Mach’s dir doch selbst!
ELEN LIEGT NACKT IN der Badewanne. Die Taucherbrille auf ihrem Kopf in die Stirn hinaufgeschoben, lächelt sie verträumt. Neben ihr treibt der Duschkopf im Wasser – und allerlei Gemüseteile. „Erfolgreiche Selbstbefriedigung“ nennt sie das. Der Zuschauer hat die junge Frau gerade in wilder, schnell geschnittener Videoclip-Ästhetik dabei beobachtet, wie sie den Inhalt von Muttis Kühlschrank auf seine Masturbationstauglichkeit überprüft.
Einen Porno sehen wir hier nicht. Dafür ist die Kamera zu anständig. Doch die Szene ist so unmissverständlich inszeniert, dass der Fantasie des Zuschauers nicht allzu viel Spielraum bleibt. Und das ist erst der Anfang der offen vorgetragenen Vaginalmonologe der Helen Memel, die wir als Protagonistin aus Charlotte Roches viel diskutiertem Debütroman „Feuchtgebiete“ kennen. Nun ist sie also Heldin eines Spielfilms. Regie führte David Wnendt, der für sein Leinwanddebüt „Kriegerin“ 2012 ebenso viel Lob erhielt wie die junge Schweizer Hauptdarstellerin Carla Juri für ihre bisherigen Rollen.
Sex sells – dass das niemand besser versteht als die gebürtige Engländerin Charlotte Roche, bewies diese 2008 mit ihrem derben, literarischen Gegenentwurf zu Hygienewahn und verklemmtem sexuellen Vokabular. Die „SZ“ erkannte in dem Roman seinerzeit eine Anklage gegen die „reine, schöne Körperoberfläche“ der Heidi-Klum-Welt. Mit ihrer zwischen provokativer Ehrlichkeit und infantiler Einfalt changierenden Prosa gelang Roche etwas, was heute selten ist: ein Skandal. Sie traf einen Punkt, an dem Auf-und Erregung zusammenfielen. Über kein Buch wurde damals mehr geredet. Keines wurde mehr gelobt für seine feministische Geste und zugleich verabscheut für seine rüden Obszönitäten. Und keines verkaufte sich besser: Roches Körpererkundung in Buchform wurde der erste deutsche Titel, der es auf Platz eins der internationalen Amazon-Bestsellerliste schaffte.
Dass „Feuchtgebiete“ nun verfilmt wurde, überrascht deshalb weniger als die Tatsache, dass dem „Ekelroman“ nach den erschöpfenden Debatten sein Skandalpotenzial noch nicht abhanden gekommen ist. Als Ende 2009 bekannt wurde, dass die Filmrechte verkauft wurden, hallte das Entrüstungsecho erneut durchs Netz: „Muss so ein Buch tatsächlich verfilmt werden?“, wurde da gefragt. „Irgendetwas“, sagt Regisseur David Wnendt, „hat dieses Buch in den Menschen ausgelöst, sie wahnsinnig provoziert.“ Charlotte Roche habe da anscheinend genau „die richtigen Knöpfchen gedrückt“.
Wnendt sitzt mit wachem, freundlichem Blick in einem hellen Hamburger Hotelzimmer und erzählt von der Arbeit am Film. Die Arme kreuzt er vor sich auf der Tischplatte. Immer wieder schaut er zu seiner Hauptdarstellerin Carla Juri hinüber, die neben ihm lässig-unnahbar auf einem Stuhl lümmelt und zustimmend nickt. Wnendt, der als Sohn einer Diplomatenfamilie 1977 geboren wurde und zwischen Miami, Islamabad, Brüssel und dem Rheinland aufwuchs, sorgte 2012 mit seinem Spielfilmdebüt „Kriegerin“ für Aufsehen. Das in der Tristesse der ostdeutschen Provinz angesiedelte Drama begleitete eine junge Frau im rechtsradikalen Milieu -schwerer Stoff im Gegensatz zu seinem zweiten Film. Wie schon bei „Kriegerin“ wirkte er auch am Drehbuch zu „Feuchtgebiete“ mit, während sich Charlotte Roche selbst aus der Filmproduktion heraushielt: „Sie hat sich bewusst entschieden loszulassen und wollte erst den fertigen Film sehen -als Kinozuschauerin“, erzählt Wnendt.
