Liebe und Tod: Heute vor 38 Jahren verstarb Ian Curtis
Im Alter von 24 Jahren beging Ian Curtis Selbstmord. Wir erinnern an den Joy-Division-Sänger mit einem Setbericht von 2007. – Damals entstand der Spielfilm "Control".
Joy Division: Liebe, Tod & Gratis-Kippen
Star-Fotograf Anton Corbijn war geradezu prädestiniert, um die Geschichte von Ian Curtis und seiner Band Joy Division zu verfilmen. Wir waren dabei, als „Control“ gedreht wurde.
Archiv-Artikel ROLLING STONE, Heft 08/2007
Heute hängen die Wolken etwas dichter über den Köpfen als sonst. Fett und schwarz, als wollten sie die Leute absichtlich deprimieren, aus den Häusern auf die Straße locken und dann schön vollregnen. Die schwindlig hohen, staubgrauen Wohnblöcke in Lenton, dem Problem-Stadtteil von Nottingham, ziehen den Regen ja an. Ein schmerzhaft kalter Morgen im August 2006, gefährlich windstill und kontrastreich. Ein exzellenter Tag zum Sterben. Ein exzellenter Tag, um einen Anton-Corbijn-Film zu drehen.
Corbijn, heute 52, kann ja auch dann graue Wolken fotografieren, wenn gar keine da sind. Die berühmten Bilder von U2, Depeche Mode, Nick Cave, Captain Beefheart oder neulich Arcade Fire, auch die Videos haben alle dieses spezielle, sandige Korn, das Gesichter wie Schotterfelder aussehen lässt, das Zigarettenrauch, Haare und Himmel ineinander verfilzt und noch im grellen Sonnenlicht das Gewitter findet. Anton Corbijn mag es gar nicht, wenn er irgendwo liest, er sei ein Rock-Fotograf (weil er auch andere Sachen fotografiert hat), aber im Prinzip hat er für die Rockmusik in den 80er Jahren ein neues Schwarzweiß erfunden. Eine Road-Movie-Farbe, so wahnsinnig typisch, dass sie mittlerweile nur noch als Klischee taugt. Aber wenn ein Star wie Anton Corbijn nach Erreichen des Retrospektiven-Alters noch etwas Neues probiert und den ersten Kinofilm seines Lebens dreht und co-produziert – dann ist ein strikt bedeckter Tag wie dieser gut dafür. Wenn die Wolken von alleine kommen, muss er sich vielleicht nicht ganz so anstrengen.Der kleinste Fehler kann alles verderben
Ist ein Biopic über Joy Division, die erhabenste Band des britischen Post-Punk, und das verwunschene Leben ihres Sängers Ian Curtis als Spielfilm-Debüt besonders schwer? Sicher, weil der kleinste Fehler alles verderben kann, wenn man mit einem Mythos ringt. Und auch wieder nicht, denn Anton Corbijn ist sowie‘ so der Einzige, der einen solchen Film jemals machen könnte. Weil er damals auch den echten Joy Division ein bisschen was von seinem Schwarzweiß geschenkt hat. Und weil er das Bild fotografiert hatte, das der „New Musical Express“ im Mai 1980 auf den Titel nahm, nachdem sich Ian Curtis in seiner Küche in Macclesfield erhängt hatte. „Es wird ein Film. Es wird kein Rock-Film“, sagt Anton Corbijn. „Es hat nichts mit dem Doors-Film oder solchen Sachen zu tun. Es ist ganz anders.“
Unter den Wolken am Abbey-Court-BIock haben sie alte Ford Cortinas auf den Parkplatz gestellt und den Kindern kreischfarbene Pullunder angezogen. Die Szene spielt im Jahr 1973, als Ian Curtis 17 war und es in Macclesfield – eine halbe Zugstunde vor Manchester – wohl so aussah wie heute in Nottingham-Lenton: Der junge Curtis läuft mit seinen Schallplatten nach Hause, kickt geistesabwesend den fußballspielenden Nachbarskindern den Ball nicht zurück, sie sagen .Arschloch“ zu ihm. Die Titelsequenz von „Control“.
