Letzte Ausfahrt London
Es war die Blues-Begeisterung junger britischer Musiker, die Howlin' Wolf und anderen Blues-Pionieren Mite der 60er Jahre zu unverhofftem, spätem Ansehen verhalf
Howlin‘ Wolf wollte zuerst nicht recht glauben, was ihm da telefonisch unterbreitet wurde. Der Anrufer war von ABC Television und wollte ihn für die Pop-Show „Shindig“ verpflichten. Wolfs Skepsis war wohl begründet. So weit er wusste, war „Shindig“ ein Programm für weiße Teens. Was er definitiv wusste, war, dass nicht einmal die schwarze Jugend Amerikas noch irgendetwas übrig hatte für den Blues. Schwarze Kids hatte er bei seinen Auftritten schon lange nicht mehr gesehen. Die hörten nun Soul, das geschniegelte Zeug aus Detroit oder die tanztauglichen R&B-Hits aus Memphis.
In England war das anders. Von dort war Wolf gerade zurückgekehrt, dort war er behandelt worden wie ein König. Von britischen Jugendlichen, die in ihrem Leben noch nie in Amerika waren, die keinen Schimmer hatten von den Verhältnissen, die einst den Blues ausgeschwitzt hatten. Und doch kamen sie in Scharen zu seinen Konzerten und kauften seine Platten. „Little Red Rooster“ war im Dezember die Nummer 1 in den Verkaufs-Charts gewesen. Nicht sein Original zwar, sondern in der Version einer dieser jungen, wilden, langhaarigen Gruppen, aber gleichviel. In London hatte Howlin‘ Wolf „Rooster“ im Radio gehört, auf der Straße, überall. Er war um Autogramme gebeten worden wie eine Berühmtheit. Hubert Sumlin, Wolfs Gitarrist und Vertrauter, der dabei gewesen war und Zeuge der Begeisterung wurde, die ihnen dort allenthalben entgegenschlug, beschrieb den Gemütszustand des Freundes ohne Ironie: „The old man thought he’d died and gone to heaven.“
IN CHICAGO WAR ALLES ANDERS.
Auch hier hatte das Interesse an Wolfs Musik erfreulich zugenommen in den letzten Monaten. Erst neulich hatte er ein paar begabte junge Musiker zu sich auf die Bühne gebeten. Michael Bloomfield hieß einer, der andere Barry Goldberg. „We got some white boys in the house tonight“, hatte Wolf verkündet, und die alten schwarzen Männer im Publikum hatten sich wohl ein wenig gewundert. Denn es waren immer dieselben Leute, die in dieselben Bars und Joints kamen, um ihn zu sehen. Oder Muddy Waters, Otis Rush, Magic Sam. Predigten für die Bekehrten, die seltener kamen. Sumlin hatte schon gescherzt, dass eine transatlantische Verschiebung des Lebensschwerpunkts sowohl ihren Bankkonten als auch ihren Egos gut bekäme. Und Wolf hatte grimmig geantwortet, das wäre immerhin eine Option.
Und nun rief dieser ABC-Mann an und lud ihn, Howlin‘ Wolf, fast 55 Jahre alt und Blues-Sänger seit ewigen Zeiten, in eine landesweit ausgestrahlte Sendung für Hitparaden-Acts ein. Es habe ihm ein paar Probleme bereitet, so der Mann am Telefon, Wolf ausfindig zu machen, doch hätten die Rolling Stones darauf bestanden. Wenn Wolf nicht in „Shindig“ auftreten würde, dann auch sie nicht.
So kam es, dass am 2O.Mai 1965 Howlin‘ Wolf zum ersten Mal im amerikanischen Fernsehen auftrat, wie im übrigen auch die Stones. Die hatten hoch gepokert und gewonnen. Wolf probte am Nachmittag mit den Shindogs, der brillanten „Shindig“-Hausband mit James Burton. Billy Preston, Joey Cooper und Chuck Blackwell. Als es dann abends soweit war und die Band begann, das Intro zu Wolfs Song zu spielen, unterbrach Moderator Jack Good die Musik, gesellte sich zu Mick Jagger und Brian Jones, die wie die anderen Stones auf den Stufen um Wolfs Mikro Platz genommen hatten, zu einem Interview. In dem die beiden erklärten, wie sehr sie Wolf verehrten, bevor Jones das Gespräch mit den Worten beendete: „Now I think it’s time for you to shut up and let’s bring on the Wolf!“.
Der dann sein Entree gemessenen Schrittes genoss, im schwarzen Anzug, jeder Zoll ein Souverän.
Obwohl er keine Erfahrung mit Kameras hatte, flirtete Wolf mit ihnen, gestikulierte augenzwinkernd in ihre Richtung wie ein Routinier der TV-Unterhaltung. Niemand hätte vermuten können, dass er gerade absolutes Neuland betreten hatte. Wolf und die Shindogs legten eine fulminante Fassung von „How Many More Years“ hin, Blues-Chicago war in heller Aufregung. „Es gab diese Grenzlinie, die für den Blues tabu zu sein schien“, so Buddy Guy, „aber die Stones durchbrachen sie, indem sie Wolf in diese Show verhalfen.“
EIN PAAR ZYNIKER MEINTEN,
die Motive für den Altruismus in Frage stellen zu müssen, Wolf wollte davon nichts wissen. „Er reagierte böse auf derlei Unterstellungen“, erinnert sich Guy, „Wolf war sein eigener Herr und niemandes Handlanger. Er sagte, die Wahrheit sei oft bitter und diese besonders, weil es die eigenen Leute nicht geschafft hätten, dem Blues in Amerika eine Plattform zu geben.“ Dem sei unbedingt zuzustimmen, nicht nur in Bezug auf das Desinteresse eines breiteren Publikums. „Auch was die Akzeptanz des Blues in den Medien, bei Veranstaltern und Plattenfirmen betrifft, hilft keine Schönfärberei. We were all ignored until those English kids came in.“