Machen die Flüchtlinge Deutschland besser – oder droht der Untergang?
Sind die Flüchtlinge der Beginn eines besseren Deutschlands oder das Ende von Deutschland? Der große Wandel wird nur gelingen, wenn er kleiner ist, als es wünschbar wäre.
Wie wirkt sich die Flüchtlingsentwicklung auf Deutschland aus? Seine staatliche Ordnung löst sich auf und irgendwann ist Deutschland nicht mehr Deutschland, wenn Kanzlerin Merkel (CDU) so weitermacht, fürchtete am Wochenende ein FAZ-Herausgeber („Deutschland muss Deutschland bleiben“). Im Gegenteil: Deutschland übernimmt dank seiner Bürger eine „normative Führungsrolle“ und entwickelt sich damit in der Nachfolge der USA zum „Sehnsuchtsland der Freiheit“. Findet Harald Welzer, einer der führenden Intellektuellen des Landes. Welzer, Nationalsozialismusforscher und strenger Kapitalismuskritiker, ist „stolz“ auf dieses Deutschland, wie er im „Spiegel“ schreibt.
Das hört sich erst mal so an, als lägen Welten zwischen diesen Einschätzungen. Der Eindruck hat sich verstärkt, seit die Bundesregierung – zu der neben der Union auch die SPD gehört – auf Drängen von CSU-Chef Seehofer bis auf weiteres Grenzkontrollen wiedereingeführt hat. Dennoch, es bleibe dabei, ließ Merkel ausrichten: „Wir schaffen das“. Aber halt „nicht über Nacht“. Sofort schnappten sie beim politischen Gegner nach Luft. „Rabenschwarzer Tag für Europa“, rief Simone Peter, die für Empörung zuständige Spitzenpolitikerin der Grünen. Alles ganz unmenschlich.
Vielleicht kann man ja erst mal abwarten, wie sich die Sache entwickelt. Zunächst ist es offenbar ein symbolischer Akt, um anderen EU-Mitgliedern klarzumachen, dass es eben nicht gehen kann, wenn sie nach dem Motto agieren: Ihr Deutsche wollt sie? Dann kriegt ihr sie alle.
Deutschland steht – auch dank der rot-grünen Jahre –wirtschaftlich im Vergleich gut da. Wohlstand ist die Basis für gesellschaftliches Engagement und auch für individuelles, das über die eigenen Interessen hinausgeht. Außer man ist Salonlinker und faselt vom Ende des Kapitalismus – bei Beibehaltung des eigenen „Spiegel“-Gehalts, versteht sich. Soziale Anerkennung und okayes Einkommen hilft extrem, um andere nicht als Feindbilder zu brauchen, sei es geografisch, ethnisch oder religiös. Das betrifft Flüchtlinge und Blutdeutsch-Denkende gleichermaßen.
Der moralische Großhammer ist kontraproduktiv, wie fast immer, auch wenn manche CSU-Statements das nahelegen. Hier geht es nicht um Gut gegen Böse. Es handelt sich um unterschiedliche politische Einschätzungen, was gut ist. Und es handelt es sich im Schielen auf politische Rendite (also Zustimmung), auch um unterschiedliche Einschätzungen darüber, wie die Gesellschaft on the long run tickt. Ob die Mehrheit Politiker demnächst für das abstraft, was sie im Hochgefühl dieser Tage von ihnen verlangt. Wäre ja nicht das erste Mal. Da bekommen die CDU-Politiker in ihren Wahlkreisen eben ein anderes Feedback als die Grünen.
Jedes „Pfui“, das grüne Spitzenpolitikerinnen jetzt Richtung CSU-Populismus twittern, fällt auf sie selbst zurück, weil es genauso populistisch ist und das Primat moralischen Distinktionsgewinnes offenbart. Was man hinbekommen muss, ist kein Twitterrekord im Pfui-Sagen sondern eine tragfähige gesellschaftliche Mehrheit, die die Komplexität der Sache zu Ende mitdenkt und dann im Alltag mitträgt – und zwar auch dann noch, wenn die Aufregungsindustrie längst die nächste Sau durchs Dorf jagt.
Das Verlässliche an Merkel ist ja, dass sie das macht, was die Mehrheit will. In diesem potentiell historischen Moment will die Mehrheit der Deutschen – auch nach dem globalen Beliebtheitsrückfall durch die Griechenland-Politik – gut dastehen und bis zu einem gewissen Grad auch gut sein. Nun muss man dieses Bedürfnis in die Realität überführen.
Schleswig-Holsteins grüner Vize-Ministerpräsident Robert Habeck hat dafür eine Formel vorgegeben. Sie lautet „Humanität und Rationalität“. Das heißt, dass man Ersteres unter den Bedingungen der Wirklichkeit praktiziert, also das Gelingen nicht an universalen Ansprüchen misst, sondern an der möglichst großen Ausnutzung der Möglichkeiten von Bund, Ländern, Kommunen und Bürgern. Die Formel lautet: So viele Flüchtlinge aufnehmen, wie es möglich ist.
Ängste in einkommensschwachen oder Ressentiment-anfälligen Milieus zu schüren, ist in dieser Situation fatal. Aber eine Ausblendung der kommenden Probleme derer, die in weniger schicken Vierteln mit Einwanderern zusammenleben werden, die vielleicht mit ihnen um ihre weniger gut bezahlten Jobs konkurrieren werden, ist es auch. Daniel Cohn-Bendit und der Politologe Claus Leggewie haben in der taz („Das neue Deutschland“) dazu Wegweisendes gesagt: Die gemeinsame Zukunft mit möglichst viel Flüchtlingen wird kein Rosengarten, sondern eine aufreibende Herausforderung für die Werte und Routinen derjenigen, die schon einen deutschen Pass haben. Darauf muss man sich einstellen. Es wird auch Konkurrenzen geben, Streit und Hass. Das kann zum Kollateralschaden einer unangenehmen europäischen Normalität führen – einer rechten Partei im Parlament. Aber es ist besser, den Prozess aktiv zu gestalten, als ihn zu erleiden.
Der gute Deutsche durfte sich Identifikation mit Deutschland nicht gestatten, angesichts deutscher Vergangenheit. Er suhlte sich in der negativen Identität. Das prägt Teile des linksgrünen Milieus heute noch. Nun geht es aber darum, nicht Recht zu behalten, dass das mit Deutschland ja doch nichts wird, sondern Teil derjenigen zu sein, die sich primär auch der EU zugehörig fühlen und dafür sorgen, dass der Impuls dieser Tage – möglichst viele aufzunehmen – nachhaltig wird, also von politischen Mehrheiten im Bundesrat umgesetzt.
Da treffen sich die FAZ und Harald Welzer: Deutschland kann nur anders werden, wenn es dabei auch Deutschland bleibt. Der große Wandel wird nur gelingen, wenn er kleiner ist, als es wünschbar wäre. Das ist eine Paradoxie der Realität, auf die sich alle Seiten einlassen müssen.
Die Union. Die Grünen. Die Flüchtlinge. Und wir.
Peter Unfried ist Chefreporter der taz und schreibt jeden Dienstag exklusiv auf rollingstone.de