Literarisches Eldorado einer Epoche
Nach Rückschlägen und Krankheit kehrt JÖRG SCHRÖDER, der bedeutende Gegenkultur- Verleger der 70er Jahre, mit der „Großen MÄRZ-Kassette“ zurück
Gute Literatur muss abgeschafft werden, das heißt, was wir immer so unter guter Literatur verstanden haben“, erklärte Jörg Schröder ’69. Im selben „Interview mit einem Verleger“ (in „MÄRZ Texte 1“) bekennt er sich zu den jungen amerikanischen Autoren, bei denen zwar „eine ätzende Kritik an ihrer Gesellschaft da ist, aber sie gebärdet sich eben nicht so theoretisch, sondern sie verfährt in ihrer Kritik subjektiv.“ Diese beiden Statements sind die Grundpfeiler für Schröders Programm. Während Siegfried Unseld bei Suhrkamp die Kritische Theorie verlegte, das theoriebleiche Knochengerüst der deutschen Linken, lieferte Jörg Schröder im Wortsinne das Fleisch – nicht zuletzt Pornographie! Zunächst beim Melzer Verlag und dann ab 1969, nach seinem spektakulären Abgang – nur eine Etage tiefer! – im eigenen Laden: MÄRZ (bzw. dessen Imprint Olympia Press).
Aber eben nicht nur das. Zwischen den notorischen postgelben Deckeln mit roten und schwarzen Lettern, übrigens ein Geniestreich Schröders in Sachen Corporate Identity, passte vieles, wenn es nur Underground, Gegenkultur, Avantgarde, einfach anders war als der zeitgenössische Mainstream. Anders im Sinne von Leslie A. Fiedlers berühmtem „Playboy“-Aufsatz „Cross the Border, Qose the Gap“, in dem er eine neue antiakademische, exaltierte, entgrenzte, nicht zuletzt Trivialgenres einbeziehende Literatur fordert. Fiedler nennt sie „postmodern“, und das war sie auch, aber eben nicht im Sinne der apolitischen, ästhetizistischen Gelehrten-Postmoderne der 80er Jahre, etwa eines Umberto Eco.
Der Pilotband „MÄRZ Texte 1“ und zuvor schon „Acid“, die von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla besorgte, maßgebliche Kompilation der US-Counter-Culture jener Jahre, gaben die Richtung an. Schröder veröffentlichte hier, bisweilen sogar erstmals auf deutsch, die mittlerweile zu Klassikern avancierten Autoren der Beat- und Post-Beat-Ära – Donald Barthelme, Ted Berrigan, Joe Brainard, Charles Bukowski, William S. Burroughs, Marshall McLuhan, natürlich auch Fiedler, Frank O‘ Hara, J. G. Ballard, Mary Beach, Leroi Jones etc. – und nicht zuletzt ihre deutschen Adepten, allen voran Brinkmann und nur wenig später auch Wondratschek, mithin die erste Generation dessen, was man dann bald PopLiteratur genannt hat Ich frage Jörg Schröder, wo die Unterschiede liegen zwischen dieser und der nunmehr dritten Generation, den Krachte, Stuckrad-Barres, Leberts. „In der Qualität das ist der Unterschied.“
Aber trotz der unbestreitbaren Qualität der MÄRZ-Publikationen konnte der Verlag sich nicht dauerhaft durchsetzen, er hat seine Zeit entscheidend mitgeprägt und scheint mit ihr untergegangen zu sein. Gibt es da einen Zusammenhang zur konservativen Wende – schon in den Siebzigern mit der Regierung Schmidt, aber dann vor allem in den Jahren des Kohl-Regimes?
