Lucinda Williams: Zurück zum Guten, Wahren, Schönen
In der streitbaren Songschreiberin Lucinda Williams hat das alternative Musik-Amerika eine moralische Instanz gefunden, die dem sinnentleerten Kommerz den Kampf angesagt hat
Sie umarmt noch schnell ein paar liebe Menschen, schaut flehentlich in die Runde, als wolle sie sich des moralischen Beistands ihrer Freunde versichern, dann steigt Lucinda Williams erkennbar schweren Herzens die paar Stufen zum Podium hinauf. Beifall rauscht ihr entgegen, und die erwartungsvollen Blicke einiger hundert Music-Biz-Profis richten sich gen Bühne. Die „Keynote Address“ soll die Künstlerin liefern, die Eröffnungsrede zur „South By Southwest“, dem alljährlichen Branchenstelldichein in Austin, Texas. Viel Konferenz und jede Menge Konzerte. Eine Reihe großkalibriger Persönlichkeiten hatte bei früheren Gelegenheiten für Kurzweil gesorgt, für Heiterkeit und Kopfnicken allenthalben. Johnny Cash war trocken, Tochter Rosanne forsch, Carl Perkins missionarisch, Nick Lowe ironisch, Rock-Kritiker Robert Christgau kritisch, und selbst der überkandidelte Stuß aus dem Munde von Michelle Shocked entlockte so manchem noch ein mattes Grinsen. Entertainment halt.
Nicht mit Luanda Williams. No, Sir. Diese Frau hat keine Zeit für Flausen, keinen Sinn fürs Flache, kein Talent zu scheppernder Rhetorik. Sie hoffe sehr, sagt sie leise, daß man keine Festrede von ihr erwarte. So was liege ihr nämlich nicht Das sagen eingangs alle, und es wirkt stets kokett Doch im Laufe der nächsten Stunde wird auch noch dem letzten Skeptiker im Saal klar, daß Luanda Williams derlei Posen fremd sind. Sie referiert nicht, sie diskutiert nicht, sie predigt – und greift zu diesem Behufe sogar gelegentlich zur Gitarre. Es ist eine säkulare Philippika, doch wird gegeißelt und geläutert, was das Zeug hält Nie agitatorisch, nur erzählerisch. Am Beispiel ihres Lebens. Es ist eine ungewöhnliche Erfolgsstory und Luanda Williams eine unwahrscheinliche Jeanne D’Arc.
Schon wie sie da oben steht, so bar jeder Eitelkeit: rattiges Haar, zu kurzes Jäckchen, labbrige Jeans, ausgelatschte Turnschuhe. Einziges Zugeständnis an die Kameras: Eyelinet Ein Outfit, das die neue Lichtgestalt der politisch wie musikalisch Korrekten auch an den folgenden Tagen nicht ablegt Ich bin, wer ich bin, sagt sie ein ums andere Mal Und: Ich habe mich nicht geändert, niemand wird mich je ändern. Eine tröstliche Botschaft und zugleich eines ihrer Neun Gebote: Sei, wer du bist, laß dich nicht manipulieren.
Wir begreifen das am Exempel der Geschichte von Lu & Leno. Lu, so nennen sie ihre Freunde (also alle, die das Herz auf dem rechten Fleck haben), Lu also gastierte unlängst in Jay Lenos „Tonight-Show“, wollte dort ihren Song „Right In Time“ performieren und legte sich darüber mit NBC-Zensoren an. Die selbsternannten Wächter der öffentlichen Moral nahmen Anstoß an Songzeilen, die sie scharfsinnig als Masturbationslyrik identifizierten: , „I take off my watch and my earrings/ My bracelets and everything/ Lie on my bed and moan at the ceiling/ Oh my baby.“ Lu blieb stur, die Leno-Leute gaben nach, keiner wurde verletzt, und nur ein paar Pharisäer beschwerten sich. Ein herzerwärmendes Lehrstück, beweist es doch, daß sich auch das Gute bahnbrechen kann, so es nur charakterfest genug auftritt. Den Jubel ihrer Zuhörer, darunter gestandene Zyniker, kann freilich nur verstehen, wer die Perversionen des US-Fernsehens durchlitten hat Jerry Springer, neben dem selbst ein Fiesling wie Jürgen Fliege hochanständig wirkt, hatte am Vorabend drei Strichjungen aufeinander gehetzt, die zur Gaudi des Publikums und zum „Entsetzen“ des Showmasters einander kräftig in die Eier traten und dermaßen unflätig fluchten, daß minutenlang fast nur Beeps gesendet werden konnten.
