Lou Reed: Ewige Suche nach dem idealen Akkord
Moden kümmern Lou Reed nicht. Der Pessimist bleibt dem Rock'n'Roll treu, jener widerspenstigen "schönen Frau", die er "mit einem Sound von möglichst zerstörerischer Wirkung" zu zähmen versucht
Irgendwann muss er einfach kommen. Muss da sein, im Türrahmen stehen, ganz lässig und sachte winken. Vielleicht im hellen Licht, vielleicht auch versteckt im Dunkeln. Laut wahrscheinlich, aber womöglich doch eher leise, wenn nicht auf jener Platte, dann auf dieser, wenn nicht im ersten, hoffentlich im vierten, siebten, zwölften Song. Der dauert nun schon 18 Minuten. Da sollte es doch klappen!
Wenn man Lou Reed allerdings so anschaut, wie er müde in die Sesselkissen rutscht, ein Lächeln verreißt, jovial zu sein versucht und trotzdem Gift und Galle spuckt, wie er dann plötzlich geht, „just a second“, und doch eine halbe Stunde braucht, um sich zu sammeln und unglaublich traurig in den Winter guckt – dann scheint ihm das lang ersehnte Kabinettstückchen wieder nicht gelungen zu sein.
„Der Rock’n’Roll“, sagt Reed und redet eher zu sich selbst, „ist ein sehr gefährliches Objekt, so wie eine wirklich schöne Frau mit äußerst mieser Reputation.“ Seit Jahrzehnten versuche er nun schon, sie (also eigentlich ihn) zu zähmen, „und dafür suche ich nach einem Sound mit möglichst zerstörerischer Wirkung“. Nach diesem einen, idealen Akkord auf der Gitarre eben, von dem uns Reed dutzende Male eine mehr oder minder vage Ahnung geliefert hat, auch wenn wir diese voreilig als letzten Schluss gesehen haben mögen. „Das war ein Irrtum“, versichert uns der Suchende. „Denn selbst, wenn ich diesen Akkord im Studio manchmal schon zu hören glaubte, so hieß das leider nie, dass er seine Wirkung dann auch als Konserve behalten hätte.“ Das Hoffen, nervöse Bangen, die Enttäuschung dann haben ihn gezeichnet und doch gleichsam jede seiner Platten veredelt Geschmackssache auch, sicherlich. Wem Reeds modernistische Ausflüge ins Hier und Jetzt auf New York“, seine Schritte auf Zehenspitzen ins Reich der Pop-Melodien in Moll auf „Magic & Loss“ oder die verzweifelte Rückkehr zur Akustik-Gitarre (nachdem die „andere“, die ewige Feindin, wahrscheinlich an der Studiowand zertrümmert haben. So trocken und robust hat Reed schon lange nicht mehr musiziert – so furchtbar fragil aber sind seine Songs auch selten zuvor gewesen. Abwechslung bietet der Urban Poet nur im Detail. Nur dem also, der sich auf Marginalien einlässt und bei hundertmal dem beinahe gleichen Akkord noch immer Lust auf Entdeckungen hat.
