Letzter Fluchtpunkt Fresenhagen
Ein handgeschriebenes Plakat kündigte das vielleicht wichtigste Konzert des letzten Jahres an: „Sonntag 1. Sept./20 Uhr – Abschied von Rio – Eintritt frei“. Aus ganz Deutschland waren Fans und Freunde ins Berliner Tempodrom geströmt, um Abschied zu nehmen von einem Sänger, der-wie Heinz Rudolf Kunze treffend bemerkte, „sehr viel mehr Spuren hinterläßt als manche, die Millionen Platten verkaufen“.
Es waren keinesfalls nur die APO-Opas, die sich im vollkommen überfüllten Zelt oder davor drängten. Und sie weinten auch nicht nur den alten Zeiten nach, in denen Reiser mit Ton Steine Scherben propagiert hatte: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Herbert Grönemeyer, die Komikerin Marlene Jaschke, die Schlagersängerin Marianne Rosenberg, der Knabenchor Omnibus, die „Rock Lady“ Ulla Meinecke und die Linkssentimentalen Transportarbeiterfreunde interpretierten Rios Lieder. Ost-Bands wie Keimzeit und Engerling, der Chansonnier Tim Fischer sowie Jürgen Buchner alias Haindling verneigten sich auf ihre Weise. Nach dem Auftritt der Einstürzenden Neubauten tobten die Zuschauer minutenlang.
Zu hören ist der grenzenlose Abschied von Rio“ auf einer Doppel-CD, die kürzlich auf Rios altem Label, der David Volksmund Produktion, erschien und Geld in die Kassen des Vereins JRio-Reiser-Haus“ bringen solL Dessen vordringlichstes Ziel ist die Erhaltung jenes Bauernhofes im nordfriesischen Fresenhagen, auf dem der „König von Deutschland“ begraben liegt. Sein Nachlaß soll gesichtet, archiviert und peu a peu veröffentlicht werden. Das weitgespannte Netz freundschaftlicher und geschäftlicher Beziehungen, in das Rio eingebunden war, soll jungen Talenten zugänglich gemacht – und aus seinem „Fluchtpunkt Fresenhagen“ ein Treffpunkt für Künstler werden. Sein Bruder Peter Möbius dazu: „Dort, wo Rio begraben liegt, soll sein guter Geist lebendig bleiben.“
Nach Nordfriesland hatte sich der bibelfeste Karl-May-Fan immer dann zurückgezogen, wenn er -mitunter selbstverschuldeten – Streß mit der major Company Sony hatte, bei der er zehn Jahre unter Vertrag stand. Im Beiheft zur Doppel-CD “ Unter Geiern – The Columbia Years“, die Anfang Februar erschien und neben seinen Gassenhauern und Balladen auch Hidden Tracks, B-Seiten und einen teilweise italienisch gesungenen „Ultimo-Mix“ seiner Pop-Ballade „Ich denk an dich“ enthält, erinnett sich der Sony-Manager Hubert Wandjo recht lebhaft an ihn: „Eines Tages befand sich bereits die komplette Band im Fernsehstudio, nur Rio war spurlos verschwunden. Tage später erfuhren wir, daß er frisch verliebt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten weilte. Dafür stand er dann unversehens wieder bei uns vor der Tür, um seinen Frust loszuwerden und uns wieder mal klarzumachen, daß wir ihn eh niemals verstehen würden.“
Eine Flasche Armagnac aus dem Rio-Jahrgang 1950, die Reiser der Sony-Crew als Einsatz für eine verlorene Wette schuldete, mußte er zwar abschreiben. Dennoch sagte Wandjo zu, neben Rios nimmermüder Mutter Erika Möbius, dem Verleger George Glueck, der Produzentin Annette Humpe und einem Musiker von Ton Steine Scherben in der Jury des „Rio-Reiser-Preises“ zu sitzen, mit dem der beste deutsch-
sprachige Song des Jahres ausgezeichnet werden solL Der mit 10 000 Mark dotierte Preis soll von keiner Versicherung oder Batterie-Firma gesponsert, dafür aber bereits Ende August erstmals im Rahmen eines Gedenkkonzertes verliehen werden, auf dem auch die Preisträger auftreten sollen. (Der Einsendeschluß ist der 31. Mai ’97. weitere Informationen erteilt das Rio-Reiser-Haus, 25917 Fresenhagen 11.) „Neues“ von Rio Reiser gibt es bereits früher zu hören. Felix Wolter, zu NDW-Zeiten Schlagzeuger bei Der Moderne Mann, produzierte für den dritten „Kingske“Sampler des Echo-Beach-Labels einen Remix des Scherben-Songs „Mole Hill Rockers“; der bei Fans auch als „Arbeitslosen Reggae“ bekannte Szene-Hit wurde von der Fresenhagen Possee bereits abgenommen.
Für den deutschen Schallplattenpreis „Echo“, der am 6. März in Hamburg zum sechsten Mal verliehen wird, wurde der „König von Deutschland“ dagegen nicht nominiert. Nach Udo Lindenberg und Reinhard Mey, Udo Jürgens, James Last und Klaus Doldinger, die in den vergangenen Jahren für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurden, käme 1997 eigentlich nur Rio Reiser in Frage. Der Preis, so war zu hören, soll jedoch schon seit Monaten vergeben sein, nur der Name des Preisträgers wird noch geheimgehalten.