Letzte Vorstellung
WENN MAN STEVEN Soderbergh zuhört, wie er faszinierend und voller Eloquenz über seine Liebe zu Filmen redet, über die Arbeit mit Schauspielern, und über die witzigen Absurditäten des Hollywood-Systems, fällt einem eigentlich kein guter Grund ein, mit alldem plötzlich aufzuhören. Doch Soderbergh insistiert, nein nein, ganz im Ernst, der Thriller „Side Effects“ werde sein letzter Kinofilm sein auf absehbare Zeit. Nicht das Ende, aber „eine Pause“, nicht von der Regie überhaupt, aber vom Kino. Theater werde er schon machen, „oder auch eine Fernsehserie, wenn man mir ein tolles Script anbietet.“ Irgendwie kann man es trotzdem nicht glauben.
Gerade 50 Jahre alt ist der Regisseur im Januar geworden, und wenn er so vor einem sitzt, mit schwarzer Nerd-Brille, agil und unruhig, dann könnte er auch zehn Jahre jünger sein. Eine melancholische Ader und Pessimismus-Schübe hatte der Regisseur schon immer. 1999, da war er gerade 36, aber sein Durchbruch als Regisseur mit dem Gewinn der Goldenen Palme von Cannes für „Sex, Lies and Videotape“ lag schon zehn Jahre zurück, hatte er in „Getting Away With It“, einem Interviewband mit Richard Lester, geschrieben: „Es war noch nie so schlimm wie heute das Publikum kennt sich nicht mehr mit Filmen aus. Leute, die dumme Filme machen, bekommen den Respekt, den die bekommen sollten, die gute Filme machen.“ Mit einer MidlifeCrisis oder Frühvergreisung hat der Entschluss aufzuhören also nichts zu tun. Soderbergh nickt, als er auf das alte Zitat angesprochen wird. Ja, das sei auch ein Grund seines wachsenden Desinteresses für Filme: „Ich glaube einfach nicht, dass das Kino heute kulturell noch so wichtig ist wie früher. Hinzu kommt, dass leider jede neue Generation der Studioangestellten noch weniger vom Kino versteht als die vorherige.“ Wenn einem im Kabelfernsehen dreieinhalb Millionen Leute zuschauen, sei das ein Erfolg. „Und alle machen sich Gedanken über den Film. Im Kino ist das kein Erfolg.“
Dabei erscheint er keineswegs frustriert. Dafür zeigt er erkennbar zu viel Leidenschaft für den Gegenstand: Stundenlang kann man mit Soderbergh über die Stärken und Schwächen des Gegenwartskinos sprechen. Vor allem über die Schwächen. Der „Missbrauch“ den Regisseure mit der Musik treiben – „wie die Vuvuzelas bei der letzten Fußball-WM!“ -, die Unfähigkeit, einem Film ein richtiges Ende zu geben. Viele heutige Filme hätten fünf oder sechs falsche Enden. „In ‚Side Effects‘ habe ich mich um das Gegenteil bemüht“, kommt er dann auf seinen eigenen neuen Film zu sprechen, der bei den Berliner Filmfestspielen im Wettbewerb Premiere hatte. „So klar und sauber wie möglich sollte der Film sein. Ich habe mir Mühe gegeben, nichts Überflüssiges drin zu lassen.“
Das ist ihm gelungen. Von der allerersten Einstellung an dominiert in „Side Effects“ eine ganz merkwürdige Stimmung, und erst später, wenn man nach dem Film über ihn nachdenkt, kommt man drauf, dass Soderbergh einfach viele Dinge anders macht als seine Kollegen, und dass er völlig Gegensätzliches verbindet: Eine lange, sehr ruhige Kamerafahrt zu Beginn, in der der Fokus sich sehr allmählich auf ein einzelnes Fenster eines mehrstöckigen Gebäudes verengt, erinnert im Stil an die Paranoiathriller der 70er-, 80er-Jahre, und auch ein wenig an einen Film von David Fincher, Soderberghs engen Freund und Nachbarn. Aber das Stadtviertel, das man sieht, irgendeine New Yorker Suburb-Kreuzung im Sonnenuntergang, wirkt seltsam normal für einen Kinofilm, und die Musik ist viel spärlicher eingesetzt, als man es aus Amerika gewohnt ist. Ein Anfang ohne Show-Off, so rein funktional, wie es schon Hitchcock nicht mehr gemacht hat.
So hat „Side Effects“ vom ersten Augenblick an die Anmutung eines Independent-Films, der sich am klassischen Kino-Handwerk, sagen wir: der Vierziger, orientiert. Die Handlung kreist um Emily, eine junge Frau, die ein ziemliches Nervenbündel ist. Ihr Mann, ein Börsenmakler , saß wegen Insidergeschäften im Knast, kommt jetzt frei, und Emily nicht mit der Situation zurecht: Sie hat bereits eine Geschichte von Therapeutenbesuchen und Medikamentenmissbrauch hinter sich, und jetzt kommen ihre Depressionen zurück. Nächtliche Schlafwandeleien, viel zu viele Pillen in immer neuen Rezepturen und Kombinationen, ein gut aussehender Nervendoktor und ein Selbstmordversuch im Auto sind die Zwischenstationen auf einem Weg, der nach einer guten halben Filmstunde damit endet, dass Emily ihren Göttergatten im Medikamentenrausch mit dem Küchenmesser niedermetzelt und sich dann schlafen legt. Am nächsten Morgen ruft sie die Polizei, und kann sich an nichts erinnern. Jetzt kommt ihr Psychiater ins Spiel. Der versucht zu beweisen, dass sie nicht wusste, was sie tat. Die Behörden dagegen wollen beweisen, dass zumindest er das hätte wissen müssen, und konzentrieren sich auf ärztliches Fehlverhalten.
