Let There Be Baerbock: Annalena Baerbock ist die erste grüne Kanzlerkandidatin
Annalena Baerbock ist der Shootingstar der deutschen Politik. Jung, selbstbewusst und lässig, gilt sie als mögliche grüne Kanzlerkandidatin. Doch woher kommt sie, was denkt sie und was will sie eigentlich?
Anmerkung: Dieses Porträt erschien zuerst in Heft 2/21, als die Kanzler-Kandidatur noch nicht feststand
Es gibt eine seltsame und ungewollte Allianz von Leuten, die sich Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen wünschen. Die einen tun es, weil sie sie wirklich als Kanzlerin wollen. Andere, weil es ihnen symbolpolitisch wichtig ist, dass eine Frau kandidiert. Wieder andere, weil sie denken, dass die Grünen mit Baerbock schlechter abschneiden als mit dem Co-Vorsitzenden Robert Habeck. Das mal vorneweg. Wir kommen darauf zurück.
Jedenfalls stehen die Meinungen über die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock, positiv wie negativ, schon ziemlich dafür, dass man sie möglicherweise in Wahrheit noch gar nicht so gut kennt. Zum Beispiel sind die einen überzeugt, dass sie detailliertes politisches Fachwissen hat, speziell in Klima- und Wirtschaftspolitik, während andere nicht darüber hinwegkommen, dass sie einmal „Kobold“ sagte, als sie „Kobalt“ meinte. Bei fast allen Erwägungen wird aber ausgeblendet, dass es viele Menschen gibt, die mit dem Namen Baerbock einfach immer noch gar nichts anfangen können, und dass Wahlen im vorpolitischen Bereich entschieden werden.
An einem Freitagmittag sitzt Annalena Baerbock in ihrem Abgeordnetenbüro neben dem Berliner Reichstag. Pandemie, Abstand, klar, aber sonst ist sie guter Dinge und bereitet sich auf einen wichtigen, aber angenehmen Nachmittagstermin vor. Kindergeburtstag. Sie hat zwei Töchter im Prä-Teenager-Alter, sie selbst ist Mitte Dezember vierzig geworden. In einer von Symbolpolitik besessenen Gesellschaft reicht das, damit die Sache klar ist: Frau und jung ist super – für die einen.
Und problematisch für andere. Selten wird genauer hingeschaut, was das für die Weltsicht und das wirkliche Politikmachen bedeutet. Gehen wir mal hinterher.
Baerbock ist Jahrgang 1980. Ein Post-Boomer mithin. Das ist deshalb relevant, weil die Bundesrepublik und auch ihr Politikbetrieb eine Boomerwelt, also hegemonial so sind, wie die zwischen 1955 und 1970 Geborenen sie sehen.
Baerbock lebt in Potsdam, ist Brandenburger Abgeordnete, wuchs aber in einem kleinen Dorf bei Hannover auf, als erste von drei Töchtern, Vater Maschinenbauingenieur, Mutter Erzieherin, zwischenzeitlich lebten sie in Nürnberg, kehrten dann aber wieder zurück. In manchen biografischen Texten ist von einem „Hippie-Hintergrund“ die Rede, „aber so war es nicht“, sagt Baerbock. Sie wurde nach Gorleben und auf ein paar andere Demos mitgenommen, doch ihr Elternhaus war kein hochpolitisierter Haushalt.
Ihre erlebte Welt ist im Wesentlichen eine, in der sich der große Nachkriegsantagonismus Liberale westliche Demokratie vs. illiberaler östlicher Sozialismus erledigt hatte. Ebenso Achtundsechziger-Festspiele, RAF, Westberlin, Weltveränderung durch Rock’n’Roll, Punk und so weiter. Als SPD-Kanzler Gerhard Schröder und sein grüner Außenminister Joschka Fischer 2005 abgelöst wurden, trat Baerbock erst in die Partei ein. Seit sie Politik macht, haben immer Angela Merkel und die CDU/ CSU regiert, und bis auf vier Jahre immer mit der SPD als stetig schrumpfender Gehilfin.
