Madchester und die Folgen
24 Hour Party People Mit seinem Film über die frühen Tage der Manchester-Szene zollt Michael Winterbottom dem Mastermind Tony Wilson Tribut.
Die Geburtsstunde von Madchester soll sich am 4. Juni 1976 ereignet haben. An jenem Abend lärmten die Sex Pistols in der Free Trade Hall von Manchester. Der Überlieferung nach waren exakt 42 Zuschauer anwesend, darunter Howard Devoto und Pete Shelley von den Buzzcocks, die den Gig organisiert hatten; Peter Hook und Bernard Sumner, die kurz darauf Joy Division mitgründeten; ihr späterer Produzent Martin Hannett sowie Mick Hucknall, der aber mit der folgenden Geschichte nichts zu tun hat. In der Filmszene sitzt er reglos etwas abseits und wird von Tony Wilson, der in der ersten Reihe thront, mit einem spöttischen Blick bedacht.
Wilson ist die zentrale Figur in Michael Winterbottoms („9 Songs“) ironischem Rückblick auf Manchesters Musikszene vom Anfang des Punk über New Wave bis zum Ende der Acid- und Rave-Kultur um 1992. Der exzentrische Reporter eines lokalen Fernsehsenders, der auch die Musiksendung „So It Goes“ moderiert, hält den Auftritt der Sex Pistols für einen historischen Moment. Beim letzten Abendmahl seien noch weniger Leute dabei gewesen, so Wilson, der gerne Philosophen und Dichter zitiert. Er veranstaltet Konzerte, gründet 1978 Factory Records und veröffentlicht das erste Album von Joy Division (die sich nach dem Selbstmord ihres Sängers Ian Curtis 1980 in New Order umbenennen), eröffnet 1982 in einer Fabrik den legendären House-Club Hacienda und entdeckt 1985 die Happy Mondays. So wird Manchester für einige rauschhafte Jahre zum Schmelztiegel für psychedelische Sounds, durchgeknallte Bands, grässliche Mode, Massenpartys und den weltweit größten Konsum von halluzinogenen Drogen. Doch auf dem Höhepunkt des Hypes sind Wilson und seine Factory längst pleite.
„24 Hour Party People“, benannt nach dem gleichnamigen Hit der Happy Mondays, ist Satire und Zeitdokument, Drama und Hymne zugleich. Wie an einer Zündschnur reiht Winterbottom kreatives Chaos und finanzielles Unvermögen, Hybris, Wahnwitz und Tragödie aneinander. Drehbuchautor Frank Cottrell Boye, der für Winterbottom auch „Welcome To Sarajevo“ und „Code 46“ schrieb, hat sich auf die Eckdaten jener Entwicklung konzentriert – mit Wilson als Knotenpunkt, der ständig zwischen Charakter, Erzähler und Kommentator wechselt. Er stürzt sich in der Anfangsszene für eine Reportage mit einem Drachenflieger von einem Hügel und erklärt hinterher direkt in die Kamera: „So etwas werden Sie im Film häufiger sehen. Es ist symbolisch und doppeldeutig. Ich sage nur: Ikarus. Wenn Sie es nicht kapieren, egal. Aber Sie sollten mehr lesen.“ Vor allem weil Wilson („Ich habe in Cambridge studiert!“) immer von Semiotik, Postmoderne und Avantgarde faselt, wenn er das, was er tut oder was einfach passiert, gegenüber Skeptikern eigentlich selbst nicht erklären kann.
Denn Wilson war kein Messias, sondern Prediger und Enthusiast. Er hatte keinen Einfluss auf die Musik. Wie ein Katalysator nahm er all die damaligen Strömungen auf, denen er sich aber auch oft hilflos ausgesetzt sah. Solche Situationen gehören zu den amüsantesten Szenen im Film: Die eigenwillige und langwierige Arbeitsweise des mürrischen Produzenten Martin Hannett, der am Mischpult auch schon mal einpennt, kostet ihn viel Geld und Nerven. Der Designer Peter Saville liefert das Poster zu Wilsons erster Konzertveranstaltung erst am Schluss des Abends: Er hat das passende Gelb nicht gefunden. 1983 ist Savilles Cover für die „Blue Monday“-Maxi von New Order so teuer, dass der Hit ein Verlustgeschäft wird. Die Hacienda steht zunächst lange leer und macht weiter Miese, da die Gäste lieber Ecstasy statt Drinks nehmen. Und zur endgültig irrwitzigsten Farce geraten die Exzesse von den Knallköpfen Happy Mondays mit dem Junkie Shaun Ryder, die sich für die Aufnahme ihres Albums “ Yes Please!“ monatelang auf Barbados zudröhnen und damit das gesamte Budget verbraten.
