LOST CASH

Neunzehnhunderteinundachtzig? 1981. Da war so viel los Im Hamburger CCH etwa eröffnet Bruce Springsteen mit „Prove It All Night“ sein erstes Deutschland-Konzert. Ein Künstler, der damals einfach Prince heißt, wird im Vorprogramm der Stones-Tour von der Stadion-Bühne gebuht. Eric Clapton muss seine US-Konzertreise platzen lassen – ein aufgebrochenes Geschwür bzw. gequetschte Rippen bescheren ihm nach einem Autounfall gleich zwei Hospitalaufenthalte in Folge. Depeche Mode debütieren, derweil eine junge irische Band mit Album Nr. 2 („October“) bereits im US-Fernsehen angekommen ist. Alice Cooper irritiert seine Fans mit neuem Faible für Militärisches, Ozzy Osborne beißt einer Taube den Kopf ab. Und Elvis Costello schockt die New-Wave-Kundschaft. Seine Country-Hommage „Almost Blue“ lässt der Brite in Nashville von Billy Sherrill stilecht in Szene setzen. Doch der Produzent, der „Stand By Your Man“ mit Tammy Wynette geschrieben und George Jones mit „He Stopped Loving Her Today“ richtig groß gemacht hatte, muss 1981 auch noch einen anderen neuen Klienten bedienen, der ihm weniger ehrfürchtig begegnet sein dürfte. Dafür vielleicht ein bisschen verzweifelter. Als Sherrill, damals auch A&R-Chef von CBS Nashville, ins Columbia-Studio bittet, ist Johnny Cash zwar immer noch der Man in Black, doch zugleich ein gutes Stück davon entfernt, die alle Genres und

Generationen sprengende Ikone seiner letzten Schaffensdekade zu werden. Im Gegenteil. Zwar wird Cash 1980 – im 49. Lebensjahr – als bis dahin jüngstes Mitglied in die „Country Music Hall Of Fame“ eingeführt, was, wie er später in einem Gespräch mit dem Kollegen Bobby Bare Sen. sagen wird, „ja für jeden Country-Boy mit Gitarre der ultimative Traum“ sei, doch zugleich wirkt diese Ehrung fast wie ein Trostpreis für einen Künstler, der seine beste Zeit schon lange hinter sich hat. „Schreibt mich nicht ab wegen dem hier“, sagt Cash dann auch trotzig bei der Zeremonie.

Während Tochter Rosanne 1981 gleich drei Nr.-1-Hits landen kann, taucht ihr Vater nur noch sporadisch in oberen Regionen der Country-Charts auf. Zuletzt 1979 mit seiner Version des immergrünen „(Ghost) Riders In The Sky“. Im Jahr darauf sucht Cash mit „Rockabilly Blues“ inspiriert Anschluss an seine goldenen Tage beim Sun-Label und neben eigenen Stücken wie „Cold Lonesome Morning“ und Vorlagen von Billy Joe Shaver („The Cowboy Who Started The Fight“) und Kris Kristofferson („The Last Time“) sind auch gleich beide Schwiegersöhne auf dem Album vertreten. Rosannes Gatte Rodney Crowell liefert „One Way Rider“, Nick Lowe, nicht minder frisch verheiratet mit Stieftochter Carlene Carter aus Junes erster Ehe mit Carl Smith, steuert sein „Without Love“ bei. Toller Song, aber die Single strandet auf Platz 78 der Charts.

Denn Nashville glüht längst im „Urban Cowboy“-Fieber. Im gleichnamigen Film turtelten John Travolta und Debra Winger zwischen mechanischen Bullen durch den Sommer 1980. Der Nr.-1-Soundtrack dazu, der mit Beiträgen von u.a. Bonnie Raitt und Charlie Daniels nicht ganz so schlecht ist wie sein Ruf, hatte eine verunsicherte Music Row auf Pop/Rock-Crossover-Kurs getrimmt. Da kontert Columbia, das zunehmend das Interesse am langjährigen Premium-Künstler Johnny Cash zu verlieren scheint, den Trend des Tages ausgerechnet mit einer Paarung, die wie Wasser und Feuer anmutet. Hier Billy Sherrill bzw. „Mr. Countrypolitan“, der nicht nur für den Novizen Elvis Costello immer noch die goldene Ära der Countrymusik repräsentiert und auch Charlie Rich half, „The Most Beautiful Girl In The World“ zu umschmeicheln – da Johnny Cash, der eher für Gott und Totschlag zuständig ist, mit Bob Dylan abhing und nichts dabei findet, auch mal den Mittelfinger auszufahren (und das nicht nur im Gefängnis). Fürwahr ein odd couple. Oder war diese Liaison damals gar nicht so merkwürdig, wie sie heute auf den ersten Blick immer noch aussieht?