Drei längere Aufenthalte außerhalb Deutschlands haben Baerbock nach eigener Einschätzung geformt
Flexibilität, das war die große Stärke der Boomer und der CDU mit Kohl und Merkel, sie hat zu einer Erweiterung der Lebenschancen für manche geführt, von der gerade die Grünen und ihre Wähler profitiert haben. Das erkennt Baerbock durchaus an, sie ist mit ihrem Lebenslauf das beste Beispiel dafür. Doch das Boomer-Doppelpack, das dürfte sie ebenfalls geprägt haben, enthielt eben auch fahrlässige Ignoranz gegenüber sich entwickelnden globalen Krisen, zuvorderst der Klimakrise.
Drei längere Aufenthalte außerhalb Deutschlands haben Baerbock nach eigener Einschätzung geformt. Sie war ein Jahr auf einer Highschool in Orlando/Florida, zu Bill-Clinton-Zeiten und ohne die heutigen Kommunikationsgeräte. Sie war schlecht drauf und schrieb Briefe nach Hause. „Ich habe mich dort nicht wohlgefühlt, aber es hat mich nachhaltig geprägt“, sagt sie im Gespräch mit ROLLING STONE. Sie lernte das Gefühl kennen, allein zu sein, emotional und kulturell, und dann noch zunächst sprachlich begrenzt, in einer Umgebung, in der Leute ernsthaft interessiert fragen, wo eigentlich Deutschland sei und ob es dort Kühlschränke gebe.
Die zweite Prägung war London, 2005, in Zeiten eines Terroranschlags mit über 50 Ermordeten. Sie studierte an der dortigen School of Economics Völkerrecht und Außenpolitik. Lebte in einer teuren Stadt mit wenig Geld. Und als sie krank wurde, lernte sie die Nachteile eines schlechten Gesundheitssystems kennen.
Die dritte Prägung ist ihre Zeit im EU-Parlament. Sie hatte sich in der Lokalredaktion der „Hannoverschen Allgemeine“ als Journalistin ausprobiert, dachte darüber nach, vielleicht „Kriegsreporterin“ zu werden, und rutschte dann über ein Praktikum in Brüssel in den dortigen Betrieb rein als Büroleiterin einer Brandenburger Grünen-EU-Abgeordneten. Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender zu Regierungszeiten und langjähriger Chef der Europäischen Grünen, fand sie schon gut, als die meisten Annalena Baerbock noch gar nicht kannten. Er unterstützte 2009 ihre Kandidatur für den Vorstand der Europa-Grünen – keine weltbewegende Vereinigung, aber immerhin.
Rebecca Harms war damals Fraktionsvorsitzende und saß im Nebenzimmer. „Sie wollte führen und hat in bestimmten Situationen den Mut gehabt, nach vorn zu gehen“, sagt Harms über die Baerbock von damals. Außerdem sei sie „eine der wenigen Wessis, die ein wirkliches Interesse für den deutschen und europäischen Osten haben“. Und: Sie nahm schnell die Brüsseler Kultur und das politische Know-how in sich auf. „Es macht einen Riesenunterschied, ob man die europäische Politikebene mitgekriegt hat oder nicht“, sagt Bütikofer. Das ist den nationalstaatsfixierten Wählern, Medien und auch manchen Grünen zwar schnurz, aber es ist wichtig für die Durchsetzungsfähigkeit künftiger Politik.
„Es treibt mich manchmal in den Wahnsinn, wenn es im Bundestag heißt, das geht nicht, nur weil es von der Opposition kommt“
„Schaffen wir es, eine neue Epoche von Politik und Parlamentarismus einzuleiten, in der wir ein paar Dinge, die wir seit fünfzig Jahren mit uns herumschleppen, anders machen?“, fragt Baerbock in ihrem Bundestagsbüro. Das sei ihr Anspruch und der komme aus ihrer europäischen Prägung. „Es treibt mich manchmal in den Wahnsinn, wenn es im Bundestag heißt, das geht nicht, nur weil es von der Opposition kommt. Eine Regierung kann durchaus auch mal Vorschläge aus der Opposition aufgreifen, wenn die gut sind. Maßgeblich ist nicht, wo etwas herkommt, sondern wohin es führt.“
Sie weiß aus Brüssel, dass es anders geht. „Das EU-Parlament ist in der inhaltlichen Debatte meilenweit weiter als der Bundestag, weil es viel stärker fraktionsübergreifend arbeitet.“
Diese Brüsseler Herangehensweise versucht sie in Berlin umzusetzen – stärker von der Sache statt den Fraktionen her zu denken. Beispiel Organspende. Da brachte sie eine parlamentarische Mehrheit quer durch die Fraktionen gegen Gesundheitsminister Spahn und den SPD-Experten Lauterbach zusammen. Angefangen hatte es damit, dass sie sich mit einer fraktionsübergreifenden Gruppe für Stillmöglichkeiten und einen Wickelraum im Parlamentsgebäude einsetzte, weil gebärende Frauen in der Bundespolitik ganz offenbar nicht vorgesehen waren. Das betrifft aber auch den Bundesverkehrswegeplan, ein zentrales Steuerungsinstrument einer sozialökologischen Mobilitätswende, der für dreißig Jahre geschrieben wird. „Das halte ich für vollkommen aus der Zeit gefallen, wenn die Frage ist, wie wir mit Klimakrise und Digitalisierung umgehen. Wir müssen ihn neu schreiben.“
Warum erzähle ich das?
