Malik Harris: „Wir sollten uns belesen, zuhören, aufstehen und einstehen“
Im Interview über hohe Ansprüche an sich selbst, Album-Pläne und den Wunsch, dass sich die Menschen jetzt immer weiter informieren.
Einen Namen machte sich Malik Harris, als er 2022 für Deutschland beim Eurovision Song Contest antrat. Obwohl er mit seinem Track „Rockstars“ auf dem letzten Platz landete, erwies sich der Wettbewerb als Karriere-Chance für ihn. Nach einer ersten EP 2019, „Like That Again“, und dem 2021er Debütalbum „Anonymous Colonist“ bringt Malik nun immer wieder Singles heraus. Zuletzt: „Up“. Im Interview sprach er über den hohen Anspruch an sich selbst, Album-Pläne und den dringenden Wunsch, dass sich die Gesellschaft gerade jetzt nicht vom Weltschmerz betäuben lässt, sondern die Menschen sich immer weiter informieren und für andere einstehen.
ROLLING STONE: Wenn ich das richtig sehe, bist du gerade im Studio, oder?
MALIK HARRIS: Ja genau, da bin ich zurzeit sehr viel. Auf dem Sofa hinter mir, schlafe ich auch schon mal. Hier bin ich umringt von Instrumenten, das ist das Paradies für mich. Wenn ich nachts um drei Uhr mit einer neuen Songidee aufwache, habe ich alles direkt parat zum Aufnehmen. Das ist wirklich mein zweites Zuhause.
Rund um dir Uhr arbeitest du aber nicht alleine an neuer Musik, richtig?
Meist produziere und schreibe ich zusammen mit meinem Freund Robin [Karow, Anm. d. Red.]. Aber da ich gerade vom Touren und aus einer Zeit mit sehr viel Action komme, wollte ich unbedingt auf die Bremse treten und mich ein bisschen im Studio einsperren, schreiben und produzieren. Und auch ein bisschen an meinem Live-Set arbeiten. Den ersten Part der „Dreamer“-Tour habe ich bereits gepackt und im März 2024 steht der zweite Teil an. Da möchte ich noch mal ein neues Level erreichen.
Du bist schon jemand, der eine zum Leben erweckte Motivational Quote ist, oder?
Das stimmt schon. Kennst du die „Hotel Matze“-Folge mit Jürgen Klopp? Der meinte da auch, dass er ein All-In-Mensch wäre, der beständig volle Power geben würde. Alles andere würde einfach keinen Sinn für ihn ergeben – und ich ticke genauso. Wenn ich was für mich gefunden habe, dann wird da die komplette Motivation draufgesteuert. Alles auf Plan A und kein Plan B. An meine Live-Shows gehe ich auch so heran. Ich möchte, dass die Leute, die mich häufiger live sehen, jedes Mal denken: Wow, dieses Konzert war wieder ein step up. Mir macht es Spaß, mich auch in der Hinsicht kreativ auszuleben und die Songs nicht nur runterzuspielen, sondern auch eine Geschichte zu erzählen.
Jetzt muss ich an Miley Cyrus denken, die mit ihrer „Bangerz“-Tour keinen Cent dazuverdient haben soll, weil sie im Vorhinein ihr eigenes Geld in besondere Requisiten butterte. Wie weit gehst du für das Verwirklichen deiner Vision?
Letzten Endes zahle ich ja eh quasi alles selbst. Man verdient natürlich durch die Tour was dazu, aber es ist schon so, dass ich am Ende bei ziemlich genau Null rauskomme, wenn ich meine eigene Tour spiele. Das heißt, alles, was ich dabei verdiene, stecke ich auch wieder in die Tour rein. Das war aber auch immer mein Ziel, und vielleicht habe ich das mit Miley gemeinsam. Es geht nicht ums Geldverdienen beim Touren, sondern darum, eine krasse Show auf die Beine zu stellen, die alle feiern können. Solange man das irgendwie stemmen kann, ist es dafür auch okay für einige Gigs ins Minus zu gehen.
Hast du ein Beispiel für den absoluten Produktionshimmel parat?
Für mich ist das ja erst die zweite, richtige Headliner-Tour und damit war das schon ein nächster Schritt, dass ich nun einen neuen Lichtmenschen habe, mit dem ich mir ein komplettes Licht-Konzept überlegen konnte. Früher habe ich mein Set gespielt und das Licht hat irgendwie dazu geflackert, aber jetzt zeige ich in eine bestimmte Richtung und da leuchtet es auf, weil das genau so abgesprochen wurde und ich danach exakt an diesem Spot beispielsweise ein Gitarrensolo performe. Das Licht ist Teil der Show, was mir echt gefällt, weil ich das noch so von Konzerten von Michael Jackson kenne.