„Oberflächlich betrachtet lag sie sicher nicht näher als, sagen wir: Rick Rubin und Donovan“, sagt Steve Berkowitz in Anspielung auf „Sutras“, die Zusammenarbeit des Troubadours und des Superproduzenten. Und schiebt lachend hinterher, dass er Cash „natürlich nicht“ mit Donovan vergleichen wolle. Für Sony Legacy verantwortet Berkowitz als Co-Produzent das Album „Out Among The Stars“, zwölf bisher unveröffentlichte, leicht nachbearbeitete Aufnahmen aus den Jahren 1981 und 1984, die Nachlassverwalter John Carter Cash vor knapp zwei Jahren im riesigen Fundus entdeckt hatte – das letzte Geheinmis des Johnny Cash. „Meine Eltern haben wirklich alles auf bewahrt“, erklärt der Sohn von June und Johnny. „Alles, was irgendwo mal aufgenommen wurde. Egal, ob veröffentlicht oder nicht – die Bänder kamen ins Archiv.“

Und doch war es eine Überraschung, Material von solcher Qualität zu finden. Ist ja nicht selbstverständlich, dass bei der Gleichung großer Produzent plus große Legende auch ein großes Album rauskommt, eine Magie entsteht. In den bisher bekannten Cash-Werken der Achtziger halten sich die magischen Momente jedenfalls in Grenzen. „The Baron“, der Single-Vorläufer zum gleichnamigen 81er-Album, ist eine putzige Familiengeschichte um einen Pool-Billard-Paten, der in Rookie Billy Joe dank eines als Spieleinsatz platzierten Hochzeitsrings seinen verlorenen Sohn wiedererkennt. Später wird unter dem originellen Titel „The Baron And The Kid“ sogar ein Film draus, der aber nur Fans der schwarzen Acht zufriedenstellen kann. Vor einer Kamera zu stehen ist auch jenseits seiner eigenen TV-Show Ende der 60er/Anfang der 70er-Jahre nichts Neues für Johnny Cash. So ist er -während die Sessions für „The Baron“ im März 1981 weiterlaufen -im CBS-Fernsehfilm „The Pride Of Jesse Hallam“ zu sehen: als verwitweter Grubenarbeiter aus Kentucky, der sein neues Leben in Cincinatti, Ohio erst in den Griff bekommt, nachdem er sich als Analphabet zu erkennen gibt -immerhin eine schöne Vorlage für Literarisierungskampagnen. Natürlich sagt Cash auch nicht nein, als ihn kurz zuvor der begehrte Ruf in die „Muppet Show“ ereilt. In einer reizenden Hillbilly-Episode führt Kermit ihn immerhin noch als „The King Of Country &Western Music“ ein. Der revanchiert sich u.a. mit „Dirty Old Egg-Suckin‘ Dog“ sowie einer „Jackson“-Einlage mit der herrlich schief singenden Miss Piggy.

„The Baron“ kann Cashs Plattenkarriere nicht nachhaltig in Schwung bringen. Zwar schafft die Single die Top 10, doch die drei Nachfolger landen wieder unter ferner liefen. Noch einmal werden die Pferde gewechselt. Cash versammelt die Gemeinde zum spontanen Sun-Klassentreffen mit Carl Perkins und Jerry Lee Lewis, auf dem in Stuttgart (!) mitgeschnittenen „The Survivors Live“. Dann landet er mit „The Adventures Of Johnny Cash“ wenig abenteuerlich beim alten Buddy Jack Clement. Schließlich zieht’s ihn sogar nach Kalifornien. Wo Cash 1983 mit Produzent Brian Ahern und Sessionveteranen wie u.a. Schlagzeuger Hal Blaine, Gitarrist James Burton und Keyboarder Glen D. Hardin „Johnny 99“ einspielt. Bruce Springsteen hat einen neuen Fan, wie der Titelsong und das zweite „Nebraska“-Cover „Highway Patrolman“ nahelegen. Doch auch jenseits davon ragt das Album aus dem Cash-Œuvre jener Jahre heraus. Während die einzige Single, George Jones‘ „I’m Ragged But Right“, mal wieder irgendwo im Charts-Hinterland parkt.

