Lianne La Havas – Schräg mit Dutt
Lianne La Havas gilt als die Soul-Sängerin der Stunde und kann sich vor Vorschusslorbeeren kaum retten. Die geschmeidige, aber entschlossene junge Britin ist die Antipodin zu Amy Winehouse
Für Vorschusslorbeeren wie „Pop’s Next Superstar“ und „The most striking voice since Adele“ schwankt Lianne La Havas in diesem Moment doch sehr bedenklich. Das liegt allerdings nicht am fehlenden Selbstbewusstsein, sondern an schwarzen Wedges, Plateauschuhen mit einem Absatz von nahezu zehn Zentimetern Höhe. Sie bereiten der 22-jährigen Engländerin bei ihrem Gang über den unebenen Kiesplatz linkerhand der Berliner Volksbühne gehörige Probleme. Gerade noch hat La Havas in einer Art Container-Studio eine Session für eine Nachrichtenagentur gespielt und ihre Biografie in ein paar griffigen Sätzen nachgezeichnet. Nun zieht es sie hinaus in die Mai-Sonne. Wenn nur diese Schuhe nicht wären.
Auf dem Weg zu einer Parkbank muss sich Lianne La Havas sogar reflexartig aufstützen und fragt deshalb auch gleich noch nach einer Zigarette, obwohl sie das Rauchen eigentlich aufgegeben hat. Ihre Zunge drängelt sich dabei zwischen den Zahnreihen und ihren vollen Lippen hindurch und unterstützt ein spitzbübisches Grinsen. Ihren so charakteristischen Dutt, einen voluminösen Haarknoten, hat Lianne La Havas wie meistens schräg auf dem Kopf sitzen, so dass sie bisweilen wie eine einohrige Micky Maus aussieht – und damit bereits wie ein halbe Pop-Ikone. Es ist nur ein Augenblick. In diesem aber ist Lianne La Havas weit weg von den PR-Verpflichtungen und ihren vorerst letzten, allesamt ausverkauften Konzerten auf kleineren Bühnen, die sie innerhalb von zwei Wochen durch ganz England und halb Europa bis nach Los Angeles führen.
Dort wird Stevie Wonder im Publikum sitzen und ihr im Anschluss zu ihrem Talent gratulieren. Den Produzenten Rick Rubin, in seinem Enthusiasmus für Soulstimmen durch Adele neu befeuert, und Prince hat sie auch bereits getroffen. Letzterer ließ La Havas im März gar für eine Audienz zu sich nach Minneapolis einfliegen. Bei einem Konzert in Sydney hat er seine Background-Sängerinnen ihr Soul-Melodram „Lost & Found“ singen lassen. Wen verwundert da, dass Lianne La Havas kurz noch einmal das kesse Mädchen mit griechisch-jamaikanischen Wurzeln aus dem ärmeren Süden Londons sein muss, das im Treppenhaus der Volksbühne vor sich hin jodelt und ihrem Gegenüber vergnügt die Zunge entgegenreckt? Und eben nicht diese erstaunlich kultivierte Newcomerin, deren Erfolg durch die Nennung in der vielbeachteten „Sound of 2012“-Liste der BBC und den TV-Auftritt bei „Later … with Jools Holland“ im Oktober 2011 längst eine self-fulfilling prophecy ist. Nach der mehr von Urban Music beeinflussten Emeli Sandé ist sie die nächste Enkeltochter des britischen Soul.
Lianne La Havas steht also keineswegs auf wackeligen Beinen. Wegen der Plateauschuhe könnte man sogar sagen, sie schwebe gerade durch die Anfangsphase ihrer Karriere. Das eindrucksvollste Dokument ihrer auratischen Trittfestigkeit ist dabei noch nicht einmal die selbstbewusste Solo-Performance ihres augenzwinkernden Gerontophilie-Stücks „Age“ bei Jools Holland, sondern eine der im Netz recht populären „Take Away Shows“ für die französische Musik-Plattform „La Blogothèque“. In dieser Session spaziert La Havas im Petticoat und in ärmelloser Bluse mit Peter-Pan-Kragen mit ihrer eng umgeschnallten Harmony Alden Stratotone (einer Mittelklasse-Gitarre aus den 60er-Jahren) und Mini-Verstärker durch die belebten Gassen von Montmartre und singt verdutzten Touristen und ihren französischen Fängern ihr wunderbares „No Room For Doubt“ ins Gesicht, das in der Album-Version als intime Aussprache mit dem jungen New Yorker Folk-Crooner Willy Mason angelegt ist: „We all make mistakes, we do/ I learnt from you.“ Ihre warme, leicht angerauchte Soulstimme behauptet sich dabei stolz gegen den Straßenlärm. Am Ende des Clips ist Lianne La Havas am Seitenschiff der Sacre Coeur angekommen und blickt in der Dämmerung auf die Dächer von Paris. Mon dieu!