Das Licht hat also die zweite Hauptrolle auf der Bühne.
Auf jeden Fall! Es gibt auch Seifenblasen, die mit Wasserdampf gefüllt sind, und die besonders angestrahlt werden, wenn ich dann mittendrin stehe, das ist cool. Da ich sonst allein auf der Bühne und der absolute Fokuspunkt bin, geben mir diese kleinen Momente, in denen das Licht den Fokus auf sich zieht, auch eine kurze Verschnaufpause. Sie sind der Sidekick und es ist super, dann auch wieder übernehmen zu können. Ich liebe das sehr.
Inwiefern hat dir eigentlich der Eurovision Song Contest geholfen oder geschadet bei dem, wo du mit der Musik hinmöchtest?
Der ESC war eines der großartigsten Dinge in meinem Leben – und zwar auch genau mit dem Ergebnis, mit dem letzten Platz. Klar, am Anfang war ich geschockt und dachte nur: what the fuck?! Aber dann stellte sich der letzte Platz als Segen heraus. Denn direkt im Anschluss an den ESC bekam ich Feedback aus der ganzen Welt. Der Song, mit dem ich angetreten bin, „Rockstars“, ist einer der erfolgreichsten geworden. Ich habe jetzt Gold dafür bekommen. Und ich glaube, all das wäre nicht passiert, wenn ich irgendwo im Mittelfeld gelandet wäre. Da hätte wieder niemanden mehr interessiert, weil viele sich nur mit dem Gewinner und mit dem letzten Platz beschäftigen. Und so habe ich total oft die Rückmeldung bekommen, dass sich die Leute gewundert haben, dass ich mit dem Song ganz hinten gelandet bin. Ich hörte, dass ich einen coolen Auftritt hingelegt habe und dass die Menschen die Message des Stücks gefeiert haben. Der ESC war ein riesiges Sprungbrett für mich.
Es hätte aber auch ein Karriere-Killer sein können?
Klar, und es gehört auch immer ein bisschen Glück dazu. Ich habe auch lange überlegt, ob ich wirklich mitmachen sollte. Und dann habe ich beschlossen, dass ich dort nur mit „Rockstars“ performen könnte. Weil ich den Song selbst geschrieben und produziert habe. Es ist mein persönlichstes Lied. Ich habe beim Schreiben und Aufnehmen zigmal geheult, denn er geht einfach so tief und ich konnte mir schon vorstellen, dass der Track genau so auch bei vielen anderen etwas auslösen könnte. Natürlich ist da die ESC-Bühne, auf der man so viele Menschen erreicht, die richtige. Und mit diesem Song-Background war ich gewissermaßen unantastbar.
Wie meinst du das?
Für mich ist ein Wettbewerb nicht so wichtig, weil ich ungerne Musik in gut und schlecht und in Punkten bewerten möchte. Aber vor allem wusste ich: Wenn ich mit einem Song antrete, hinter dem ich zu hundert Prozent stehe und den ich so mag, dann kann ich nicht verlieren. Dann ist das Ergebnis egal, weil mir keiner mehr dieses große Privileg wegnehmen kann, dass ich in dem Rahmen mein Ding machen konnte.
Ich muss trotzdem daran denken, wie mir zu meiner Weisheitszahn-OP gesagt wurde: Hör‘ dabei deine liebste Musik, das lenkt ab. Nur konnte ich die Lieblingssongs danach erst mal nicht mehr genießen, weil sie so mit diesem schmerzhaften Erlebnis verbunden waren. Scheinbar ist dir das nach dem ESC mit „Rockstars“ erspart geblieben.
Gut, dass du das sagst. Mir werden die Woche nämlich alle vier Weisheitszähne gleichzeitig gezogen und das ohne Narkose.
Warum machst du so was?
Weil es zeitlich nicht anders machbar ist. Ich habe schon drei Mal den Termin verschoben … Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst. Ich glaube, da ich „Rockstars“ selbst geschrieben habe, in meinem eigenen kleinen Schlafzimmer, kann niemand den Song besudeln. Der ist wie mein Kind. Und das kann auch mal scheiße bauen, ich liebe es trotzdem. „Rockstars“ erzählt mein ganzes Leben.
Steht denn überhaupt ein Album von dir an? Oder gibt es lieber weiterhin Single-Releases, weil Platten eh überbewertet sind?