Der Regisseur muss bei seinem ersten Low-Budget-Film – drei Millionen Pfund Budget, hat er in einem TV-Interview gesagt – alles können. Als die Kinder nicht so kicken, wie er will, greift Anton Corbijn im Anorak kurz als Fußballtrainer ein. Der Hauptdarsteller wartet derweil am Kopf des Fußwegs: Sam Riley, 26, mit Schlaghose und einer roten Windjacke, die später im schwarzweißen Film ganz besonders grau aussehen wird. Alle betonen, dass Riley, ungelernter Schauspieler und Spielfilm-Debütant wie Corbijn, nicht wegen seines Aussehens gecastet wurde, aber die Ähnlichkeit mit Ian Curtis ist unglaublich. Dass er wie viele hübsche britische Bürschchen das Talent hat, je nach Augenaufschlag bemutternswert niedlich oder draufgängerisch hart auszusehen, qualifiziert ihn zusätzlich dazu, morgens einen Schüler zu spielen und nachmittags, in der Hotelszene mit Alexandra Maria Lara, den 23-jährigen, schwer beladenen Dichter.
Der Mythos Joy Division
Kommando, noch mal laufen, starren, Fußball, „Ian, du Arschloch!“ Im selben Moment wird, ganz weit oben im Wohnblock gegenüber, ein Fenster aufgerissen und eine Stereoanlage aufgedreht: Es ist „Warsaw“ von Joy Division. Kaum überraschend, dass die Leute im Viertel mitbekommen haben, was hier gefilmt wird. Trotzdem starren die Crew-Mitglieder mit hell erleuchteten Gesichtern hoch in den Regenhimmel, als sei das, was sie da hören, ein Zeichen. Als würde jemand aus den schwarzen Wolken herab dem Projekt seinen Segen geben.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Geschichte verfilmt wird. „24 Hour Party People“ von 2002, Michael Winterbottoms Hommage an die Popszene von Manchester, hat einen großen, eher grobschlächtig inszenierten Joy Division-Anteil. Die Szene, in der fast flapsig der Suizid gezeigt wird, soll der Witwe Deborah Curtis besonders missfallen haben. Das Corbijn-Projekt unterstützt sie nun gut sichtbar: Für das Drehbuch gab sie ihren 1995 veröffentlichten Erinnerungsband „Touching From A Distance“ frei und setzte sich – allem gewohnten Scheuverhalten zum Trotz – im Januar 2005 bei der Film-Pressekonferenz im Londoner Edwardian Hotel mit an den Tisch.
Sam Riley, der dem toten Ehemann so ähnlich sieht, traf Deborah Curtis zum ersten Mal, als er schon mitten in den Dreharbeiten steckte. „Sie war nett“, sagt er knapp und höflich. Weil Curtis Kettenraucher war und in fast jeder Szene eine Zigarette hält, genießt Riley am Set uneingeschränkten Nachschub, Marlboros in Rothmans-Packungen, und Rauchpausen hat er gefährliche Liebschaft: Sam Riley und Alexandra Maria Lara als Ian Curtis und Annik Honore. „Sie liebte die Musik. Sie war kein Groupie“, findet Lara. „Natalie, die Tochter, war toll. Mit ihr kann man super saufen. Sie hat viel von ihrem Papa geerbt.“
Sam Riley war besessen von Joy Division
2001 war er auch beim Casting für den „24 Hour Party People“-Film. Riley, der damals ein abgebranntes Musiker-und Gelegenheits-TV-Darsteller-Leben führte und den ersten Spliff um zwölf zum Frühstück rauchte, wollte für die Rolle des Joy Division-Drummers Stephen Morris vorsprechen. Ausgerechnet am Abend vorher geriet er in eine Schlägerei, sah am nächsten Tag mit verquollenem Auge dem The Fall-Sänger Mark E. Smith viel ähnlicher und bekam den Job. „Ich war so stolz, dass ich sieben Freunde zur Premiere mitnahm.“ Kein schöner Abend. Erst im Kino merkte Riley, dass alle seine Szenen im fertigen Film fehlten.