Die Happy Mondays waren 1987 die erste Band, die bei Factory einen Vertrag unterschrieben hat. Bis dahin wurde der Gewinn zwischen Label und Musikern geteilt. Im Film posaunt Wilson stolz, das sei Anarchie. Vielleicht gefiel es ihm nur, ein bisschen anders zu sein. Trotzdem oder deswegen scheint ihn niemand so richtig gemocht zu haben, was der Film allerdings nicht zu erklären vermag. So bleibt es ein herrlicher Running Gag, dass Wilson in jeder zweiten Szene als „Wichser“ tituliert wird. Der Comedian Steve Coogan verkörpert ihn als süffisanten Snob und tragikomischen Selbstdarsteller, was der echte Wilson selbstironisch so quittierte: „Das größte Arschloch wird vom zweitgrößten gespielt.“ 2007 erlag er mit 57 einem Herzinfarkt.
Hannett starb bereits 1991 mit 42 an Herzversagen. Auch Rob Gretton, der Manager von Joy Division, wurde nur 46. Im Film sagt Ian Curtis, er hasse David Bowie, weil der in „All The Young Dudes“ singe, man solle mit 25 sterben: „Jetzt ist er 29,30. Er ist ein Lügner.“ Curtis erhängte sich mit 24. Es ist der einzige Moment des Films, in dem die Ironie zurücktritt. Und Winterbottom findet dafür Bilder, die das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit bedrückend illustrieren. Nicht lustig ist auch der Anblick von Shaun Ryder in einem Interview zum Film. Er ist ein Wrack, aufgedunsen, zittrig.
„In allem, was eine Band gut können sollte, waren wir schlecht“, sagt er und sucht dabei lange nach Worten. „Wir ließen es so wirken, als könnte es jeder machen. Als wäre es ganz einfach. Und das war es damals auch.“
Einige der damals wichtigsten Songs sind im Film und auch auf dem Soundtrack zu hören, etwa „Anarchy In The U.K.“ der Sex Pistols, „Transmission“ und „Love Will Tear Us Apart“ von Joy Division, natürlich New Orders „Blue Monday“, aber auch „Pacific State“ von 808 State. Die Punk-Phase spielt Winterbottom mit Live-Originalaufnahmen von Iggy Pop, The Clash und anderen im Stil eines Musikclips durch. Prägende Bands aus den späten 80er Jahren – Inspiral Carpets, Stone Roses oder Charlatans – haben in dem verdichteten Filmplot keinen Platz. Die Analogie, die der Film dadurch herstellt, ist deutlich: ohne Sex Pistols keine Joy Division, keine Happy Mondays, keine Chemical Brothers, kein Fatboy Slim. Und Wilson war eben zur richtigen Zeit am entscheidenden Ort.
In einem Interview äußerte er sich bescheiden, aber nicht ohne Eitelkeit: Der Film handle ja nicht von ihm, sondern von der Musik. Und außerdem sei alles ein bisschen anders gewesen… Da ohnehin alle Ereignisse und Anekdoten von Mythen umrankt sind, lässt Winterbottom die Filmfigur Wilson gleich das etwas abgewandelte Motto aus John Fords Klassiker „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ aufsagen: „Kannst du zwischen Wahrheit und Legende wählen, nimm die Legende.“ Dem hätte der echte Wilson gewiss zugestimmt.
Im Schlussakt, als die Party nach fast zwei Jahrzehnten vorbei ist, steht Tony Wilson nachts mit einem Joint auf einem Dach über Manchester und starrt in den Himmel. Da erscheint ihm Gott. „Tony, du hast einen guten Job gemacht“, tröstet ihn der Schöpfer, der das Antlitz von Wilson hat, was ihn aber natürlich nicht irritiert. „Schade nur, dass du The Smiths nicht hattest. Aber bei Mick Hucknall hattest du recht: Seine Musik ist scheiße.“