Nachdem er erneut von Schmerzmitteln abhängig und deswegen recht unerträglich für sich und seine Familie geworden war, checkt er 1984 im Betty-Ford-Center in Rancho Mirage ein. Dort entwickelt Cash nicht nur eine Geburtstagskarten-Freundschaft mit Liz Taylor. Er schreibt auch an seinem später veröffentlichten (und gefloppten) Saulus-zu-Paulus-Roman „The Man In White“ und das dazu passende Erweckungsbekenntnis „I Came To Believe“. Der Song wird erstmals 2006 auf dem von Rick Rubin posthum vollendeten Album „American V: A Hundred Highways“ veröffentlicht .Doch die Originalversion entsteht schon 1984 und beschließt jetzt als Country-Waltz im typischen Sherrill-Arrangement das verlorene Album „Out Among The Stars“.

Schon irritierend, wie verschieden ein und derselbe Song von ein und demselben Mann klingen kann. Was natürlich auch der völlig unterschiedlichen Produktion geschuldet ist. Aber mehr noch einer Stimme, die damals noch eine andere ist als die berühmt gewordene brüchige, schon dem Tod geweihte fast 20 Jahre später. John Carter Cash, der seinen Vater damals zusammen mit Mutter June nach erfolgreicher Behandlung in der Entzugsklinik abgeholt hat, spricht von einer „spirituellen Renaissance“, die sein Vater damals erlebt und die auch seine Kreativität beflügelt habe. Was mit Cashs Eigenwahrnehmung korrespondiert, wenn er 1984 im Gespräch mit dem Songwriter Bobby Bare sagt: „I feel like life for me has really just begun.“

Materiell muss Johnny Cash trotz dahintrudelnder Plattenkarriere ohnehin nicht gerade darben. Auch der familiäre Merchandising-Betrieb wirft ja ein paar Dollars ab. Frau June und Mama Carrie, die zudem ein eigenes Kochbuch feilbietet, stehen hinterm Verkaufstresen von Cashville. Bruder Roy spielt den Museumswächter und gewährt für 2 Dollar 50 einen Blick auf Goldene Platten und Familienmemorabilia aus Dyess, Arkansas. Schwester Reba regelt das Finanzielle. Immer noch fährt Cash im silbernen SEL-Mercedes vors gut gesicherte Tor seines Anwesens in Hendersonville. Wenn er nicht im Tour-Bus unterwegs ist. Rund 110 Shows absolviert er zu dieser Zeit pro Jahr, als Gage werden durchaus schon mal 35.000 Dollar für den Abend aufgerufen.

Auch der damals zwölfjährige John Carter Cash gehört Mitte der 80er-Jahre schon zur Entourage, so oft es die Schule erlaubt. Es gibt schöne Filmchen aus dieser Zeit, wie der Junge im nicht gerade luxuriösen Tourbus zwischen seinen Eltern lümmelt, während die sich über irgendeine TV-Show amüsieren. Natürlich wird auch viel gesungen an Bord – vermutlich hat auch der Sohn die berühmte Liste seines Vaters mit den 100 essenziellen Americana-Songs bekommen, aus der Schwester Rosanne 2009 das schöne Album „The List“ machte.

