Leonard Cohen – Der lange Weg ans Licht
Mit 77 Jahren hat Leonard Cohen seine Depressionen und Finanzen endlich im Griff. Ein Treffen zum neuen Album.
Auf seiner aufreibenden Welt-Tournee von 1972 (in Tony Palmers Dokumentation „Bird On A Wire“ eindrucksvoll festgehalten) bittet ihn ein Interviewer, das Wesen des Erfolgs zu definieren. Der 37-jährige Leonard Cohen, mit dem Scheitern bereits bestens vertraut, wirft die Stirn in Falten und antwortet: „Erfolg heißt Überleben.“ Nimmt man dieses Kriterium zum Maßstab, war Cohen in seinem Leben erfolgreicher, als er damals vielleicht gedacht haben mag. Sicher, es gab Tiefschläge in dieser Karriere, doch als Cohen 40 Jahre nach der einleitenden Frage ein festlich geschmücktes Zimmer im noblen Pariser Crillon-Hotel betritt, sind Respekt und Bewunderung mit Händen greifbar. Er sieht aus wie ein ergrauter Mafia-Don, lüftet kurz seinen Hut und lächelt freundlich in die Runde – ganz so, wie er es jeden Abend tat, als er mit seiner Welt-Tournee von 2008 bis 2010 ein wundersames Comeback einläutete. Der launische, reizbare, unberechenbar scharfzüngige Charakter, den wir in „Bird On A Wire“ kennengelernt hatten, hat nicht nur eine bemerkenswerte innere Gelassenheit entwickelt, sondern auch – wie er es selbst ausdrückt – eine tiefe Dankbarkeit.
Da Einzel-Interviews mit Cohen in diesen Tagen auf ein Minimum reduziert sind, ist zunächst eine Pressekonferenz einberufen worden, um sein zwölftes Album der Öffentlichkeit vorzustellen. „Old Ideas“ ist eine intime Reflexion über Liebe, Tod, Leiden und Vergebung – ganz so, wie man es von ihm erwartet. Nachdem das Album vorgespielt wurde, beantwortet Cohen Fragen. Er war schon immer ein größerer Schelm, als viele vermuten, doch inzwischen hat er seinen trockenen Humor zu einer derartigen Perfektion entwickelt, dass kaum ein Fragesteller mit einer ernsthaften Antwort rechnen kann.
So will Claudia aus Portugal wissen, ob er seinem Image als ladies man auch ein Schmunzeln abgewinnen könne. „Nun“, sagt er, „wenn man an diesem Punkt meines Lebens noch den, ladies‘ man‘ mimen möchte, braucht man schon eine große Portion Humor.“ Steve aus Dänemark fragt ihn, als welche Person er gerne wiedergeboren werden würde. „Um ehrlich zu sein“, antwortet Cohen, „ist mir dieser Vorgang namens Reinkarnation noch immer nicht so recht plausibel, aber wenn es ihn denn gibt, möchte ich als der Hund meiner Tochter zurückkehren.“ Erik, ebenfalls aus Dänemark, interessiert, ob er mit der unausweichlichen Rea-lität seines nahenden Todes inzwischen seinen Frieden gemacht habe. „Ich bin“, sagt er, „zu der Überzeugung gekommen – wenn auch nur widerwillig , dass ich tatsächlich sterben werde. Es ist nur natürlich, dass sich daraus Fragen ergeben und ich darauf eine Antwort suche. Aber wissen Sie: Meine Antworten sollten zumindest einen Beat haben.“
Cohen fällt in die seltene Kategorie der unterschätzten Legenden: Für seine Bewunderer, zu denen bekanntlich zahllose Songschreiber zählen, ist er das Nonplusultra. Ein Status, den er erreichte, ohne jemals eine Hit-Single gehabt zu haben oder – von seiner Heimat Kanada und, ausgerechnet, Norwegen einmal abgesehen – auch nie ein Platin-Album. Er sagt, dass sich ein dezidiertes Image seiner Person „in die Computer eingebrannt“ habe: der dichtende Frauenversteher, der Songs über „Melancholie und Verzweiflung“ schreibe, die wiederum vorwiegend von Hörern goutiert würden, die selbst dichtende Frauenversteher sein möchten – oder zumindest ihre Nähe suchen. Inzwischen wird man bei einer Google-Recherche auch schnell auf „Hallelujah“ stoßen – ein Song von seinem Album „Various Positions“, der 1984 allgemein übersehen wurde, aber durch zahllose Coverversionen von Jeff Buckley bis Rufus Wainwright zu einer modernen Hymne mutierte. Man hört „Hallelujah“ im Film „Shrek“ ebenso wie in jeder zweiten Vorabendserie und der UK-Ausgabe von „The X-Factor“, wo ihn die Gewinnerin Alexandra Burke 2008 auf Platz 1 der britischen Charts katapultierte.
Der Urheber des Songs wurde am 21. September 1934 in Montreal geboren drei Monate früher als Elvis. Als er erstmals bei New Yorker Plattenfirmen anklopfte und ihnen seine Songs vorstellte (die dann 1967 als „Songs Of Leonard Cohen“ veröffentlicht wurden), hieß es meist: „Sind Sie denn nicht schon ein wenig alt für dieses Spiel?“ Cohen hatte zu der Zeit bereits seinen Vater verloren, Jack Kerouac kennengelernt, auf der idyllischen griechischen Insel Hydra gewohnt, während der US-Invasion 1962 Kuba besucht und zwei gefeierte Romane sowie vier Gedichtbände veröffentlicht.