Wenn Leute sagen: „Das ist hier aber so“, dann zeigt sich etwas bei Baerbock, das viele als Hauptcharakterzug beschreiben. In diesem Fall sagt sie sich nämlich: Dann ändern wir es halt, und dann wollen wir doch mal sehen, wer hier den längeren Atem hat.“
Sie will was, und sie ist bereit, dafür zu kämpfen. Das heißt aber auch: Wenn sie mal was hat, dann gibt sie es nicht mehr so leicht her.
Aber was genau will sie? Sie will Mehrheiten, vor allem für ernsthafte Klimapolitik. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, war aber bei den Grünen und ihren Kernmilieus bis vor Kurzem eher verpönt. Die Hand wurde zur großen Geste benutzt, nicht um sie sich mit profaner Arbeit schmutzig zu machen. „Mit 8,9 Prozent werden wir all diese großen Themen, für die wir stehen, nicht verändern können“, sagt sie. 8,9 Prozent – die Älteren könnten sich erinnern – war das Wahlergebnis von Cem Özdemir 2017. Jürgen Trittin lief 2013 bei 8,4 Prozent ein, Co-Spitzenkandidatin war jeweils Katrin Göring-Eckardt.
Warum wurden die Baerbock- und Habeck-Grünen ab 2018 zur führenden Partei der „linken Mitte“, wie sie das gern nennen – mit plus/minus 20 Prozent in Umfragen? Weil sie eine neue Strategie hatten. Sie stemmten sich nicht mehr in Sprache und Habitus anklagend und von oben herab gegen die zu verändernde Gesellschaft. Grüne sagen für ihr Leben gern: „Wir als Grüne“. Im neuen Grundsatzprogramm haben Baerbock und Habeck das „Grüne Wir“ gestrichen. „Wir“ meint jetzt die Gesamtgesellschaft. Eine wichtige Basis dafür ist Baerbocks langjährige Beschäftigung mit dem Kohleausstieg – und zwar vor Ort. Mit den Menschen in Brandenburgs Kohlerevieren. Dadurch hat sie die sehr konkrete Erfahrung, dass Klimapolitik auch soziale Antworten geben muss.
Worauf Annalena Baerbock nicht so gern einzusteigen scheint, sind metastrategische oder philosophische Analysen. „Ich bin mehr der pragmatische Typ“, sagt sie, und dass sie Erna Müller in der Lausitz nicht damit kommen könne, dass sie „neue linke Mitte“ werden wolle, weil die dann frage, was das sein soll, diese neue linke Mitte. Damit hat sie recht. Aber man tritt ihr wohl auch nicht zu nahe, wenn man schlussfolgert, dass der neue grüne Überbau, der auch sie nach oben gebracht hat, stark von Robert Habeck geprägt ist, der wiederum erkennbar geschaut hat, wie zum Henker eigentlich Winfried Kretschmann bei der letzten Wahl mit 30 Prozent Wählerstimmen sogar die CDU abgehängt hat, von der SPD gar nicht mehr zu reden.
Durch Baden-Württemberg wurde klar: Die Grünen sind die Partei der neuen Mittelschicht, während die Union die Partei der alten Mittelschicht ist. Ansonsten sind Grünen-Wähler nicht nur, aber auch „normale“ Leute, die SUV teils hassen, teils fahren und Gendersprache teils lebensnotwendig finden und teils doof.
