Liam Gallagher
Nie werden wir den Tag vergessen, als wir zum ersten Mal diese Stimme hörten. Heiser, stolz, rauflustig. Eine Mischung aus John Lennon und Johnny Rotten, jede einzelne Silbe mit verächtlicher Lässigkeit endlos zerdehnend und schließlich spöttisch in die Welt spuckend. Es war im Dezember 1994, also relativ spät. Oasis hatten gerade „Whatever“ veröffentlicht, der Vortrag gewährte Einblicke ins Selbstverständnis des Sängers: „I’m free to be whatever I/ Whatever I choose, and l’ll sing the blues if I want/I’m free to say whatever I/ Whatever I like, if it’s wrong or right it’s alright.“
Das Phänomen Brit-Pop hatte sich seit dem Debüt der Stone Roses angedeutet, jedoch überwiegend als exklusiv britische Veranstaltung. Nun gab es Blur, Suede, Oasis und zahlreiche andere, die eines gemeinsam hatten: Sie trugen ihr genuines Britisch sein demonstrativ vor sich her. Oasis boten das meiste Identifikationspotenzial: Eine Band, deren Mitglieder so aussahen, als wären sie Nick Hornbys Roman „Fever Pitch“ entsprungen. Einfache Lads, wie man sie bald auch hier nannte, von freilich hoher Begabung, die – vielleicht war es so einfach – nach Cobains Tod Hedonismus und Spaß zurück in den Rock’nRoll brachten. Stolz statt Selbstmitleid, Aufbruch statt Abgesang- lange war die Gegenwart des Pop nicht mehr so aufregend gewesen.
Working class waren sie alle – Liam Gallagher wusste der Tristesse des von Thatcher gebeutelten Manchester jedoch etwas Glamouröses abzugewinnen. Mit 16 hatte er eine Epiphanie, als er den jungen Ian Brown auf der Bühne sah. Überschaubar blieb sein Koordinatensystem auch später: ein Mann, der Grunge und auch sonst das Meiste hasste, seine Mutter jedoch liebte. Der stolz war, niemals im Leben ein Buch gelesen zu haben und über keinerlei Bildung zu verfügen. Der stoisch und unbeirrbar an seiner Linie festhielt und bis zum heutigen Tage niemals andere Musik hört als die der Beatles, Sex Pistols und Stone Roses. Ein Meister der trotzigen Selbstbehauptung, der zu einer aufrührende Weise komischen Ikone wurde. Am Ende eines Jahres, das vielen vor allem wegen ihrer Fehde mit Blur in Erinnerung bleiben wird, veröffentlichten Oasis „(What’s The Story) Morning Glory?“ und eroberten die Welt.
Erfolg und Attitüde dieser Band passten zum Aufbruchsgeist jener Jahre, in denen eine neue Politiker-Generation die Führung der westlichen Welt übernahm. Nach dem Massaker von Srebrenica im Juli rückt im November mit dem Abkommen von Dayton eine dauerhafte Befriedung des Balkans in erreichbare Nähe. Bill Clinton setzt ein Zeichen, indem er die diplomatischen Beziehungen zu Vietnam wieder aufnimmt. In Deutschland und vielen anderen mitteleuropäischen Ländern fallen durch das Schengener Abkommen endgültig die Passkontrollen weg. Während das Bosman-Urteil, eine Art Schengener Abkommen des Fußballs, einen Paradigmenwechsel im Profi-Geschäft herbeiführt. In Berlin verhüllen Christo und Jeanne-Claude den Reichstag und sichern der wiedervereinigten Stadt jene internationale Beachtung, die der stets zwischen Provinzialität und Metropolentum changierenden Stadt per Selbstdefinition ohnehin zusteht.
Doch so wie die Songs von Noel Gallagher eine perfekte Eulenspiegelei sind, war auch das Jahr 1995 nur an der Oberfläche ein kuscheliges: In Hannover eskalieren die sogenannten Chaostage, ein erster Castor-Transport erreicht Gorleben, der französische Staatspräsident Jaques Chirac, im Mai erst gewählt, macht sich mit Atomtests auf Mururoa unbeliebt -fuck Chirac! Die Festnahme des Bankiers Jürgen Schneider wirft in Deutschland indessen ein erstes Schlaglicht auf die Kreditvergabepraxis großer Geldinstitute – damals jedoch noch weitgehend folgenlos.