„Nein, überhaupt nicht. Der erste MÄRZ-Verlag ging nach vier Jahren Bankrott, weil der Verlag und ich damals Opfer eines Frankfurter Spekulanten wurden. Der zweite MÄRZ-Verlag im Vertrieb von Zweitausendeins feierte seine größten Erfolge auf dem Höhepunkt der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt, mit 300 000 verkauften Exemplaren von Ken Keseys ,Einer flog über das Kuckucksnest‘, 100 000 von Vespers ,Reise‘, 80 000 von Fee Zschockes ,Er oder ich‘, noch mal 150 000 von Amendts ,SexKultergut
Im August: Jörg Schröders Bücher und eine Retrospektive von Monty Python
front‘ und vielen anderen Titeln mit zwischen 15 000 bis 30 000 verkauften Exemplaren. Das ging so lange gut, bis Lutz Reinecke alias Kroth von Zweitausendeins auf den sektiererischen Weltuntergangstrip kam und zusätzlich anfing, an die kleinen grünen Männchen zu glauben. Da war für mich Schluss, denn das Leben ist zu kurz, um es mit intelligenten Dummköpfen zu verschwenden. Die dritte Phase des MÄRZ-Verlags endete tatsächlich auf dem Höhepunkt der Regierungszeit des Spendenkanzlers Helmut Kohl Da ging es dem Verlag ökonomisch nicht so gut, aber das wäre zu überbrücken gewesen. Nicht gebypasst werden konnten zu diesem Zeitpunkt meine vielfach verengten Herzkranzgefaße – die Medizin war noch nicht so weit -, daher mussten wir 1987 den Laden wegen anhaltender Schwäche des Verlegers dicht machen. 1990, nach diversen Operationen, fingen wir dann zum vierten Mal an: mit dem MÄRZ-Desktop Verlag und ,Schröder erzählt‘. Davon sind inzwischen 50 Folgen erschienen. Die bisher befriedigendste Arbeit als Verleger und Schriftsteller.“
Vor kurzem ist nun im jungen Area Verlag neben einem recht splendiden Reprint von „Acid“ (14,95 Euro) „Die große MÄRZ-Kassette 1 * (49,95 Euro) erschienen, die auf 13 Bänden verteilt 22 wesentliche Titel aus dem immerhin gut 280 Originalausgaben starken Fundus wieder veröffentlicht. Man erinnert sich jetzt an den Verlag als Exponenten, als Symptom einer Epoche. Schröder indessen insistiert auf der Aktualität der Bücher: „MÄRZ ist mehr als Marx und Coca Cola, sein Spektrum ist breiter, wie die Kassette zeigt. Von postmoderner Prosa, Lyrik, Comics geht es zu emanzipativen Texten zur Sexualität. Es gibt einen Erotik-Reader, aber auch Beziehungs- und Kinderbücher. In der Kassette stehen Werke aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts wie die Sozialreportagen von Upton Sinclair, aus dem 19. Jahrhundert der große operative Kommune-Roman von Jules Valles, dessen autobiografische Trilogie Jacques Vingtras‘ zur Weltliteratur gehört. Bei einer solchen Bandbreite kann man nicht mehr von Retro-Pop reden. Die MÄRZ-Kassette ist also symptomatisch wie jedes darin enthaltene Buch. Das MÄRZ-Konzept ist auf einen Nenner gebracht: Vielfalt, Spaß und Emanzipation. Vielfalt und Spaß sind immer aktuell, Emanzipation gegenwärtig weniger – sollte sie aber sein! Und deshalb kommen diese Titel jetzt genau zur richtigen Zeit wieder neu heraus.“
Schröder hat natürlich Recht, und die Neuauflage einiger Bücher war wirklich an der Zeit Neben dem schon erwähnten ersten Buch im typischen Outfit, „MÄRZ Texte 1“, ist nun auch der lange vergriffene PopReader „Trivialmythen“ wieder lieferbar, zu dem Brinkmann eine lange Fotostrecke von seinen unmittelbaren Lebensverhältnissen beisteuert, die so gut wie nicht auslässt, nicht mal die Scham seiner Frau Maleen. Joe Brainards abstruses, witziges und das Genre drogistisch transzendierendes Comic-Buch ,4984″ ist dabei, die Songsammlung von Leonard Cohen, „Blumen für Hitler“. Zum Preis eines guten Abendessens tut sich hier ein literarisches Eldorado auf, das man nicht so schnell lesend durchquert hat.
Print-POD von Frank Schäfer „Monser oder Homunculus“ (C. H. Beck, 19,90 Euro)von Victor D. Lavalle erzählt von einem 150 Kilo schweren schwarzen Dropout wider Willen. Anthony James ist der Typus Mann, „der sich über volle U-Bahn-Waggons etwas zu sehr freut“, weil er seit Jahren keine Frau mehr angefasst hat. Seine Mutter wird von Schüben einer pikanten Schizophrenie heimgesucht, die sie in eine libidinöse, ihre Familie vergessende Schlampe verwandelt. Und partielle Geistesverwirrtheit hat sie auch ihm vererbt. Erfliegt vom College, wird von der Familie wieder nach Hause geholt, aber auch hier fasst er nicht mehr richtig Fuß, schlägt am Ende sogar zu, aber ganz nebenbei und bloß aus dem Gedächtnis schreibt er eine Enzyklopädie des Splatter-Films. Da kennt er sich aus.
