Märchen oder Musikgeschichte?
Es war einmal ein einsamer König unter den Produzenten, weit mehr noch geschätzt als gefürchtet ob seiner unerbittlichen Ansprüche. Der wurde von dem Jazz zugeneigten Musikern nicht zuletzt gerühmt, weil er selbst weit zurückliegende unter ihren Werken stets dem Volk verfügbar zu halten sich bemühte. Neidisch nur konnten andere, auch zum Rock neigende Kollegen gen München blicken, wo im Reiche ECM wie sonst allenfalls bei den Nachbarn von ENJA der Rückkatalog über Jahrzehnte hinweg gepflegt wurde. Eines Tages geschah es, dass der König seinen Getreuen zudem ein Angebot machte, das schlicht – ahm märchenhaft genannt zu werden verdient. Gewohnt, ganz im Dienste der Sache letztendlich zu bestimmen, gab der große Produzent alles Sagen ab an jene, von denen er Selbstporträts erwartete: „Ihr ganz allein bestimmt über die Auswahl, die Abfolge, die begleitenden Texte oder Bildnisse.“ Märchen oder Musikgeschichte? Ein in letzterer wohl einmaliger Fall: Label-Boss Manfred Eicher bereitet langjährigen Wegbegleitern von Arild Andersen bis Eberhard Weber schlaflose Nächte zwischen Wonne und Alb traum die Chance abseits kommerziell kalkulierter „Greatest Hits“. Es sei denn, ein Jan Garbarek oder Chick Corea würde überraschend nah an der Erfolgskurve „trackpicken“, aber wer tut das schon als Mann der kompromisslosen Improvisationskünste? Was stattdessen tun? lautete die wunderbar quälende Frage. Was wählen ohne allen „Best of‘-Stress für die auf rund 30 CDs angelegte ECM-Serie mit dem bezeichnenden Namen „:rarum“? Der Welt eine zweite Chance geben mit von ihr verkannten Werken? Sich erinnern an Sternstunden des eigenen Solospiels oder doch eher der zwingendsten Kooperationen? Stringente Entwicklungen herausarbeiten oder Vielfalt beweisen? Überraschende Frühwerke für junge Fans oder Vertrautes für die nostalgisch gestimmte Wiederbegegnung? Als Radikaler im ersten Achterpack fallt Keith Jarrett auf. AufseinerDoppel-CD (eine Ehre, wie sie sonst nur Garbarek und indirekt Corea zu Teil wurde) konfrontiert er mit Cembalo-Improvisationen und Kirchenorgel-Experimenten. Dann Klavier solo, Sopransax, seltene Aufnahmen. Überraschend gefolgt von Grooves wie als Belohnung fürs neugierige Ausharren: „Belonging „-Ohrwürmer mit Garbarek, „Late Night fVillie“-Gospelfunk. Kein Mensch weit und breit hätte aus dem Riesen-Opus des Pianisten wohl eine auch nur ähnliche Auswahl getroffen. Nix Köln, no Standards? Gut so, spannend ist die Mischung allemal. Bei Garbarek steht beeindruckende Vielfalt im Vordergrund. Man muss sein Pathos nicht mögen, um auf Duette mit Ralph Towner oder Anouar Brahem einzusteigen, auf arabisch, indisch oder afrikanisch Gefärbtes aus 30 Jahren. Der Saxofonist leistet sich sogar volle zwölf Live-Minuten „Sunshine Song“, eine Zusammenarbeit mit Keith Jarrett, die diesem selbst zu raumgreifend schien für eine Werkschau. Chick Corea vertröstet Fans seines Solospiels auf die für später geplante „Chamber Musk“, dokumentiert frühe Return-To-Forever-Fusion sowie die Nähe zu Miroslav Vitous/Roy Haynes und dem Vibrafonisten Gary Burton. Der wiederum setzt auf seine Working Bands mit Pat Metheny oder Steve Swallow. So ergibt sich ein Netzwerk der ECM-Inspirierten a la Dave Holland oder Paul Motian, die auch für einen Bill Frisell wichtiger waren, als Freunde seiner derzeitigen Country-Nähe ahnen mögen. Frisell scheint als einer von wenigen auch am Textschreiben so richtig Spaß gehabt zu haben. Statt bravem „Danke, Manfred!“ Anekdoten aus der Zeit der Begegnung mit ECM: „Ihr Vinyl kam mir dicker vor mit dem coolen grünen Label“. Terje Rypdal schlägt einen weiten Bogen von 1974 (Gitarrenklänge, als träfe die Canterbury Scene auf Miles Davis) über Rockiges aus den 80er Jahren bis zum Konzert für zwei E-Gitarren und Orchester (1998). Auf seiner CD finden sich statt ECM-Prominenz satt so mancher hier zu Lande unbekannt gebliebene Skandinavier. Pianist Bobo Stenson gehört zu den ECMännern der ersten Stunde, wie eine wilde Improvisation von „Underwear“ anno 1971 beweist. Garbarek-Fans kennen ihn spätestens seit 1973: „Witchi-Tai-To!“ Nur beim Art Ensemble Of Chicago war die Entscheidungsgewalt auf ein Kollektiv verteilt. Prompt scheint sie hier zu fehlen, die stringent persönliche Handschrift. Manches hätte der König selber sicher anders entschieden. Entschieden anders als per Dekret dürften auch kommende „:Rarumitäten“ zum Beispiel von Metheny und Gismonti oder den beiden Bleys (Paul & Carla) ausfallen. Die weltweit einzigartige Schulkolleg-Ästhetik der Artworks bestätigt den Nimbus des ECM-Labels als eher akademische Angelegenheit. Nackte Bandspulen aus den 70er Jahren hätten einen noch eindrucksvolleren Effekt ergeben. Und wenn die Alben sich nicht allesamt bestens verkaufen, dann leben sie dennoch selbst überübermorgen weiter – auf der langen Liste, die der kompromisslose König ihren Urhebern, sich selbst und uns schuldig zu sein glaubt.