Die Aufregung um „Feuchtgebiete“, sagt er, sei für die Arbeit am Film Vor-und Nachteil zugleich gewesen. Schade -das betont er immer wieder, als gelte es, Charlotte Roches Geschichte, die jetzt auch seine ist, zu verteidigen – finde er vor allem, dass sich die Diskussion mittlerweile komplett vom Inhalt gelöst habe: „Eigentlich ist der Roman das Porträt einer ungewöhnlichen jungen Frau, das sich Mosaikstein für Mosaikstein zusammensetzt und sich doch einer klaren Einordnung entzieht.“ Carla Juri nickt erneut.
Der Film erzählt im Stil einer erotischen Komödie die Geschichte der 18-jährigen Helen Memel, die wenig mädchenhaft über alles spricht, was andere verschämt hinter geschlossenen Türen oder parfümierten Intimlotions zu verstecken suchen: Oral-und Analverkehr, Masturbation, Hämorrhoiden, Menstruationsblut und Spermageruch.
Charlotte Roches Buchvorlage, das mag allen einleuchten, die den Roman gelesen haben, stellt eine Verfilmung vor einige Schwierigkeiten. Die expliziten Schilderungen entwickeln schon als Aneinanderreihung von Wörtern und Sätzen eine teils verstörende Wucht. Roches ungestüme Direktheit aber verharrt in der Beschreibung -in den Regieanweisungen fürs Kopfkino des Lesers -, während der Film verbildlichen muss. Wo also zieht man die Grenze zwischen Zeigen und Andeuten?
„Wenn der Film zu harmlos ausgefallen wäre“, sagt Wnendt, „hätte das genauso wenig funktioniert wie eine übertrieben pornografische Darstellung. Die Ausbalancierung der beiden Extreme hat mich lange beschäftigt. Vermeiden wollte ich, dass das Pornografische, Ekelhafte und Schockierende in den Vordergrund gerät. Darauf wollte ich den Film nicht reduzieren.“
Das Gleichgewicht zwischen Porno und Romantic Comedy, auf das Wnendt den Film mit raffiniertwechselvoller Bildästhetik und dynamischen Montagetechniken auspendelt, gelingt dann tatsächlich verblüffend gut. Er überfordert den Zuschauer ebenso wenig, wie er ihn verschont. David Wnendt kramt in Gedanken kurz nach einer passenden Metapher und vergleicht seinen Film schließlich mit einer „hübsch verpackten Praline, die bunt und nett aussieht, aber einen giftigen Kern hat“. Was zunächst nach holprigem Sinnbild klingt, passt bei näherer Betrachtung dann doch ganz gut: Die Verfilmung kommt als Popkino daher – mit Filmplakat in knalligem Pink und Poolblau, mit Carla Juris wildem Girlie-Lockenkopf, mit poppiger, eingängiger Filmmusik (Peaches singt „Fuck The Pain Away“) und mit einer recht prominenten Besetzung der Nebenrollen. Die deutsche Popcorn-Kino-Idylle verpufft dann aber spätestens in den recht eindeutigen Szenen -„krasse Szenen“, sagt Wnendt. Wo „Feuchtgebiete“ draufsteht, muss schließlich „Feuchtgebiete“ drinstecken. Man muss dem Regisseur ein bisschen dankbar sein, dass er die Romanvorlage nicht für eine Teeniegerechte Altersfreigabe zu sehr entschärft hat. Bei Wnendt ist Helen ein keckes Longboard-Girl mit Wuschelfrisur, buntem Nagellack und Minirock. Ficken bezeichnet sie als „Hobby“, ebenso wie ihre Versuche als „lebendes Muschihygieneexperiment“, bei denen sie fremde Keime auf ihre genitale Verträglichkeit testet: Mit einer schwungvollen Hüftbewegung rutscht sie dann genussvoll über die Klobrille einer verdreckten, öffentlichen Toilette, dass es dem Zuschauer Schauer über den Rücken treibt. „Hygiene wird bei mir kleingeschrieben“, erklärt Helen, bevor sie über die betörende Wirkung ihres Intimgeruchs philosophiert und dem Zuschauer noch eine weitere Lebensweisheit mit auf den Weg gibt: „Wenn man Schwänze, Sperma und andere Körperflüssigkeiten ekelhaft findet, kann man es mit dem Sex auch direkt bleiben lassen.“
Der Großteil der Handlung spielt in der proktologischen Abteilung eines Krankenhauses, in dem Helen nach einer missglückten Intimrasur operiert werden muss. Hier versucht sie ihre geschiedenen Eltern (Meret Becker und Axel Milberg) wieder zu versöhnen und den Pfleger Robin (Christoph Letkowski) für sich zu gewinnen. Nebenbei sinnt die sekretfixierte Heldin ungestört schlüpfrigen Erinnerungen und Fantasien nach, die als Erzählstränge mal knallig-laut, mal fiebrig zuckend oder milchig weichgezeichnet bebildert werden.