Lavalle erzählt aus der Ich-Perspektive dieses Teilzeit-Irren, und das soll denn wohl auch die etwas unordentliche Struktur rechtfertigen: ein paar Ungereimtheiten, unmotivierte Leerstellen und lose baumelnde Handlungsfäden. Tut es aber nicht, dafür muss der Autor schon selber Sorge tragen. Eher schon motiviert es die sanft surrealistische Schlagseite des Romans. Die Welt, wie sie sich Anthony darstellt, ist eben fast so absurd und blödsinnig wie ein mieser B-Movie. Aber beide können auch eine Menge Spaß machen mit der entsprechenden ironischen Distanz. Und so hat er, auch wenn am Ende die Familie zerbricht, die Mutter einmal mehr verschwindet, Großmutter und Schwester ihn rausschmeißen, seine Lektion gelernt, mit der es sich leben lässt – und auf die so ein Entwicklungs- und Schelmenroman nun mal hinausläuft: „Es gibt in der Tat nur zwei Möglichkeiten, auf das Außergewöhnliche zu reagieren. Die erste besteht darin, so lange auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen zu pochen, bis der Spaß vorbei ist; die zweite besteht darin, den Spaß einfach zu genießen.“ Und der dicke Anthony, scheint’s, will es lieber nicht so genau wissen… 3,0 „Lego-Steine. Eine Kindheit um 1968“ (Schöffling & Co, 17,90Euro) von Burkhard Spinnen ist leider viel zu kurz, als dass man nach der Lektüre sagen könnte, ob diese nun zeittypisch war oder nicht. In kleinen wohlformulierten, nur gelegentlich vielleicht etwas steifhosigen und zu schnell ins Räsonnement springenden Erzählsplittern setzt Spinnen – als spielte er noch einmal mit Legos – wenigstens Umrisse seiner Adoleszenz zusammen. Ein bisschen Sentiment ist da selbstredend mit im Spiel, aber Spinnen suhlt sich auch nicht drin. Es sind vor allem die scheinbar nichtigen Kleinstwahrheiten, die das Buch so berückend machen, etwa eine Schlauchbootfahrt, bei der sich der Junge einen Sonnenbrand holt: „Die empfindlichen Innenseiten der Oberarme, mit denen ich beim Paddeln über die Nähte des Bootes strich, wurden wund.“ Genauso war’s! Und auch die vielen kleinen Erfahrungen, die man nicht mit dem Autor teilt, liest man mit Interesse – vielleicht gerade die, weil sie einem Perspektiven auf die Wirklichkeit, einen Umgang mit der Welt offenbaren, die zeigen, wie es also auch hätte laufen können. 4,0 „Howl/Geheul“ (Rogner & Bernhard bei 2001, 15,90 Euro) von Allen Ginsberg, ein wohlfeiler Nachdruck der Prachtausgabe in der Edition Michael Kellner, faksimiliert diesen Schlüsseltext der Beats, zeigt seine Genese, die verschiedenen Varianten und Überarbeitungsstufen, bringt Fotos und Briefe aus dem literarischen Umfeld des Autors, seine einschlägigen Selbstäußerungen, etwa den wunderbaren, mit Eigenlob nicht sparenden Stimmungsbericht von der legendären ersten Lesung in der Six Gallery am 7. Oktober 1955, und nicht zuletzt einen von Ginsberg noch selbst besorgten, umfänglichen Kommentar. Man muss sich auf diesen philologischen Spaß erst mal einlassen, aber die Lektüre lohnt sich in doppelter Hinsicht: Man lernt zum einen die ingeniöse Rhapsodie in ihrer ganzen artifiziellen Vielschichtigkeit kennen und also noch mehr schätzen, zum anderen bekommt man hier gleich noch den historischen, ästhetischen, biografischen Humus mitgeliefert, aus dem das Gedicht entstanden ist. Eine Schippe Leben direkt aus dem inner dreh der Beat-Szene Mitte der 50er Jahre. Man weiß dann auch, dass Ginsberg sich vor allem deshalb so vehement ins Zeug legte, damit „ein sauberes angelsächsisches Schimpfwort mit vier Buchstaben sich für immer in Schulanthologien wiederfinden“ lasse. 5,0 „Ärger mit der Heizung“ (Suhrkamp, 8 Euro) von Tuuve Aro enthält für meinen Geschmack ein paar lesbische Makrobiotikerinnen zuviel. Aber immerhin, man kann in diesen Kurz- bis Kürzestgeschichten lesen, dass die moderne finnische Frauenwelt an der gleichen Unbehaustheit leidet wie hier zu Lande nur je eine Judith Hermann, an diesem fatalen Stimmungs-Mix aus Einsamkeit, Frustration, Langeweile und überdruss. Aber Aro macht gelegentlich schon mal einen Witz, pinselt einen feinen Silberstreif ans Ende ihrer Miniaturen oder lässt sie, wenn gar nichts mehr hilft, in die Groteske wegkippen, was manchmal etwas aufgesetzt wirkt, manchmal aber auch einen ganz hübschen Effekt macht. Das ist alles etwas leichtfüßiger, bescheidener, weniger kunstklotzend als beim deutschen schreibenden Fräuleinwunder. Und im hohen Norden steht zudem immer Hafergrütze auf dem Herd, wenn der Hunger kommt. 2,5