auf einem Klavierschemel sitzt, schreibt möglicherweise andächtigere Lieder, als wenn er mit einer Gitarre vor einem Mikroständer stünde. Mit „Into The Waves Of Love“ hat die Band ein Lied aufgenommen, das die „Liebe“ im Titel trägt, erst ihr fünftes bei bald 250 veröffentlichten Stücken. Aber das erste, in dem Bradfield Liebe nicht als Schwächegefühl darstellt, sondern als eines, nach dem er sich sehnt. Das erste Anti-Liebeslied der Manics war „You Love Us“ von 1992. „Unsere nihilistische Antwort auf das Establishment. Wir waren Punks“, erklärt Bradfield. „Liebe setzten wir gleich mit Nachsicht, mit Wohlstand. Jeder weiß, wie schnell man sich verlieben kann. Aber hassen? Mit Leidenschaft, Begründung und Verstand? Nur aus Hass kann Poesie entstehen – das dachten wir zumindest.“
Eine ihrer frühen, Aufsehen erregenden Singles heißt „Motown Junk“. Darin geht es jedoch nicht um die Wut auf eine Plattenfirma, die mit Meilensteinen wie Marvin Gayes „What’s Going On“ die Menschen zum Nachdenken brachte, über eine Welt voller Krieg, Rassismus und Ausgrenzung der Schwachen. Es kritisiert Schnulzen, die das Formatradio der 1980er dominierten. Bradfield weiß möglicherweise, dass ihre neue Platte genauso wahrgenommen werden könnte: als seicht. In „Diapause“ singt er erstmals von einem „gebrochenen Herzen“, unter dem er leide. Aber es ist ja auch er selbst, der einst unterscheiden wollte zwischen guten und schlechten Liebesliedern. Den Anspruch erhoben die Manic Street Preachers damals ungefragt. Doch Bradfields Sorge ist unbegründet. „Diapause“ ist eine ihrer aufrichtigsten Aufnahmen.
James Dean Bradfield ist ein Multiinstrumentalist, aber auf der Bühne spielt er nur Gitarre. Kann er sich vorstellen, bei der nächsten Tournee am Klavier zu sitzen? „Vor 4.000 Leuten?“, fragt er zurück. „Mir läuft gerade ein Schauer über den Rücken. Aber lassen Sie mich darüber nachdenken!“. Wie wäre das: Vorband von Abba? Die Schweden wollen ihre Hologramme auf Konzertreise schicken, und als Support für Idole haben die Manics Hartnäckigkeit bewiesen – sie eröffneten für Guns N’Roses 2018 die Europa-Tournee. „Nun“, sagt Bradfield mit gespielter Diplomatie, „ich fürchte, es ist durchaus möglich, dass wir bei Abba nicht in der ersten Reihe möglicher Wunschkandidaten stehen“. Hoffentlich haben wir ihm dennoch einen Floh ins Ohr gesetzt.