Vom British-Punk-Boom der letzten Jahre hatte seine in Leeds gegründete Band 10.000 Things nichts. Ihr erstes Album kriegte im „New Musical Express“ einen von zehn Punkten – „Mariah Carey war in derselben Ausgabe und bekam zwei!“, was Riley allerdings als Revanche für den Abend interpretiert, an dem einer seiner Gruppenkollegen auf der Party eines „NME“-Journalisten Feuer gelegt hatte. Lustiges London! Die Plattenfirma Polydor entließ die 10.000 Things gleich wieder. Und obwohl es wirklich zum Irrewerden cool aussieht, wie Riley im Ian-Curtis-Oliv-Trenchcoat mit rotem Stern – die nächste Szene spielt 1980 – die zehnte Zigarette raucht und mit heiserer Melodie von seinen Eulenspiegeleien erzählt: Der Eindruck lässt einen nicht los, dass Sam Riley an diesem Punkt seines Lebens extrem darauf angewiesen war, dass auch mal etwas klappt. Und dass er nicht einmal jetzt, eine knappe Woche vor Drehschluss, diesem Glück so ganz zu trauen scheint.Als sie die Konzertszenen drehten, wurde Sam Riley von einem der Statisten angehauen. „Ich habe Joy Division achtmal live gesehen“, meinte der Mann. „Ich empfehle dir also dringend: Sei gut!“ Riley musste immer erst kotzen, bevor er auf die Bühne konnte.
Ian Curtis ist (nach seinem Tod) einer der größten Popstars der Welt geworden
Tatsächlich wissen wir über wenige Rockmusiker der letzten 30 Jahre so viel wie über Ian Curtis. Allein schon, weil seine Ehefrau ein Buch über ihn geschrieben hat, in dem sie ihren verstorbenen Mann als empfindsamen, talentierten, von der Epilepsie geplagten Menschen, aber auch als Scheusal porträtiert. Die Band-Kollegen, die später unter dem Namen New Order den echten Welterfolg hatten, haben in Interviews immer und gern über Curtis erzählt. Ein lebenslustiger, derber Typ war er demnach, dem es viel Spaß machte, Kacke an Türklinken zu schmieren, und der neben der Ehe im letzten halben Lebensjahr eine durchgehende Affäre hatte. Wie handfest die Männerfreundschaften in Macclesfield und Manchester damals abliefen, kann man sich beim Sehen der Dokumentation „New Order Story“ von 1994 ausmalen: Da fragt der Komiker Keith Allen, wer denn das faulste Mitglied von New Order sei. „Ian Curtis“, antwortet Bassist Peter Hook. „Der macht schon seit Jahren irgendwie gar nichts mehr.“
Dass 27 Jahre nach seinem Tod trotzdem ein solches Mysterium, eine solche Aura des Zerbrechlichen und abgründig Prophetischen über dem Kopf von Ian Curtis schwebt – das ist zweifellos ein Triumph der Kunst über das Leben. Die zwei Alben und fünf Singles, die Joy Division während ihrer drei Jahre aufnahmen, sind rätselhafte, ebenso klirrkalte wie höchst intime, abstoßende und anziehende Musik, und wenn später jemand so ähnlich klang, U2, heute Interpol oder die Killers, hieß es immer: Joy Division. In den wenigen Konzertfilmen wirkt Curtis völlig entrückt, tanzt die eplileptischen Anfälle nach, die ihn später Ott auf der Bühne erwischten – der Sänger konnte nach Belieben in den Performance-Modus umschalten, sagen die Insider. Auf den letzten Fotos ist Curtis 23. Die schönste Leiche der Popgeschichte.
