Lou Reeds „Berlin“ live: Auferstehung des verkannten Dramas
In den Nullerjahren brachte Lou Reed sein von der Kritik damals hart angefasstes Meisterwerk auf die Bühne, um es einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Der Unterschied zum Jahr 1973: Die Songs sind einfach nur gute Songs, kein Abgrund mehr, kein Künstler, der sich offenbart.
Natürlich bleibt die Original-Aufnahme von „Berlin“ unerreicht. Obwohl das Werk bei seiner Veröffentlichung 1973 als Enttäuschung galt. Viele Kritiker hatten in diesen glitzernden Glam-Rock-Tagen natürlich ein zweites „Transformer“ erwartet. Etwas schrill frivoles Entertainment und ein paar gute schnelle Kicks. Stattdessen gab es großes Drama voller Drogenelend und Tod, dazu orchestrale Arrangements, die von Jack Bruce, Steve Winwood, Randy & Michael Brecker und einem ganzen Heer von Sessionmusikern eingespielt wurden.
Berlin war nur der modischcoole Rahmen, im Jahr zuvor hatte Bob Fosse mit „Cabaret“ die Stadt schon einmal aut ein mythisches Podest gehoben. Warum nicht noch tiefer eintauchen in die Finsternis der endlosen Hinterhöfe?
Lou Reeds „Berlin“: Pur, existenziell und unverzichtbar
Heute gilt „Berlin“ zu Recht als eins der besten Lou-Reed-Alben. Man kennt solche Verzögerungen ja auch aus der Rezeption des Werks von Velvet Underground. „Berlin“ badet manchmal im Orchester-Schwulst, kennt aber auch viele Moment, die so pur, existenziell und unverzichtbar sind wie die Berührung eines geliebten Menschen. Und dann natürlich die Songs: „Oh Jim“ und „Caroline Says“ klangen niemals so gut wie hier. Schmerz und Schönheit führen auch in „The Kids“ eine irritierende Koexistenz, und nie klang Recds Stimme so lebensmüde und dennoch wahrhaftig.
Live wurde „Berlin“— bis auf vereinzelte Songs — mehr als 30 Jahre nicht gespielt. Im Dezember 2006 trat Reed fünf Nächte hintereinander im ausverkauften St. Ann’s Warehouse auf, um „Berlin“endgültig zu rehabilitieren und nebenbei dem virulenten Trend zur Aufführung ganzer Alben zu frönen – 2007 war das Projekt auch in Berlin zu sehen.
Von der Besetzung des Original-Albums war nur noch Gitarrist Steve Hunter dabei, immerhin hat Bob Eznn (zusammen mit Hai Willner) auch diesmal produziert. Außerdem hören wir Antony Hegarty („Candy Says“), Jane Scarpantoni, Rob Wasserman, Sharon Jones und ein Dutzend weiterer Musiker, plus den Brooklyn Youth Choir.
„Berlin: Live At St. Ann’s Warehouse“ funktioniert über weite Strecken erstaunlich gut und ist also recht werkgetreu. Gelegentlich – im letzten Drittel von „Oh, Jim“ etwa—entlädt sich ein aufgestautes Muckertum, was zu abgeschmackten Soli führt und die Songs unnötig in die Länge zieht.
Was einen Unterschied macht: Der Kontext ist heute ein anderer, die Songs sind einfach nur gute Songs. Kein Abgrund mehr, kein Künstler, der sich offenbart. Aber besser kann man ein Meisterwerk mehr als 30 Jahre später vermutlich nicht aufführen.