Es ist ja traurigerweise so, dass ein Album in der allgemeinen Wahrnehmung immer mehr in den Hintergrund rückt. Ich verstehe den Single-Gedanken – ich haue selbst immer wieder welche raus. Aber ich brauche tatsächlich für mich ein Album. Nur muss ich den Leuten, die mich fragen, ob ich gerade an einem arbeite, immer wieder sagen: Ich arbeite nie an einem Album, sondern immer an Songs. Wenn ich gerade etwas fühle, bringe ich das in Songform. Das ist eine Momentaufnahme. Und irgendwann, wenn ich eine bestimmte Zahl an Songs herausgebracht oder geschrieben habe, blicke ich darauf und stelle fest, dass da wohl ein Kapitel zu Ende gegangen ist. Das ist meist ein Lebensabschnitt verbunden mit einem musikalischen Abschnitt, der einen Kreis schließt. Und wenn es sich so anfühlt, fasse ich das in einer Platte zusammen. Ich mag diesen Gedanken, dass ein Album einer Künstlerin oder eines Künstlers wie das Zeigen des eigenen Tagebuchs ist. Es spiegelt das Leben der Person in den vergangenen Monaten oder Jahren wider und darauf möchte ich mich immer gerne einlassen. Ohne Shuffle.
Gibt es Themen, von denen du glaubst, sie nicht ins Songformat gießen zu können?
Musik schreiben, produzieren und hören ist für mich Therapie. Und in der Therapie gibt es keine Tabus. Manche Themen sind schwerer, aber das hält mich trotzdem nicht davon ab, mich an sie heranzuwagen. Ich habe zum Beispiel ein Lied über meinen Opa geschrieben, der gestorben ist. Das ist mir überhaupt nicht leicht gefallen, aber nach dem Beenden des Songs ging es mir deutlich besser. Ich habe schon über Tod, Politik, soziale Themen Stücke gemacht – und für mich ist das Schreiben ein Outlet, das für mich Dinge greifbarer macht.
Momentan bekomme ich von vielen Influencer:innen mit, dass sie weniger posten, weil Kriege und Klimakrise sie so sehr beschäftigen, dass sie, wie sie selbst sagen, mit Weltschmerz zu kämpfen haben und oft genug nicht weiter wissen, was sie dazu noch sagen sollen. Kennst du das?
Erst gestern hat es mich richtig umgehauen, weil ich mich die ganze Zeit mit der Situation im Nahen Osten auseinandergesetzt habe. Ich wollte mehr verstehen, habe mich komplett reingeworfen in die Thematik und konnte nicht aufhören. Irgendwann war mir einfach nur nach Heulen zumute und ich habe dann meine Freundin angerufen, um ihr zu sagen, wie krass ich sie gerade vermisse, weil wir nicht am gleichen Ort waren. Ich habe keine Lösung für diesen Weltschmerz, aber ich glaube, es ist ganz wichtig, darüber zu sprechen und sich damit zu beschäftigen. Auch wenn mir manchmal die Werkzeuge ausgehen und ich mich dann nur frage: Was ist das für eine Scheiße, in der wir stecken? Wie kann es sein, dass immer wieder so etwas passiert und es die Leute trifft, die nichts damit zu tun haben? Wenn das Sprechen nicht geht, hilft mir vor allem auch immer, die Dinge aufzuschreiben. Auch wenn daraus mal kein Song entstehen muss, hat allein schon der Prozess des Aufschreibens eine große therapeutische Wirkung. Meist kommen ja einem so negative, innere Gedanken nur ganz kurz und sie fühlen sich wie Messerstiche an, wenn man sie nur so flüchtig lässt und ihnen keinen Wert beimisst. Aber mit dem Aufschreiben nimmt man sich die Zeit, um das zu Manifestieren, sich damit zu beschäftigen, alles zu sortieren. Man lernt mehr über sich, warum es einem so geht und woher das Gefühl kommt. Man begreift mehr und lässt sich Raum für das Verarbeiten und einen Umgang damit zu finden. Wenn ich gar nicht mehr kann, dann nehme ich nicht das Handy in die Hand, sondern einen Stift und schreibe das alles auf. Ich finde das auch super wichtig, weil ich sehe das Nichtstun nicht als Dauerzustand. Ich hoffe insgesamt, dass die aktuelle Situation nicht zu einer allgemeinen Taubheit führt und alle gar nichts mehr machen wollen. Denn es kommt auch auf uns an – auch wenn wir uns weit weg fühlen. Wir sollten uns belesen, zuhören, aufstehen und einstehen.
Bist du aktivistisch aufgewachsen?