„Ich saß damals in Texas, starrte die Zeitschriften an und träumte von England“, sagt Orian Williams, 40, an seinem Schreibtisch im Produktionsbüro. Das „Control“-Team hat sich für drei Monate auf dem Campus der Nottinghamer Uni eingemietet, in drei Räumen mit blauen Teppichböden und alten Metallspinden. Neben Williams‘ Platz hängen an der Wand die alten Bilder, eine Bootleg-LP, das Original-„NME“-Cover zum Tod von Curtis, mit Corbijns berühmtem Foto. „Alle Gruppen, die ich liebte, hat immer Anton fotografiert!“ sprudelt Williams, äußerlich ein jugendlich pilzköpfiger Britpop-Fan, der aber so hochmotiviert und Adrenalin-satt durch die Büros und Filmrkulissen tänzelt, wie man es als blasser Europäer von einem Filmindustriellen aus Los Angeles erwartet. „Ich dachte immer: Mann, ein Typ, der solche Fotos macht, der muss doch mal einen Film drehen!“
Schwierige Verhandlungen
Als Joy Division-Fan war Williams untröstlich, als er 2001 erfuhr, dass sich schon eine andere Filmfirma die Rechte am Buch von Deborah Curtis gesichert hatte. Er diente sich als Berater an, führte die weiteren Verhandlungen mit der Witwe. Bis die urplötzlich ihre Meinung änderte, der Firma die Zusage entzog. Und Orian Williams anbot, den Film stattdessen mit ihm zu machen. Was genau vorgefallen ist, will er nicht sagen – unter dem Titel, „All The Time“ verzeichnet die Internet Movie Database jedenfalls noch im Juli 2007 ein zweites Joy Division-Projekt. (Mehrere Versuche, die gegnerischen Produzenten für diesen Artikel zu befragen, blieben erfolglos.
Die Agentur des Regisseurs Jamie Thraves teilte nur mit, er habe mit dem Film nichts mehr zu tun.) Es dauert bis zum späten Nachmittag, bis endlich der versprochene Regen fällt. Drinnen, in den gewaltigen Uni-eigenen Studiohallen, steht eine der empfindlichsten Szenen auf dem Plan, die ein Joy Division-Film haben kann und muss: wie sich das belgische Mädchen Annik Honore und der verheiratete Vater Ian Curtis ineinander verlieben. Ohne Zeugen. Alexandra Maria Lara, mit kastaniendunkler Perücke und schwarzem Rüschenoberteil, hockt Pantherinnen-artig auf der Matratze des kleinen Hotelzimmer-Sets und choreografiert schnell mit Corbijn, wie sie sich von dort aus am besten runter zu Sam Riley schlängeln kann. Der vor dem Bett auf dem Boden sitzt und im Nachttischlampen-Kegel den melodramatischsten Ian Curtis, den die Welt nicht kennt, so glaubhaft wie möglich spielen muss. „Ich habe Angst.“- „Angst wovor?“ – „Angst, mich in dich zu verlieben.“ „Scheiße!“ brüllt Riley auf Deutsch, als er seine Zeile verhaut.
Beim ersten Filmkuss mit Lara, hat Riley vorher rauchig gewispert, habe er sich ganz schön am Riemen reißen müssen, um nichts Dummes zu tun. Jetzt sehen die jungen Film-Geliebten derart gut zusammen aus, dass der Dialog über Lieblingsfilme und Lieblingsfarben auch noch die Untertöne bekommt, die er wohl haben soll. Irgendwann wirft der Tonmann alle Beobachter aus dem Studio: Die Stühle knarzen zu laut für die unsagbar leise, schmetterlingsfragile Szene.
Anton Corbijn beruft sich auf sich selbst
Genau sowas wollte Anton Corbijn in seinem Spielfilm machen. Nichts mit Rockmusik. „Nicht nur nichts mit Rockmusik“, korrigiert er, als er im Catering-Zelt seinen Pudding löffelt. „Nichts mit Musik. Man wird doch sofort abgestempelt.“ Als Produzent Williams ihm damals Fan-begeistert das Ian-Curtis-Projekt antrug, lehnte Corbijn ab, freundlich und entschieden. Dann passierte etwas.