Annalena Baerbock steht überhaupt nicht darauf, sich von Boomern etwas sagen zu lassen
„Ich hatte immer das Gefühl, da ist mehr drin, wenn wir ein paar Dinge anders machen“, sagt Baerbock. „Wenn wir mit einer anderen Sprache und Haltung auf die Leute zugehen und die politische Konkurrenz nicht als ideologischen Gegner oder letzten Idioten sehen.“
Leute, die sie kennen, sagen, dass Annalena Baerbock überhaupt nicht darauf stehe, sich von Boomern etwas sagen zu lassen. Das würde sie selbst nie sagen, aber dass nach 2017 mal andere und Jüngere nach vorn sollen, das trieb sie schon um. Und das unterscheidet sie auch offenbar von Gleichaltrigen in der Grünen-Fraktion. Es gebe da eine „Beamtenmentalität“, sagt einer, der nicht namentlich genannt werden möchte. Da seien viele klug und fähig, aber die herrschende Kultur sei, gefälligst zu warten, „bis man dran ist“. Oder bis frau dran ist.
Damit kommt man aber zu nichts, wie alle wissen, die auch zurückhaltend sind und brav warten. Man muss sich schon vordrängeln. Baerbock wird in Medien gern und anachronistisch als „burschikos“ bezeichnet. Das meint einerseits „salopp, locker, ungeniert“, aber andererseits auch „wie ein Junge“. Insofern – um in Geschlechterklischees zu sprechen – ist Baerbock eine Frau auf der Höhe der Zeit, weil sie auch wie ein (Klischee-)Mann agieren kann. „Sie ist die Verkörperung dieser neuen Frauengeneration, weil sie die anerzogene Zurückhaltung und Trägheit überwindet“, sagt eine Fraktionskollegin. Wenn sie etwas kriegen kann, nimmt sie es. Und hält es fest. Durchaus in dem Bewusstsein, damit als Role Model zu agieren. Als Baerbock sich ohne Rücksprache und breit angelegte Postensicherungsaktion entschloss, Parteivorsitzende zu werden, rumorte es bei den „Linken“ in der Fraktion, weil sie als „Reala“ gegen eine „linke“ Kandidatin antrat und Habeck doch schon als Realo galt. Sie dachte: „Boah, Leute, wenn jetzt wieder die Flügellogik alles andere sticht, dann bin ich auch die Falsche für den Job.“ Und dann überwanden Habeck und Baerbock mit ihrer Wahl das Prinzip der nach innen gerichteten und auf Macht- und Postenkontrolle angelegten Flügel, und das war die notwendige Grundlage für den Aufbruch in die richtige Welt.
Es gilt als ein Tabu der Politikberichterstattung, über die Oberfläche von Politikerinnen zu sprechen. Es sei frauenfeindlich, bei Männern mache man das auch nicht. Interessant ist in dem Kontext der Versuch interessierter Gegner, Robert Habeck auf ein Pretty Face zu reduzieren und ihm doch tatsächlich vorzuwerfen, er sehe gut aus. Oberflächenberichterstattung ist problematisch. Aber kein Mensch wird ernsthaft von sich sagen können, dass die Oberfläche, das Lachen, die Stimme bei seiner Beurteilung anderer keine Rolle spielt. Über Baerbock schrieb die Journalistin Tina Hildebrandt in der „Zeit“: „Die vielen bunten Kleider stellen sicher, dass sie als relativ kleine Frau mit dunklen Haaren auf Fotos unter Anzugträgern nicht untergeht, aber sie sind auch eine Ansage: Ich will keine Politikuniform. Ich trage Kleider.“ Stiefel trägt sie auch gern.