Nachdem der Film wie eine Slasher-Version von „Desperate Housewives“ begann, sind diese Passagen das sarkastische Porträt einer medikamentensüchtigen amerikanischen Mittelstandsgesellschaft. „Sie verändern einen nicht. Sie machen es nur leichter, man selbst zu sein“, heißt es einmal. Drogen und ihre Funktion im spätkapitalistischen Kontext aus Leistungsstress, Effizienzdenken und Selbstoptimierung interessieren Soderbergh schon lange.
Als er hört, dass Berlinale-Chef Dieter Kosslick den Film vor dem Festival als „Psychopharmaka-Thriller“ angepriesen hatte, lächelt Soderbergh nur müde und nachsichtig -um dann blitzschnell nachzuschieben: Man könne natürlich Hitchcocks „Vögel“ auch als Tierfilm bezeichnen. Und grinst. Diese Mischung aus Freundlichkeit und boshaftem Scharfsinn zeichnet ihn aus, ebenso wie eine Vorstellung vom eigenen Können, die manche auch als Eitelkeit auffassen könnten. Denn nebenbei hat er sich selbst damit ja auch ein bisschen mit Hitchcock verglichen.
Jude Law spielt in „Side Effects“ jenen Psychiater, dem sein Leben allmählich entgleitet, und der zum Spielball fremder Kräfte wird, während er noch nicht versteht, was geschieht. Kafka, einer von Soderberghs Lieblingsautoren, über den er seinen zweiten Film gemacht hat, fällt einem da ein. Emily wird von Rooney Mara gespielt, und es ist spannend zu erleben, was Soderbergh mit dem unangefochtenen Star von „Girl With A Dragon Tattoo“ anstellt. Tatsächlich wird die Story um diese zwei Figuren zu einem Psychothriller, der gar nicht mehr so vage an Hitchcock erinnert. „Warum es immer noch sehr schön und lohnend ist, Hitchcock-Filme zu gucken“, erklärt Soderbergh in seiner typischen präzisen, trotzdem etwas umständlichen, rührend ernsthaften Art, „das liegt nicht so sehr an seiner technischen Perfektion. Sondern es geht immer um Schuld. Das ist ein universales Thema.“
Da liegt die Parallele zu „Side Effects“. Um Schuld geht es auch hier. Noch mehr um deren Übertragung von einer Figur auf eine andere. Und um Manipulation. Der klügste (und verräterischste) Satz des Films lautet: „Girls learn to fake things at an early age. The same time boys learn to lie.“
Man kann in „Side Effects“ also eine Blaupause erkennen für eine Moderne, die sich aus Voyeurismus und Lüge, aus Schaulust und Wahrheitsscheu zusammensetzt. Wie schon in seinen amoralischen „Ocean’s“-Filmen, wie in dem Wunschmaschinen-Melo „Solaris“(2002), in dem einfach zu entspannten, neoliberalen „The Informant“ oder auch seinem romantischsten Film „Out Of Sight“(1998), verdampft das moralinsaure Wahrheitspathos, das er in „Sex Lies And Videotape“ oder „Traffic“ und „Erin Brockovich“ mühsam aufgebaut hatte.
Dazu kam zuletzt dieses halbe Dutzend rasend schneller, saubilliger, ein bisschen hingerotzter Digitalessays, die man kaum Filme nennen möchte: Ob „Haywire“ oder „The Girlfriend Experience“ in denen er – hey! – echte Catcherinnen und – hey, hey! – echte Pornostars zu Hauptdarstellerinnen mutieren lässt und irgendwie damit durchkommt, auch weil man Sascha Grey und Gina Carano halt gern dabei zuguckt, wie sie schöne Dinge machen.
Das sollte aber zumindest auch diejenigen zum Abschied mit Soderbergh versöhnen, denen er insgesamt ein wenig zu stilsicher, selbstverliebt und vage wahr – obwohl das ja, wenn man ehrlich ist, unter lauter Filmemachern, die von Plotpoint zu Plotpoint hüpfen und nur noch wahre Stories verfilmen, aber keine Ahnung mehr von Filmgeschichte haben, nur als Kompliment verstanden werden kann. Wenn sie denn wirklich jetzt zu Ende gehen sollte, erscheint Soderberghs Karriere im Rückblick wie das Drama des begabten Kindes: Er kann einfach etwas zu viel und ist etwas schneller als andere, darum merkt man manchen seiner Filme an, dass er sich mit ihnen schon während des Machens langweilt.