„Baby Ride Easy“, den Cash auf „Out Among The Stars“ mit seiner Gattin singt, gehört nicht zu diesem Kanon, ist aber 1980 schon ein kleiner Hit in England für Carlene Carter. Sie singt den Song von Richard Dobson im Duett mit nein, nicht ihrem Ehemann Nick Lowe, sondern mit dessen Rockpile-Buddy Dave Edmunds. „Meine Eltern haben den Song von ihr gelernt und damals auch öfter live gesungen“, erinnert sich John Carter Cash. Doch die jetzt veröffentlichte Studio-Aufnahme von „Baby Ride Easy“ – eine Art „Jackson“ auf Sparflamme – gelingt 1984 noch nicht ganz. „June war in den Refrains zu weit weg vom Mikro“, erläutert Steve Berkowitz. „Also sagte John:,Warum holen wir nicht Carlene dazu? Is ja schließlich auch ihre Mutter.‘ So singt June jetzt immer noch die Strophen, aber dann hilft Carlene ein bisschen aus.“ Cashs Gesangspräsenz indes machte Nachbearbeitungen überflüssig. „Seine Stimme ist wirklich voll auf der Höhe“, staunt John Carter Cash. „Es gab auch immer nur eine Gesangsspur.“

Ingesamt sei das Ausgangsmaterial für „Out Among The Stars“, wie Berkowitz ergänzt, „zu rund 85 Prozent fertig“ gewesen. Neben Carlene Carter wurden für die ergänzende Aktualisierung Buddy Miller, Dobro-Ass Jerry Douglas und Marty Stuart engagiert – der schon damals bei den Original-Aufnahmen mit Gitarre und Mandoline als Youngster unter alten Studiohasen wie Hargus “ Pig“ Robbins (Klavier) und Pete Drake (Pedal Steel) mitgemischt hatte. „Es mussten die richtigen Leute sein, damit sich die neuen Sessions ganz natürlich mit den alten verbinden“, erläutert John Carter Cash. „Dad hätte sicher Marty ausgesucht und Buddy und Jerry hat er auch sehr geschätzt.“

Berkowitz betont, dass „auch nicht viele Overdubs“ gemacht wurden. „Der größte vermutlich für ,She Used To Love Me A Lot‘. Da fragten wir Marty, ob er seinen Gitarren-Part nicht ganz neu einspielen wolle – einfach weil damals diese Soundeffekte angesagt waren, die man heute nicht mehr so gern hört. Aber sonst wollten wir nichts groß verändern: Die Suppe von damals sollte einfach ein bisschen weiterkochen.“

Um im Bild zu bleiben: Gesalzen ist „Out Among The Stars“ durchaus, wenn auch nicht durchweg. „Tennessee“ etwa klingt wie eine Auftragsarbeit fürs lokale Tourismus-Büro, und die frivole Schnurre „If I Told You Who It Was“ geht wohl nur für ganz harte Grand-Ole-Opry-Fans. Mit dem sarkastischen „Call Your Mother“(sein zweiter selbstverfasster Song auf dem Album) und der bitteren Reue von „She Used To Love Me A Lot“ ist Johnny Cash anno 1984 dann aber in seinem Element. Und Hank Snows „I’m Movin‘ On“ im Duett mit Waylon Jennings ist ein launiger Aufgalopp für die spätere Supergroup The Highwaymen, die Cash 1985 dann wieder ganz nach oben in die Charts bringt.

„Waylon hatte ein Büro auf der anderen Straßenseite“, erinnert sich John Carter Cash, der sich damals mit Billy Sherrills Tontechniker angefreundet hatte. „Also guckte er gern mal rein, wenn eine Session lief. Und irgendwann nahmen sie dann ziemlich spontan ,I’m Movin‘ On‘ auf. Waylons Sohn Shooter, dem ich das neulich vorspielte, fand’s echt aufregend. So was findest du also und denkst dir:,Ja, sie hatten ihren Spaß, aber dann ist nichts mehr damit passiert.‘ Schockierend irgendwie.“

Schockierender – aber mit seinem tiefschwarzen Humor wesentlich amüsanter – ist da noch „I Drove Her Out Of My Mind“, das auch Steve Berkowitz sofort begeistert hat, als die Regler nach dem Digital-Transfer der Mas terbänder in New York das erste Mal hochgezogen wurden. „Ich fragte mich: Kann jemand anders als Johnny Cash einen so lustigen Selbstmord-Song bringen? Es ist wie ,Thelma & Louise‘, der Film, nur in einem einzigen Song. Natürlich hat er das nicht geschrieben. Aber wie er den Song singt, wie er die Geschichte erzählt: Du weißt, ich liebe diese Frau, aber jetzt muss ich diesem Schmerz beikommen und sie aus meinen Gedanken fahren. Und deshalb klaue ich diesen Cadillac direkt vom Händler, fahre damit die Klippen runter, und ist es nicht wunderbar? Mitten durch die Himmelspforte!“