Lucinda Williams steht für eine Gegenbewegung, die so moralistisch ist wie diffus. „This machine kills fascists“ hatte Woody Guthries Gitarre einst gedroht, Dylan & Baez klampften wider Krieg und Rassismus, die Songwriter der Siebziger gegen Luftverschmutzung und Atomkraftwerke. Williams bekämpft nichts, außer vielleicht die Gleichgültigkeit und das Primat des Geldes. Ihr Album „Car Wheels On A Gravel Road“, wiewohl ohne definierbare Message, ist Kristallisationsmusik für Turbo-Geschädigte. Und omnipräsent. Sie erklingt landauf, landab in „Borders“-Buchläden und vegetarischen Restaurants, dringt aus den „Whole Food“-Märkten und „Starbucks“-Kaffeestuben. Ob Bus-Depot in Memphis, Hotel-Lounge in St Louis oder Bahnhofshalle in Chicago, es gibt kein Entkommen. Nicht einmal bei der Benefiz-Gala für obdachlose Teenager in Chicagos ehrwürdigem „Metro“. Unter „The First Waltz“ firmiert die Veranstaltung, und das illustre Aufgebot umfaßt Rick Danko und Rick Nielsen, Alejandro Escovedo und Lonnie Brooks, Billy Corgan und seinen Vater, Ein paar verkable Stones lassen sich sehen, die „Vibes“ stimmen. In den Pausen tönt „Car Wheels“ aus den Boxen. Nicht nur, aber auch.
Obschon persönlich nicht anwesend, schwebte Lu, der gute Geist der Stadt, auch über „Las Manitas“ in Austin, wo ausschließlich geladene Gäste in den unvergeßlichen Genuß der Welturaufführung von „By The Hand Of The Father“ kämen, eines unvollendeten Musik-Dramas über das Schicksal mexikanischer Einwanderer. Theresa Chavez, Eric Gutierrez und Rose Portillo schrieben das Stück, Alejandro Escovedo zeichnete als Komponist und leitete das kleine Orchester durch Mariachi-Romantik, TexMex-Klänge und soundmalerische bis percussive Passagen. Ein zauberhafter Abend, glückliche Gesichter. Eines davon gehörte Joe Boyd, der indirekt Lucinda Williams dafür dankte. Nur ihretwegen, verriet der legendäre Produzent, sei er schließlich nach Austin gekommen. Sie habe ihm den Glauben an das Gute, Wahre und Schöne in der Rockmusik zurückgegeben. Boyd kam auf seine Kosten, denn die Hoffnungsträgerin machte sich nicht rar: sechs Auftritte an drei Tagen, vom Fundraiser für Frau und Sohn des kürzlich verstorbenen Drummers Donald Lindley bis zur eigenen Pressekonferenz.
Einen Grammy bekam Lu auch. In einer dieser „Alibi-Kategorien, die sie erfinden, um Leute wie mich zu befrieden“, höhnt die so Ausgezeichnete in ihrer sonst so andächtigen Ansprache. „Best Contemporary Folk Album“, was für ein Witz. Gleich nach der Verleihung hätte sie sich mit den anderen Nominierten, darunter Emmylou Harris und Steve Earle, aus dem Staub gemacht, ehe noch die Fernsehübertragung der „richtigen“ Awards begann. Auch so ein abgekartetes Spiel. „Laßt euch davon nicht blenden“, mahnt sie, „geht keine faulen Kompromisse ein.“ Gebote acht und neun. Am zehnten arbeitet sie noch. Wir sind gespannt.