Letzte Ausfahrt Chinatown
Unzufrieden mit seiner englischen Heimat, emigrierte MATT JOHNSON nach New York - nun gibt es Neues von THE THE
Matt Johnson alias The The hielt es in seiner britischen Heimat nicht mehr aus: zu laut, zu oberflächlich, zu amerikanisch. Konsequenterweise flüchtete er nach New York. Downtown Manhattan, Lafayette, Ecke Canal Street, der Übergang zwischen Soho und Chinatown. Ein eisiger Wind pfeift um die hohen Häuser und dringt durch bis zu den Knochen. Irgendwo hier sitzt Matt Johnson auf einem Sofa im chaotischen, aber gemütlichen Büro seines Managements und liest ein Taschenbuch. „Es geht um die Macht des Fernsehens über unsere alltägliche Meinungsbildung“, sagt er nach der Begrüßung, „ein sehr gutes, sehr interessantes Buch“.
Fünf Jahre seit dem letzten Album – eine halbe Ewigkeit im Musikbusiness. Von dem jedoch Matt Johnsons Verquickung experimenteller Popmusik mit existenzialistisch gefärbter Lyrik schon zur Zeit von „Soul Mining“, „Infected“ und „Wind Bomb“ unabhängig gewesen ist. Selbst Johnsons zerquältes, lärmendes Frühwerk „Burning Bitte Soul“, veröffentlicht 1981, klingt heute noch so frisch und innovativ, als wäre es soeben ausgetüftelt worden.
Ebenfalls fünf Jahre ist es her, dass Matt Johnson es in seiner Heimat London nicht mehr aushielt „Es war unerträglich mitanzusehen, wie Englands Identität, das gesamte kulturelle Erbe des Landes immer bereitwilliger einem unreflektierten Amerikanismus geopfert wurde. Ich hatte das Gefühl zu ersticken, begraben zu werden unter Vergnügungssucht und Konsumterror.“ Was konnte einem in Masochismus und Selbstkasteiung bewanderten Mann wie Johnson folglich näher liegen, als ins Zentrum des Übels vorzustoßen? In Chinatown fand Johnson wundersamerweise seinen Frieden: „Ein Fremderzusein, hilft, Abstand zu vielen Dingen zu bekommen. Die Sinne schärfen sich um so mehr, je bedrohlicher die Umgebung wirkt. Ich fühle mich klarer hier und werde gleichzeitig inspiriert, sowohl im positiven wie auch im negativen Sinne.“
Die Jahre vergingen wie im Flug. Johnson, fest liiert mit Freundin Johanna und Vater eines zweijährigen Sohnes, formte mit dem Gitarristen Eric Schermerhorn (Ex-Iggy Pop), dem Drummer Earl Harvin (Ex-MC 900 Ft. Jesus) und dem ehemaligen Kenny Rogers-Bassisten Spencer Campbell eine neue Variante von The The, entdeckte in einem alten Abstellraum einen Haufen alter, analoger Verstärker aus Asien und begann mit der Arbeit an „Gun Sluts“, einem „harten und experimentellen, sehr kompromisslosen Album“, das man bei der Plattenfirma mit Unmut quittierte. Veröffentlicht wurde es schließlich nicht. Es folgte ein langwieriger Rechtstreit, der nach 17Jahren die Zusammenarbeit beendete. „Naked Self erscheint nun bei Trent Reznors Firma „Nothing Records“.
Das neue Album ist jedoch nur eine von mehreren Veröffentlichungen, die Johnson dieses Jahr plant. So wird wohl das lange im Giftschränkchen versteckte allererste The The-Album „Spirits“ (1979) der Öffentlichkeit vorgestellt Geplant ist außerdem ein Robert-Johnson-Album im Stil von „Hanky Panky“. Andreas Borcholte