Country-Himmel hin oder her – veröffentlicht wird das alles nicht 1984. Dafür ein anderer, auch mit Billy Sherrill produzierter Song, der eventuell sogar seinen Anteil daran hatte, dass „Out Among The Stars“ damals ins Archiv wandert und überhaupt bis heute zu den schönsten Spekulationen ermuntert: Eine Single mit dem bescheuerten Titel „The Chicken In Black“, von der einige sagen, Cash habe damit doch nur seinen Rauswurf bei Columbia Records provozieren wollen. „Vielleicht schon“, sagt heute Sohn John Carter. „Aber er war dann auch überrascht und fühlte sich im Stich gelassen, als sein Vertrag nicht verlängert wurde.“ Während sich, fügt er lachend an, „heute bei Sony fast alle einig sind, dass das eine der schlechtesten Entscheidungen war, die die Firma je getroffen hat.“

Die Novelty-Nummer „The Chicken In Black“ schrieb Gary Lee Gentry. Der Music-Row-Mann hatte 1983 schon „The Ride“ (auch eine Sherrill-Produktion) für David Allan Coe verfasst – und dem alten Outlaw glatt noch mal Platz 4 in den Country-Charts beschert. Auf einen ähnlichen Erfolg hoffend, heckt Gentry nun die Posse um eine missglückte Gehirn-Transplantation aus. Dabei mutiert Cash zum Bankräuber „Manhattan Flash“, der New Yorker Geldhäuser stürmt – während sein Gehirn nun ein Huhn zur singenden Titelfigur macht, die mit dem gewohnten Cash-Repertoire tingelt. Aaarrrgh!

Das war wohl eher Selbstparodie als Selbstironie – tiefer konnte Johnny Cash nicht mehr fallen, findet jedenfalls seine Tochter Rosanne, die die große Verzweiflung hinter der komödiantischen Maske spürt. Der Bruder sieht’s gelassener. „Klar war das albern und nicht gerade seine beste kreative Entscheidung“, sagt John Carter Cash lachend. „Vielleicht machst du so was irgendwann einfach mal, wenn du so lange dabei bist.“

Das Video zu diesem Song erinnert jedenfalls an den ähnlich traurigen Kamera-Auftritt von Marvin Gaye für „Sexual Healing“, wenngleich der Song ohne Bilder natürlich viel besser ist. Cash besteht schließlich in einem hellen Moment darauf, dass Restbestände der Single eingestampft werden. Doch da hat sie immerhin schon fast die Top 40 geschafft. So trägt „The Chicken In Black“ – gewollt oder nicht – gewiss dazu bei, dass sich die Atmosphäre zwischen Columbia und Cash weiter verschlechtert. Doch erst im Juni 1986 fällt für ihn der Vorhang bei dem Label, das mit Johnny Cash seit 1958 so manche Million gemacht hat. Wenn nicht gleich „das ganze verdammte Haus“ gebaut, wie ein Newcomer namens Dwight Yoakam damals erzürnt protestiert. Selbst für Johnny Cash reicht es halt nicht mehr, einfach Johnny Cash zu sein.

Muss nun die große Erzählung vom Man in Black nach der Veröffentlichung von „Out Among The Stars“ neu geschrieben werden? Wohl nicht. Allerdings könnte das Album die persönliche Cash-Rezeption einer Generation korrigieren, die den Mann mit dem Video zu „Hurt“ erst in dunkelsten Tagen kennengelernt hat und „A Boy Named Sue“ womöglich bis heute für eine britische Gender-Komödie aus den Achtzigern hält. „Ja“, nickt John Carter Cash, „sein Humor ist oft übersehen worden. Viele Leute fühlen sich von dieser Düsternis um ihn angezogen. Aber mein Vater war eben auch ein bunter Clown, diese Seite hat sogar einen großen Teil seines Wesens ausgemacht. Vielleicht kann die Platte sie nun wieder ins Licht rücken.“

