Lodernde Hoffnung
Bei den London Riots zerstörte ein Brand Millionen von Platten und CDs - und ruinierte viele Indie-Labels. Angeblich. Wie geht es ihnen heute?
Als Peter Thompson, General Manager der Label-Gruppe PIAS, am Morgen des 9. August 2011 sein Handy anschaltete, staunte er: Gut 200 neue Nachrichten waren im Speicher. Thompson war im Familienurlaub und hatte nicht mitbekommen, was sich in der Nacht zuvor in London abgespielt hatte: Ein großes Sony-Warenlager war im Zuge der Straßenschlachten von einer brandschatzenden Bande angezündet worden und abgebrannt – und mit ihm unter anderem etwa 3,5 Millionen Schallplatten, CDs und DVDs von Indie-Labels wie Beggars Banquet, Domino und 4AD, allesamt unter dem Schirm der PIAS Group. Ein Desaster.
In London folgten hektische Tage. Thompson und sein Team mussten überall in Großbritannien verfügbare Kapazitäten ausmachen und Notfallpläne schmieden. Presswerke arbeiteten in 24-Stunden-Schichten, um den Nachschub – zum Beispiel für Adeles damals noch neues zweites Album – zu sichern. „Wir hatten nur drei Tage Zeit, dann hätten die Läden nichts mehr gehabt“, erinnert sich Thompson. Weil Sony – bis dahin für den Vertrieb zuständig – zehn Tage brauchte, um ein temporäres Lager einzurichten, wechselte PIAS den Anbieter. Seither werden die Tonträger von Proper Music vertrieben.
Die Anstrengungen waren erfolgreich: Größere Umsatzeinbußen habe es nicht gegeben. „Es war der bes-te Moment für einen Brand“, witzelt Thompson. „Im August wird wenig veröffentlicht und verkauft. Wir sind noch mal davongekommen.“
Durch die Berichterstattung bekam man einen anderen Eindruck. Es schien, als gerate die britische Independent-Musikszene durch das Feuer in schwere Schieflage. Labels veröffentlichten dringliche Sendschreiben, jetzt möglichst viel digital einzukaufen, Menschen aus der ganzen Welt spendeten im Rahmen der Initiative „Love Label“ Geld. Die Rede war vom drohenden Bankrott kleiner und kleinster Firmen. Eine Welle der Solidarität ging durch die Branche. „Ich habe Anrufe von Konkurrenten bekommen, die Hilfe anboten“, sagt Thompson. „Online-Anbieter haben uns mit Kampagnen unterstützt. Das hat viele Labels gerettet.“
Folgenlos blieb das Feuer in Enfield trotzdem nicht. „Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen“, sagt Alison Wenham, Chefin von AIM, der Vereinigung britischer Independent-Labels. „Wir werden immer noch von Labels um Hilfe gebeten, denen nun langsam die Luft ausgeht.“ Denn die Versicherungen haben bis heute, ein gutes halbes Jahr nach der Katastrophe, nur etwa die Hälfte des Schadens reguliert. AIM hat gemeinsam mit PIAS einen 350.000 Pfund großen Hilfsfonds aufgelegt. Bislang haben laut Alison Wenham ein Dutzend Firmen davon Gebrauch gemacht.
Zum Beispiel Stolen Records. Deren Büros liegen in Tottenham, wo die Riots begannen. Labelchefin Merida Sussex erinnert sich an kriegsähnliche Zustände: Das Postamt um die Ecke brannte am ersten Tag nieder, sie selbst flüchtete vor galoppierenden Pferden und in die Menge geschossenen Feuerwerkskörpern. Beim Enfield-Feuer verlor die Firma praktisch alle Tonträger. Man biss die Zähne zusammen: „Es hat unseren Glauben und unseren Willen erneuert“, sagt sie im Rückblick, „wir haben keinen Moment daran gedacht, aufzuhören.“ Spenden, der PIAS-Fonds sowie ein Notzuschuss der Stadt London sicherten das Überleben des kleinen Labels.
Schmerzhaft sind auch die Verluste im Back-Katalog. Restauflagen älterer Tonträger wurden vielfach nicht neu gepresst: Natürlich bekommt man noch die früheren Platten von Kitty, Daisy & Lewis auf Vinyl – die von Grand National aber nicht mehr. Zudem sind viele Labels auf den Kosten abgesagter oder verschobener Kampagnen sitzengeblieben. „Versicherungen sind nicht der Weihnachtsmann“, sagt Wenham, „der Warenwert wird wohl mehr oder minder erstattet, aber den Verdienstausfall der Labels und Plattenläden bleibt an den Akteuren hängen.“
Thompson bestätigt das, sieht aber – neben der Loyalität der Branche – noch einen zweiten positiven Effekt. Viele Medienvertreter, die eben noch das Ende der Musikindustrie verkündet hatten, malten angesichts der dampfenden Ruinen das Bild einer rein digitalen Musikwelt – und schienen darüber entsetzt zu sein. „Das war eine Genugtuung“, sagt Thompson. „Endlich wurde jedem klar, dass das Leben durch CDs und LPs einfach viel schöner wird.“