„Ich war gerade dabei, mein U2-Buch zu machen“, erzählt Corbijn. „Es war überhaupt das erste Mal, dass ich mit einem Projekt gewissermaßen auch meine eigene Entwicklung nachzeichnete. Und als ich monatelang die alten Kontaktabzüge durchgesehen hatte, bekam ich plötzlich wieder dieses Gefühl, wie es damals war, in den späten Siebzigern, nach meinem Umzug nach London. Kein Geld zu haben, auf den Bus zu warten, den Geruch, die Kälte. Ein Gefühl, keine Erkenntnis. Und da merkte ich, wie dumm es wäre, den Film nicht zu machen. Joy Division haben mein Leben verändert. Sie waren der Grund, warum ich nach England kam. Am Ende handelt der Film genau so sehr von mir wie von ihnen.“
Das oft zitierte Foto, auf dem die Bandmitglieder mit dem Rücken zur Kamera eine U-Bahn-Treppe hinunterschauen, wollte ihm damals keiner abkaufen, weil man auf Popfotos Gesichter zeigen musste. Als der „NME“ genau dieses Motiv als Titelblatt druckte – das war nicht nur die öffentliche Geburt des Fotografen Anton Corbijn, sondern gewissermaßen der Beginn einer neuen Rock’n’Roll-Ästhetik, die die 80er Jahre weit genug überdauerte, um später Leute zu nerven. Aber der Film – zwingt der ihn nicht dazu, die Kamera auf die Gesichter zu halten? Fragen über Ian Curtis zu beantworten, die keiner beantworten kann?
Geheimnis Suizid
„Wenn jemand Selbstmord begeht, weiß man nie genau, warum“, sagt Corbijn. „Ich glaube, die starken Stimmungsschwankungen waren Schuld an Ians Tod. Er war hin- und hergerissen zwischen der Familie und der attraktiven Freundin, zwischen den Möglichkeiten, der intellektuelle Poet zu bleiben oder berühmt zu werden. Das alles hätte sich vielleicht lösen lassen, wenn er nicht noch die Medikamente genommen und dazu Alkohol getrunken hätte. Das lassen wir offen.“ Er zieht die Kapuze hoch, denn im Studio wartet die Band. „Es war immer klar“, sagt Anton Corbijn, „dass dies ein sehr bewölkter Film werden würde.“
Wie alles, was im Entferntesten mit „Control“ zu tun hat, sehen auch die kleinen Joy Division zum Anbeißen gut aus. Als spitzstiefelige Metamorphose zwischen Teddyboys und Neonazis gestylt, zeigen sie aut dem Laptop stolz die Szenenbilder vor – außer Riley mussten alle ihr Instrument extra lernen, aber die Konzertvorstellung war am Ende so toll, dass die Produzenten entschieden haben, die von den Schauspielern gespielte Musik im Film zu verwenden.
Einen Fan haben sie auch schon, niemand Geringeren als die derzeit otfiziell schönste und aussichtsreichste Jung-Schauspielerin Deutschlands („Sie kommt aus Rumänien!“ belehrt die Make-up-Frau absolut korrekt). „Noise Boys“ nennt Alexandra Maria Lara ihre Film-Band zärtlich. Ganz ehrlich, als sie im Januar 2006 Joy Division zum ersten Mal auf CD gehört habe, sei der Funke nicht gleich übergesprungen. „Mir war das ein bisschen zu traurig und zu schwer“, sagt Lara bei der Drehtagsschluss-Zigarette. Das änderte sich, als die Proben losgingen. „Da hat jeden Tag die Band gespielt, und da hat’s mich dann auch gepackt.“
Alexandra Maria Laras schwerster Job
Dass sie selbst so unbelastet war von der großen Joy Division-Erzählung, dass sie das reale Gewicht des Films nur an den aufgerissenen Augen der Freunde ablesen konnte, denen sie von dem Job erzählte, sollte sich als unglaublicher Vorteil herausstellen. Corbijn kannte sie von einer gemeinsamen Fotosession, er fand sie super in „Der Untergang“. Die Dreharbeiten lagen nicht so günstig, weil Lara zeitgleich in London mit Neve Campbell „I Really Hate My Job“ machte und ständig im Pendlerzug nach Nottingham saß. Und dann war da die Rolle. Die schwerste des ganzen Films. Alexandra Maria Lara wurde zur vielleicht ersten Person, die man verteufelte, verspottete. Annik Honore verteidigte sie, kämpfte für sie. Allein dadurch, wie sie Annik spielte und ihr Gesicht für sie hinhielt.