Charlotte Roche befeuerte den Skandal um ihr Buch 2008 noch mit dem kecken Geständnis, der Roman trage zu 70 Prozent autobiografische Züge. Die einstige „Viva“-Moderatorin badete gerne in ihrem Ruf als böses Alphamädchen. Ihr Talent zur Selbstinszenierung konnte die Kritiker aber nicht von den erzählerischen Schwächen und der dünnen Handlung des Romans ablenken. Dass die Verfilmung an einigen Stellen überzeugender wirkt, liegt in erster Linie daran, dass Wnendt sich eher für die psychischen Tiefen seiner Figur Helen interessiert als für die reine Provokation.
Die geborene Tessinerin Carla Juri spielt Helen mit sensiblem Gespür für die Vielschichtigkeit der Rolle. Sie bleibt trotz der genussvollen Tabubrüche zart und unschuldig. In Deutschland noch wenig bekannt, erhielt die Schauspielerin 2012 bereits zum zweiten Mal in Folge den Schweizer Filmpreis und wurde auf der diesjährigen Berlinale als „European Shooting Star“ ausgezeichnet. In der Jurybegründung hieß es, ihr Gesicht berge „die faszinierende Fähigkeit, das Publikum zu überraschen“. Unberechenbare Charaktere wie Helen liegen Juri. Vielleicht aber, sagt die 27-Jährige, war es für sie ein noch größerer Vorteil, dass sie die Aufregung um Roches Buch verpasste, weil sie damals in Los Angeles Schauspiel studierte.
„Als ich das Drehbuch das erste Mal las, dachte ich:,Das ist machbar.'“ Juri spricht langsam, konzentriert, ein wenig nuschelnd und mit leichtem Schweizer Akzent. David Wnendt blickt aufmerksam hinüber. „Erst wenig später habe ich mitbekommen“, sagt sie, „dass der Buchvorlage eine riesige Kontroverse anhing. Vielleicht habe ich deswegen entschieden, nicht so viel darüber zu lesen, wie das Buch in den Medien aufgenommen wurde. Ich wollte direkt vom Stoff ausgehen.“ Es habe sie nervös gemacht, gegen die vielen subjektiven Helen-Bilder der Menschen anzuspielen, die das über zwei Millionen Mal verkaufte Buch gelesen haben. „Eigentlich ist man ja prädestiniert zu scheitern, wenn man eine solche Rolle spielt“, sagt Juri und lacht -vielleicht aus Verlegenheit. Vielleicht aber auch über das bisschen Größenwahn, das dazugehört, um einer in Debatten so monströs aufgeblähten Romanfigur wie Charlotte Roches Helen sein Gesicht zu leihen.
„Was mich an der Figur zu allererst interessierte“, erklärt Juri, „war, dass sie eine sehr unkonventionelle Frau ist, die nach ihren eigenen Regeln lebt und gerade deswegen missverstanden wird. Sie wird als hart oder provokant empfunden, dahinter verbirgt sich aber ein sehr viel komplexeres Frauenbild. Ihre Rebellion ist ja nicht plakativ und kalkuliert, sondern entsteht aus einer Einsamkeit heraus.“ Juri spielt die Helen zwischen zwei Extremen: zwischen kindlich-naiver, lebensgieriger Neugier und der schamlosen Lust an der Provokation. Die verschiedenen Dimensionen seiner Protagonistin, sagt Regisseur Wnendt, seien ihm am wichtigsten gewesen: „ausschweifend und unschuldig, große Klappe und verletzlich“.
„Berührt hat mich an Helen, dass sie kein Selbstmitleid zeigt in ihrem Ringen um Akzeptanz, Liebe und Harmonie“, sagt Carla Juri voller Bewunderung für ihre Figur. Ein bisschen, denkt man, kennen wir sie alle oder würden es gern -Helen, diese Heroine der Unanständigkeit. Ihrem langen Schatten wird Juri so schnell nicht entkommen.
David Wnendts „Feuchtgebiete“ mit Carla Juri, Christoph Letkowski, Meret Becker und Axel Milberg ist ab dem 22. August im Kino zu sehen