La Havas erscheint innerhalb dieses romantischen Settings auch deshalb so sakrosant, weil sie ihr Debütalbum nicht von ungefähr „Is Your Love Big Enough?“ benannt hat. „Es ist eine Frage, die sich um Trotz, Entschlossenheit, Stolz und vor allem um Leidenschaft dreht. Ich glaube, wer davon genug in seinem Herzen trägt, kann auch sicher sein, andere Menschen lieben zu können“, sagt La Havas über den Titel. Sie ist keine Geschichtenerzählerin wie etwa Folk-Sängerin Laura Marling. Und auch den geschlechtspolitischen Impetus ihrer afroamerikanischen Vorbilder Nina Simone, Erykah Badu oder Lauryn Hill greift Lianne La Havas nicht auf, so anmaßend will sie nicht sein. Ihre Songtexte entwickelt sie aus ungefilterten Emotionen, oftmals aus einem mädchenhaften Exhibitionismus ihres Liebeslebens heraus: „You broke me and told me to truely hate myself/ Unfold me and teach me/ To be like somebody else“, singt La Havas in „Lost & Found“ mit bebendem Vibrato.
Das Ich im Gefühlschaos zwischen zwei Beziehungen und die Entwicklung vom Mädchen zur Frau sind ihre großen Themen. Nur darüber könne sie aufgrund ihrer Lebenserfahrung auf ehrliche Weise singen, sagt La Havas. Wahrscheinlich wirken deshalb auch ihre Bezüge zu schwarzem Soul eher individualistisch. Sie sind auf „Is Your Love Big Enough?“ ohnehin einem poppigen Minimalismus beigeordnet, der sich auch in den eleganten Folk- und Jazz-Nuancen einer Leslie Feist lieber geschichtsblind gibt, als geradewegs in die Retro-Falle zu tappen. Ihr Soul klingt unbekümmert und verletzlich, schwarz und weiß. Man könnte auch sagen: Neo-Neo-Soul.
Man muss die Geschichte der Lianne La Havas nicht im pathetischen Duktus eines modernen Märchens erzählen, wie es besonders hingerissene britische Journalisten tun. Als kleines Mädchen von Lauryn Hill in „Sister Act 2“ fasziniert, singt sie im Schulchor, schreibt erste, krakelige Songs und bricht mit 18 Jahren ihr Kunststudium ab, um Sängerin zu werden. Es ist ein Plan, der sich in vielen jugendlichen Biografien wegen der grausamen Erfahrungen in TV-Castings schnell wieder ausgeträumt hat. La Havas versucht es lieber über die Hintertür. Sie wird zunächst Background-Sängerin.
Lianne La Havas selbst ist nur wichtig, dass trotz der frühen Trennung der Eltern deren Leistungen bei der Förderung von Liannes musikalischer Begabung hervorgehoben werden. Von der jamaikanischen Mutter kommt die Begeisterung für afroamerikanische Soulstimmen und starke Frauenfiguren, weil sie die Tochter mit dem Soul von Jill Scott und Mary J. Blige versorgte. Ihr griechischer Vater – Steinmetz, Busfahrer und leidenschaftlicher Kleinkünstler – ermutigt Lianne zum eher intuitiven Erlernen von Klavier und Gitarre. Diesen natürlichen musikalischen Zugang hat sie sich auf „Is Your Love Big Enough?“ zum Glück erhalten.