„Vielleicht habe ich ja Glück und darf der Mann an Annalenas Seite sein“
Als Baerbock sich im Januar 2018 als Bundesvorsitzende bewarb, trug sie ihre schwarze Lederjacke, die zu einem Signature-Kleidungsstück geworden ist. Die Rede wurde nachher als fulminant verklärt, aber größtenteils moralisierte und schrie sie damals noch sehr oldschool-grün in der Gegend herum. Sie sagte indes einen Satz, der sich banal anhörte, sich aber als machtstrategisch zentral erweisen sollte. „Wir wählen hier nicht nur die Frau an Roberts Seite“, sagte sie. Der Erfolgspolitiker Habeck aus Schleswig-Holstein ließ sich endlich herab, die Partei zu retten. Und dann wurde halt noch eine Frau gebraucht. Das war aus ihrer Sicht der Eindruck gewesen, worauf sie sofort mit einer Gegendarstellung reagierte. Es war dann Habeck selbst, der im Anschluss – ob intuitiv oder bewusst – den Satz vergoldete, indem er sagte: „Vielleicht habe ich ja Glück und darf der Mann an Annalenas Seite sein.“
Das wurde teilweise reflexhaft als Chauvinismus ausgelegt, aber es war der Beginn einer egalitären politischen Partnerschaft. Mann–Frau zusammen meint nicht mehr die 50/50-Teilung der Macht und ihrer Kontrolle, sondern sie zielt auf eine Erweiterung des Politik- und Handlungsspielraums. Auch nach 75 liberaldemokratischen Jahren ist selbst in der Bundesrepublik die Vorstellung verbreitet, es komme in Parteien und Politik auf die eine große Führungsperson an, was man an dem Dauergeseufze über den nahenden Abschied von Kanzlerin Merkel sieht. Das ist eine sehr bequeme Vorstellung. Grünen-Gründer Lukas Beckmann fordert seit einiger Zeit, dass die Frage „Wer führt?“ durch die Frage „Was führt?“ zu ersetzen sei. Zur Wahl stünden dann das Führungsprinzip des Haben-wir-schon-immer-so-gemacht, das Prinzip des „Schaun wir mal, was heute wieder los ist“ (Merkel) und als neues Angebot – Zukunftspolitik. Diese aber lässt sich nicht zentralistisch aus dem Bundeskanzleramt anordnen, sondern muss mit gesellschaftlichen Bündnissen breit organisiert werden. Führen als Zusammenführen im Sinne des Luhmannianers und Grünen-Flüsterers Armin Nassehi. Das gehört längst zum festen Rederepertoire des Duos Baerbock und Habeck.
Und damit endlich zur klärung einer grünen Kanzlerkandidatur, auf die eine people-fixierte Mediengesellschaft selbstverständlich geil ist. Dabei ist das eigentlich Neue, dass die Grünen überhaupt den Führungsanspruch stellen, also die Mehrheitsgesellschaft vertreten und ihr nicht in den Arsch treten wollen. Das heißt aber nicht, dass die Mehrheitsgesellschaft von Grünen geführt werden will. Die Jüngeren schon, aber je älter die Menschen, desto weniger wollen sie das. Zentral für die Dynamik wird die Pandemielage sein. Wichtig auch die Wahl in Baden-Württemberg im März: Wenn Kretschmann die CDU erneut schlägt, ist die Lage anders, als wenn sie ihn in den Ruhestand schickt.
Es zeugt jedenfalls von einem erstaunlichen Reifungsprozess und Realitätsbewusstsein der Grünen, dass sie sich auf einen einfachen Plan eingelassen haben. Dieser lautet: Baerbock und Habeck machen das untereinander aus. Und was immer rauskommt, findet die Partei dann super. Damit wollen sie eine Gewinner-Verlierer-Situation vermeiden und das Mann-Frau-Zusammen über diese Klippe bringen. In einer Gegenwart, in der die EU, Deutschland und viele Jahre die CDU von konservativen Frauen geführt werden, besteht der progressive Fortschritt in dieser besonderen Paarkonstellation.
Baerbock sieht Politiknotwendigkeit von einem konkreten Fall her, Habeck vom Grundsätzlichen
Und die scheint es tatsächlich zu geben. Wenn Menschen einander belauern, wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt – hier offenbar nicht. Habeck sagte mal im Fernsehen, er traue sich das Amt zu; Baerbock, als sie bei einer Veranstaltung gebeten wurde, ihre Kandidatur zu verkünden, dass sie das „nicht heute“ tun würde. Die jeweils andere Fangroup kriegte fast einen Herzkasper. So was kann Gift verbreiten. Aber nicht, wenn die Betroffenen sich gegenseitiger Loyalität sicher sind.