Immerhin, die lassen sich machen. Etwa wenn Lou Reed im bald zwanzigminütigen „Like A Possum“ seine Gitarre die spannenderen Stories erzählen lässt als sich selbst. „Ich wollte lange schon mal wieder einen wirklich langen Song aufnehmen“, erklärt er lapidar. „Ich habe das mit Velvet Underground und ,Sister Ray‘ gemacht, und ich habe als Solist ‚Street Hassle‘ aufgenommen. Jetzt überkam mich die Lust halt wieder.“ Und deshalb habe man halt im Studio „das Band einfach laufen lassen, und dann haben wir gewartet, bis der Song sein Finale haben würde.“ Reine Gefühlssache sei das halt: „Du lässt dich forttragen, vergisst dabei dich und alles drumherum – und irgendwann ist Schluss.“ Keiner weiß warum, das sei auch gut. „Musik zu analysieren bedeutet, Musik umbringen.“ Weshalb ein Begriff wie „Konkurrenz“ für ihn auch keinerlei Bedeutung habe. „Meine Musik ist niemals die Reaktion auf das Schaffen anderer Musiker gewesen, ich habe immer meine Sachen gemacht, die kein anderer sonst machen wollte und tat. Das einzige Kriterium, unter dem ich meine eigenen Platten bewerte, heißt: Würde ich diese zehn, zwölf Songs selber kaufen?“ Keine freie Minute, um dem Zeitgeist nachzuspüren, dem er zumindest für ein paar Jahre in den Sechzigern ja mal entsprochen hat, so wir den Chronisten von einst denn Glauben schenken dürfen. Reed selbst wird deren Zeilen später wortlos dementieren, mit Gesten, die er nicht mehr proben muss. „Albern, dieser ängstliche Blick auf Moden. Ich hab doch schon Probleme, mit mir selbst Schritt zu halten. Wie sollte ich mich da hinsetzen und einen Sommerhit komponieren?“ Was selbstredend niemand ausgerechnet von Lou Reed erwartet hätte. Von jenem Mann, der mit Velvet Underground eine Schocktherapie im Pop-Business installiert hat und seither nach Substituten für das einstige Kribbeln sucht. Eine schwere, harte Arbeit heutzutage, „wo sich die Leute doch längst an alle möglichen Spektakel gewöhnt haben, wenn sie vom TV und dem Internet den lieben langen Tag permanent bombardiert werden und mittlerweile glauben, alles, aber wirklich alles bereits gesehen zu haben.“ Haben sie nicht? „Im Grunde nein. Doch bevor du drauf kommst und das auch umsetzen kannst, ist es vermutlich doch längst von anderen entdeckt worden.“ Wie kommt er nur darauf? Wer wüsste von den Epigonen eines Lou Reed zu berichten? „Was wäre für die auch bei nur zu holen gewesen?“, grantelt der Sarkast. „Velvet Underground ist doch erst zum Kult erklärt worden, als wir selbst das Projekt fast schon vergessen hatten. Damals, als wir in der Tat neue Wege gezeigt haben, wollte uns kein Aas hören.“
Und weil die Geschichte sich ja bekanntlich wiederholt und dabei alles noch viel schlimmer ist als beim allerersten Mal, schmust Reed bis heute mit seinem Pessimismus wie ein Kind mit seinem Teddy. „Es genügen doch heute kleinste Partikel“, vergräbt sich der Künstler hypochondrisch immer tiefer im Selbstmitleid, „die Leute lesen von einem Buch nur noch die spannendsten drei Seiten, und sie laden sich aus meinem Album, wie ich befürchte, auch nur zwei, drei Songs herunter und scheißen auf all die Mühe, die ich mir mit dem Sequencing gemacht habe.“ Es ist zum Jammern, zum Verzweifeln und ein bisschen auch zum Lachen. Das aber sagen wir ihm jetzt lieber nicht. Privaten Fragen, etwa zu Laurie Anderson, mit der er seit sechs Jahren verheiratet ist, weicht Reed weiterhin aus: „Die Leute sollen sich auf meine Musik konzentrieren.“
Lou Reed sagt ja auch nicht mehr allzu vieL Wenn sein Gegenüber keine Lust hat, sich noch das letzte Viertelstündchen seine Gitarren-Techniken in Trockenübungen erklären zu lassen, nun gut, dann wird er sich schon zu rächen wissen. Nein, sein Publikum habe sich nicht wirklich verändert oder vielleicht auch doch, das sei aber auch völlig egal. Und ob die gemeinsamen Arbeiten mit dem Theatermann Robert Wilson, mit dem er gerade das Stück „Poetry“ am Hamburger Thalia Theater inszenierte, nun seine Alben hörbar in neue Richtungen lenken, „das kann ich doch nicht sagen. Das sollen andere tun, obwohl die sich ganz sicher wieder irren werden.“ Haben sie bei ihm ja immer getan.
Und hat Reed deshalb eines schauderhaften Tages sein Lächeln verloren? „Das ist noch da, irgendwo. Ich find’s bloß immer seltener.“