Um das polyvalente Phänomen Lianne La Havas zu verstehen, sollte man allerdings besser noch einmal bei ihrer Frisur ansetzen. In Europa ist der Dutt in all seinen klassizistischen Variationen in den vergangenen zwei Jahren zu einem Ausweis weiblicher Hipness geworden. Bei Lianne La Havas, die mit ihrem seitlichen Haarknoten im Grunde einen historisch politisierten Afrolook bändigt, kommt dem Dutt ihrer Meinung nach ebenfalls eine emanzipatorische Komponente hinzu: „In meiner Jugend hatte ich die Locken immer tief im Gesicht hängen. Ich habe mich wohl hinter ihnen versteckt. Eines Tages habe ich mir diesen Haarknoten gemacht – plötzlich konnte ich sehen.“ Und gesehen werden. Denn ihr Micky-Maus-Dutt verleiht ihr eine optische Unverwechselbarkeit, die zuletzt Lana Del Rey mit ihren künstlichen Fingernägeln und dem Gesamtkunstwerk Amy Winehouse gelang. In dieser Form hat es Pop seit jeher zum Stadtgespräch gebracht.
Im Mai 2010 erhält La Havas, als Background-Sängerin bei der britischen Pop-Diva Paloma Faith für einen Hauch schwarze Soul-Authentizität verantwortlich, vom Major-Label Warner und der übermächtigen internationalen Künsteragentur CAA einen marktüblichen Ausbildungsvertrag. Beide wollen damals nicht die schlichten Gitarren-Songs, die sie mit ihrer Kurzzeit-Band The Paris Parade auf ihrer MySpace-Seite hochgeladen hat. Sie versprechen sich etwas von ihrem stimmlichen Potenzial, ihrem burschikosen Charisma und ihrem eklektischen Modebewusstsein, das sich in seinem Mix aus klassischem „Mad Men“-Stil und glitzerndem Boho-Chic zumindest historisch auf die große Motown-Ära bezieht. Passenderweise sind es englische Mode-Magazine und Fashion-Blogs, die eine erste Euphorie um Lianne La Havas 2011 mitorchestrieren.
Nach ihrer Unterschrift bei Warner geht Lianne La Havas für fast zwei Jahre mit sich und einer Riege Pop-Produzenten in Klausur. Nur bei substanziellem Songmaterial soll sie tatsächlich einen Plattenvertrag erhalten – hopp oder top. Auch um eine Rolle in der BBC-Serie „Dancing On The Edge“, einem Sittengemälde der Londoner High Society der 1930er-Jahre, betrachtet durch die Augen einer schwarzen Jazz-Band, bewirbt sie sich, wird aber für zu leicht befunden und konzentriert sich fortan ganz auf die Musik. Sie wird nach diesen zwei Jahren viel über Pop und seine unstillbare Sehnsucht nach Originalität verstanden haben.
Im New Yorker Studio von Dave Sitek von TV On The Radio schreibt sie „Forget“, das sich mit seinem Funkadelic-Riff, einer tänzelnden Snare-Drum und janusköpfigen Vocals am deutlichsten am Indie-Zeitgeist ausrichtet. Das Label lehnt den Song zunächst ab, in einer neuen Interpretation wird er schließlich zur Single erkoren. Lianne La Havas lernt, sich durchzusetzen. Weitere Sessions mit Mike Elizondo, der zuletzt mit Regina Spektor arbeitete, und Dan Carey, immerhin Co-Autor von Lily Allen oder Emiliana Torrini, verlaufen dagegen weniger erfolgreich. „Die Chemie hat nicht bei allen Songschreibern gestimmt“, sagt La Havas heute lakonisch. „Ich war allerdings auch in einer komischen Situation. Es war, als müsste man bei einem Blind Date sofort ein Baby zeugen.“
Erst mit Matt Hales, der als Aqualung selbst auf eine Karriere als ätherischer Britpop-Musiker verweisen kann, entwickelt sich ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis. Er hilft La Havas beim Arrangieren ihrer Songideen und produziert „Is Your Love Big Enough?“: „Matt hat mir Dinge vorgeschlagen, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Komischerweise sind die Songs dadurch genau so geworden, wie ich es ursprünglich wollte. Er hat mir bei meiner Entwicklung als Songschreiberin sehr geholfen.“ Lianne La Havas sagt das mit aufrichtiger Dankbarkeit. Ganz auf eigenen Beinen steht sie also doch noch nicht. Bis es soweit ist, wird sie weiter auf ihren schwarzen Wedges durchs Leben schweben. Bei Facebook ist sich eine Anhängerin ohnehin sicher: „I’m not a believer, but I’m pretty sure she’s an angel.“