In seinen Liner Notes schreibt John Carter Cash gar, die frühen Achtziger seien für den Vater „eine Blütezeit“ seines Lebens gewesen, vergleichbar mit den Anfängen bei Sun, der Zeit um die Gefängnis-Platten, der Renaissance mit Rick Rubin. Aber das sei einem Sohn nachgesehen, der seinen Dad zumal aus unbeschwerteren Post-Betty-Ford-Tagen einfach als „meinen besten Freund“ in Erinnerung behalten möchte. Realistischer ist die Einschätzung von Steve Berkowitz, der diese Zeit für Cash unter dem Stichwort „Veränderungen“ subsummiert. „Nashville veränderte sich, das Radio veränderte sich, er selbst entdeckte neue Songwriter wie Springsteen für sich.“ Cash machte einfach weiter, mal unerschrocken, mal verunsichert, aber „nicht immer das Ziel im Blick“, wie Berkowitz glaubt.

Weitere Veröffentlichungen seien erst mal nicht geplant, fügt er noch hinzu, wenngleich John Carter Cash sich vorstellen könnte, dass die alten Aufnahmen aus der Johnny-Cash-TV-Show irgendwann erscheinen werden – „all diese Songs, die sie noch aus Spaß aufgenommen haben, wenn die Show schon längst gelaufen war“. Aber, fügt er gleich an, „natürlich muss es sich richtig anfühlen. Wir wollen nichts nur mal so veröffentlichen. Mein Vater hatte immer hohe moralische Ansprüche für seine Entscheidungen. Und wenn wir heute Entscheidungen treffen, dann tun wir das so, als ob er immer noch mit uns im selben Zimmer wäre.“

JOHNNY CASH

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FAMILY BUSINESS

Rosanne Cash, 58, hat sich für ihr neues Album „The River And The Thread“, einer Ode an den amerikanischen Süden, von den Restaurationsarbeiten am Geburtshaus ihres Vaters Johnny in Dyess, Arkansas inspireren lassen. Schon das Cover-Album, „The List“ von 2009, stand in der Familientradition, folgte dem von Johnny Cash aufgestellten Americana-Kanon.

Lange hatten Sie sich von allen Projekten um Ihren Vater distanziert. Jetzt liefert er schon zum zweiten Mal die Inspiration für ein Album. Bittere Ironie?

Da ist was dran. Aber es waren vor allem die Reisen durch den Süden, die das Album inspirierten. Auch eine Freundin in Alabama (die Designerin Natalie Chanin – Anm. d. Red.), die mir das Nähen zeigte und sagte: „Du musst lernen, den Faden zu lieben!“ Da kam was in Gang. Als wir öfter dort waren, sagte John (Leventhal, ihr Mann, Co-Autor, Produzent – Red.) dann: „Jetzt ist’s aber mal Zeit für den Highway 61!“ Da kamen über zwei Jahre viele Eindrücke zusammen, ich hab den Süden quasi noch mal aufgesaugt.

Apropos: Ihr jüngster Sohn Jakob singt in dem Song „Modern Blue“ mit. Denken Sie da: „Toll, der Faden scheint nicht zu reißen!“, oder eher: „Oweh, als Musiker muss er gleich zwei Cash-Generationen schultern „?

Beides. Sein Vater ist ja auch noch ein toller Musiker. Und meine Tochter Chelsea Crowell muss als Songschreiberin schließlich auch da durch. Aber das ist wie mit Generationen von Ärzten – da steckt einfach was in deiner DNA.

Hat „The List“ zufälligen Interessenten einen falschen Eindruck von Rosanne Cash vermittelt?

Bis zu einem gewissen Grad, ja. Nicht völlig falsch, aber doch den, dass ich nur das sein kann. Der Erfolg hat mich schon erschüttert, weil ich dachte: „Hey, ich bin doch eine Songschreiberin!“ Aber ich konnte auch wieder eine Verbindung zu diesen alten Songs herstellen. Zudem war es nach meiner OP gut, dass ich mich erstmal nur aufs Singen konzentrieren musste.

Könnte es eine Fortsetzung geben?

Könnte es. Aber nicht in nächster Zeit.

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