„Was für mich besonders schwierig war: Ich habe nur wenige, sehr konzentrierte Momente zur Verfügung, um etwas über diese Frau zu erzählen“, sagt Lara. „Und natürlich sehe ich das irgendwie als meine Verantwortung, etwas über sie zu erzählen. Etwas, das zumindest zeigt, wie falsch es ist, sie in Kategorien wie gut und böse zu beurteilen. Ich bin mir sicher, dass sie kein Groupie war. Sie hat die Musik sehr geliebt und tut das sicher immer noch.“ Alexandra Maria Lara regte sogar eine kleine Änderung im Drehbuch an, die Corbijn gerne vornahm. Eigentlich sollte Annik nach der Liebeserklärung von Ian Curtis im Hotelzimmer schnell ausweichen und das Thema wechseln. Jetzt antwortet sie etwas Liebes, Persönliches. Die echte Annik hat ein Treffen mit Lara abgelehnt, angeblich aus Schüchternheit. Auch Deborah Curtis hat Alexandra Maria Lara nie kennengelernt.„Ich habe mir immer gewünscht, mal bei einem Projekt dabei zu sein, das cool ist. Auch wenn das ein komisches Wort ist“, sagt Lara noch glitzernd, als die Noise Boys die letzte Szene des langen Tages beendet haben und zur Abfahrt rufen, runter nach Nottingham, noch was für junge Leute unternehmen. „Ich mag die Entwicklung der Figuren, ich liebe die Musik, ich liebe Schwarzweiß, ich liebe es, mit Anton zu arbeiten. Die Klamotten, diese engen Röhrenjeans, würde ich privat ja nicht anziehen, aber auch die finde ich toll. Alles, was ich hier sehe, begeistert mich.“
Ein Jahr später, Gegenwart
Im weißen, schwarzgestreiften Pullöverchen sitzt Alexandra Maria Lara im Foyer des Berliner Kempinski, und man glaubt, ihr die Begeisterung von Nottingham noch anzusehen. Oder schon die nächste. Im Mai 2007 ist „Control“ auf dem Festival in Cannes gelaufen, hat in der „Directors‘ Fortnight‘-Reihe drei Preise gewonnen, wurde von Ex-Miramax-Chef Harvey Weinstein persönlich für den US-Verleih gekauft. Die Kritiker haben den Film an sich und speziell die Leistungen der jungen Schauspieler atemlos gelobt. Und Alexandra Maria Lara hat eine „Bild‘-Titelzeile bekommen, nachdem sie in Nottingham noch kokett gemeint hatte, denen sei sie doch zu langweilig: „Darum liebe ich diesen Engländer“. Die Kussfotos mit Sam Riley, ihrem neuen Freund, waren überall. Später die ersten Pete-Doherty-Kate-Moss-Vergleiche: „Ihr Neuer sieht nach Ärger aus“. Wenn die wüssten.
„Ich nehme mal an, es hatte mit dem Sommerloch zu tun“, sagt Lara, errötet von der Erinnerung. „Auf der einen Seite hätte ich mir’s dezenter gewünscht, auf der anderen Seite freu ich mich, wenn die Leute nette Sachen schreiben, was die meisten Journalisten ja getan haben. Die Fotos wurden am Abend der Filmpremiere in Cannes gemacht, und das war so ein Wahnsinnsabend, dass ich dachte: Nein, ich mag mich jetzt nicht beherrschen und mich so oder so verhalten. Ich will den Abend einfach so genießen, wie er ist!“
Im September soll „Control“ in den ersten Ländern starten. Ein Film, der neben seiner großen, traurigen Geschichte auch davon erzählt, wie die Bekanntschaft mit Ian Curtis – tot oder lebendig – das Leben der Leute verändert hat, die diesen Film gemacht haben. Wie sich Geliebte fanden und Karrieren gerettet wurden, Texas-Träume wahr wurden und ein großer Fotograf seine Wurzeln wieder entdeckte. All das. Natürlich kommt am Ende noch Sam Riley durch die Drehtür, fragt auf Deutsch „Wie geht’s?“, und die zwei entschwinden Hand in Hand auf dem Kurfürstendamm.
Annik und Ian – das wäre vielleicht das Happy End gewesen.