Wenn man mit beiden spricht, hört man sehr genau heraus, dass sie sich deutlich unterscheiden, oder besser: sich einer Sache von verschiedenen Seiten annähern. Baerbock sieht Politiknotwendigkeit von einem konkreten Fall her, Habeck vom Grundsätzlichen. Habeck denkt über die Veränderung der Mehrheitsgesellschaft nach, Baerbock treibt ihre eigene Partei an und um. Das war der ausschlaggebende Grund, warum sie Vorsitzende wurde: „Was machen wir mit der Partei?“
Aber gesellschaftliche Macht auszuüben, ohne die Partei zu verändern, geht nicht – den größtgedachten Politikentwurf muss man mit Mikromanagement-Know-how und Hartnäckigkeit durch die Gremien bringen, deshalb ist man schnell wieder bei Habeck und Baerbock.
Wobei sie schon mehr als er ein Produkt der Grünen ist. Geld hat sie im Grunde immer über einen Job für die Grünen verdient. Ein Führungsamt außerhalb der Partei hatte sie bisher nicht inne. Anders als Habeck, der sieben Jahre Minister und stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein war. Durchs Feuer ist sie ebenfalls noch nicht gegangen, hat noch keine richtig harte politisch-persönliche Krise erlebt, in der man verbrennen kann oder eben gestählt überlebt.
Sie ist eben auch ein Gewächs der Grünen-Bundestagsfraktion, die im vergangenen Jahrzehnt nun nicht gerade am Großen und Ganzen gearbeitet hat und von Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter zwar gut zusammengehalten, aber kaum zusammengedacht wurde. Leute, die es wissen, sagen, das habe Baerbock nicht mehr mitmachen wollen. Die Fraktion mag Annalena Baerbock, denn vielen ging es, wie es ihr ging. Gerade für die U-40-Generation ist sie jetzt eine große Nummer, weil sie „megamutig die Verhältnisse zum Besseren durchgerüttelt“ habe, wie ein Kollege sagt.
Beim letzten, dem digitalen Parteitag, sagte Baerbock: „Ich liebe diese Partei.“ Das liebt die Partei selbstverständlich. Aber ist Parteiliebe wirklich eine Tugend? Es war überhaupt eine schwache Rede. Die erste, die sie vom Teleprompter ablas, aber es lag nicht nur daran. Es hörte sich an, als wolle sie etwas Grundsätzliches und Großes sagen, alle betreffend. Nur dass es nicht ankam. Am Ende blieb hängen, dass die angekündigte Neuaufstellung des Wirtschaftssystems „in etwa so verrückt wie ein Bausparvertrag“ sei.
Was ist mit Geschlecht und Alter? Klar werden sie in Twitterwelt immer sagen, dass die Rechten nur alte Männer wollen und die Linken nur junge Frauen, aber in der richtigen Welt ist das nicht zu belegen. Es gibt jede Menge männliche Boomer aller Parteien, aber es gibt auch Macron (43), Kurz (34), Finnlands Premierministerin Sanna Marin (35) oder Neuseelands Premier Jacinda Ardern (40).
„Die Pandemie ist die erste große Bewährungsprobe im Leben der Millenials“
Entscheidend ist, dass eine Kandidatin nicht nur das abbildet, was der Fanclub sich wünscht, sondern was die Mehrheitsgesellschaft als passend zur Zeit und zur eigenen Lage einschätzt.
Was könnte diese mehrheitsfähige Geschichte unserer Zeit sein, die Baerbock bei ihrer Parteitagsrede womöglich suchte, aber nicht fand? Der Berliner Soziologe Heinz Bude hat eine Antwort: „Im Generationsverhältnis stehen jetzt die Millennials im Zentrum. Das ist die Sandwich-Generation von heute, Mitte der Achtziger geboren, die nun für ihre Kinder und so langsam auch schon für ihre Eltern sorgen muss. Die Pandemie ist die erste große Bewährungsprobe für ihr Leben.“
Diese Millennials schauten nun zunehmend skeptisch auf die Boomer und ihre fahrlässige Nutzung von Ressourcen. Annalena Baerbock, sagt Bude, könnte beide Gruppen verbinden. „Sie könnte sich dazwischenschalten und beide mitziehen, indem sie zum Ausdruck bringt: Es gibt etwas zu verlieren und Wegducken geht nicht mehr.“