Ich bin mit einem klaren Bewusstsein für die Umgebung und einem Drang nach tieferer Beschäftigung mit Themen groß geworden. Wir reden und haben schon immer viel in der Familie über Politik geredet. Dadurch interessierte ich mich seit jeher und dieses Interesse ist nur noch mehr gewachsen mit dem Älterwerden – auch weil ich jetzt eine Plattform habe und Leute mit den Dingen, die ich sage, erreichen kann. Da Menschen jetzt auch mal auf mich schauen und sich fragen, was ich dazu sage, hat sich mein Verantwortungsgefühl gesteigert.
Du hievst dir schon auch viel auf. Aber gibst du dir auch mal Zeit für dich?
Die kommt ein bisschen zu kurz, das gebe ich zu. Aber ich kann nicht anders. Wenn ich auf Tour bin und von einem Ort zum anderen fahre, an Venues direkt Interviews und andere To Dos auf mich warten, liebe ich diesen Rausch. Nur wenn ich dann wieder nach Hause komme, klappe ich sofort zusammen und merke, dass das wohl auch nicht der richtige Weg war. Es gibt halt so Phasen bei mir – mal schaffe ich es, im Alltag zwischendrin runterzufahren, aber die werden auch weniger. Deshalb muss ich aktiv in mich reinhören. Und ich habe zum Glück Freunde und Familie, die für mich mal auf die Bremse treten. Meine Freundin hatte zuletzt durchgedrückt, dass wir in den Urlaub fahren und die paar Wochen im August taten auch richtig gut. Ich wäre aber selbst nie auf die Idee gekommen. Es ist also echt wichtig, dass Leute für einen da sind. Und ansonsten bringt es mich auch runter, einfach mal auf dem Klavier herumzuklimpern. Das ist auch Self-Love.
Aber du brauchst auf lange Sicht schon eine Audience für deine Musik, oder?
Ich liebe es, auf den Bühnen dieser Welt zu stehen und Menschen meine Songs zu präsentieren. Ich meinte ja schon, dass Musik für mich Therapie ist. Und zu diesem mehrstufigen Therapieprogramm gehört auch, dass ich meine Lieder mit Leuten teilen und Feedback dazu bekommen kann. Es bedeutet mir auch so viel, wenn ich als Rückmeldung bekomme, dass ein Stück von mir in einer schweren Zeit geholfen hat, sich jemand eine Songzeile von mir tätowieren lässt oder aufgrund eines Songs von mir beschlossen hat, in Therapie zu gehen und sich seitdem viel besser fühlt. Ein Song, der für mich selbst die Welt bedeutet, ist „Car Radio“ von Twenty One Pilots. Der hat auch bei mir ausgelöst, dass ich überhaupt Musik machen möchte. Und alles, was das Stück mit mir gemacht hat, möchte ich auch bei anderen erreichen.
Kannst du erklären, warum genau „Car Radio“ bei dir so einen Eindruck hinterlassen hat?
Tyler Joseph erzählt in dem Song, dass ihm mal das Autoradio geklaut wurde und er seitdem in Stille unterwegs sein muss. Es fehlt ihm nun also die Ablenkung durch die Musik und er kann seinen Kopf nicht ausschalten. Er denkt an gute wie schlechte Dinge und zerdenkt schließlich alles – selbst die Frage nach dem Arschloch, das ihm das Autoradio geklaut hat. In der Zeit, in der das Lied herauskam, war ich noch in der Schule und habe in so einem Dorf gewohnt – in Issing. Ich bin immer um die 40 Minuten mit dem Bus zur Schule gefahren. Und dann sind mir auch mal die Kopfhörer flöten gegangen. Ich weiß gar nicht mehr, ob sie kaputt gingen oder ich sie verloren habe. Auf jeden Fall konnte ich mir keine neuen leisten und ich hatte auf meinen Strecken keine Musik mehr. Das war die Hölle für mich. Ich habe über alles nachdenken müssen und hatte ständig tausend Fragen im Kopf. Zum einen habe ich durch die Zeit gemerkt, wie wichtig Musik für mich ist, aber zum anderen eben auch, was sie für uns alle sein kann. Sie kann uns ein bisschen entführen. Und wir sind alle gar nicht so unterschiedlich, denn dem Typen von Twenty One Pilots ging es schließlich mal genauso wie mir. Ich bin nicht alleine mit meinen Gedanken, bei denen ich mir vorkomme, als wäre ich verrückt. Das hat mir so viel für mein ganzes Leben gegeben. Und das möchte ich jetzt auch teilen. Ich möchte auch eine Stütze sein.