Mit anderen Worten: Leonard Cohen hatte gelebt – und das gab seinen jüngeren Hörern das Gefühl, dass sich hinter seinen komplexen, rätselhaften Songs mehr Lebenserfahrung verbarg, als die meisten von ihnen selbst vorweisen konnten. Cohen war kein begnadeter Sänger, kein übermäßig talentierter Musiker und auch nicht unbedingt ein Beau, aber er hatte Charisma, wohlklingende Worte und eine erotisierende Intelligenz. Da sein Stil eher von französischen Chansonniers und jüdischen Kantoren inspiriert war als von amerikanischem Folk, war es nicht überraschend, dass seine Musik in Europa größeren Anklang fand als in Amerika. In einem frühen Artikel der US-Folk-Zeitschrift „Sing Out!“ heißt es treffend: „Zwischen Leonard Cohen und anderen Folk-Phänomenen lassen sich keinerlei Gemeinsamkeiten feststellen.“
Auf hartnäckige Fragen hin ließ er sich einige Details zu seinen Songs entlocken – etwa ob ihm Suzanne Vaillancourt, die Frau eines Freundes, tatsächlich „tea and oranges“ serviert habe (nein, es war ein parfümierter Tee mit geriebenen Orangen), oder ob mit der Zeile „giving me head on the unmade bed“ wirklich Janis Joplin gemeint sei (ja, war sie, auch wenn er sich später für seine Indiskretion entschuldigte) , doch nie ließ sich Cohen über die Bedeutungen seiner Songs aus.
Noch heute lehnt er es ab, seine Songs zu interpretieren – und seine trockene Ironie erweist sich beim Abwehren lästiger Fragen diesbezüglich als ebenso wirksame wie unterhaltsame Waffe. Zwei Tage nach der Pressekonferenz in Paris erscheint Cohen auf einer ähnlichen Veranstaltung in London, die diesmal von Jarvis Cocker moderiert wird.
Cocker, selbst Cohen-Fan seit frühester Jugend, versucht vergebens, den Sänger dazu zu bewegen, tiefer in die „sacred mechanics“ des Songschreibens einzutauchen – denn schließlich, so Cohen, würden seine Geheimrezepte ja sonst nicht mehr funktionieren. Er lässt sich immerhin entlocken, dass das Schreiben ein qualvoll langsamer Prozess sei – und er eine zündende Idee über Jahre mit sich herumtrage. Für „Hallelujah“ habe er in zwei Jahren immerhin 80 alternative Strophen geschrieben. Während sein neues Album vorgestellt wird, sieht man auf einer Leinwand Seiten aus seinem Notizbuch, die mit gekritzelten Korrekturen und Streichungen übersät sind. „Es gibt Menschen, die aus dem Vollen schöpfen können“, sagt er. „Ich hätte nichts dagegen, auch so arbeiten zu können, aber ich kann’s leider nicht. Man muss mit dem arbeiten, was einem zur Verfügung steht.“
Cohens aufgehender Stern wäre fast schon wieder erloschen, als er 1977 für „Death Of A Ladies‘ Man“ mit Phil Spector ins Studio ging. Bei einer Session hielt der exzentrische Produzent Cohen eine Pistole an den Kopf – und demonstrierte auch gegenüber seiner Musik ein ähnliches Fingerspitzengefühl. 1984 weigerte sich Columbia-Mogul Walter Yetnikoff sogar zunächst, „Various Positions“ (mit dem erwähnten „Hallelujah“) überhaupt zu veröffentlichen – angeblich mit der Begründung: „Schau, Leonard, wir wissen, dass du großartig bist, aber wir wissen nicht, ob du gut genug bist.“
Auf „I’m Your Man“, seinem nächs-ten Album, war er definitiv beides. Bewaffnet mit Synthesizern und einer Stimme, die an ein Gewittergrollen erinnerte, war er gerade rechtzeitig wieder in Form, als eine neue Garde jüngerer Bewunderer – von Nick Cave bis zu den Pixies – ihn ins Herz geschlossen hatte. Auf Songs wie „First We Take Manhattan“, „Everybody Knows“ und „The Future“ nahm seine Depression geopolitische Dimensionen an. Dem Journalisten Mikal Gilmore sagte er: „Es ergibt keinen Sinn, die Apokalypse noch verhindern zu wollen. Die Bombe ist schon längst explodiert.“
Der Umstand, dass er sich wieder im Glanz allgemeiner Bewunderung sonnen konnte, hellte seine desolate Stimmung nicht auf. Sechs Jahre tauchte Cohen in einem Kloster auf Mount Baldy in Kalifornien unter, wo er sich mit seinem Zen-Meister Kyozan Joshu Sasaki – inzwischen 104 Jahre alt – in die Meditation einweisen ließ und studierte. „Dieser alte Meister spricht nie über Religion“, erzählt er seinem Pariser Publikum. „Es gibt kein Dogma, es gibt keine Gebete, es gibt keine Gottheit, die es zu verehren gälte. Es geht nur um die Selbstverpflichtung, innerhalb einer Gemeinschaft zu leben.“
Als er nach sechs Jahren den Berg wieder verließ, hatte er seine lebenslange Depression hinter sich gelassen. „Und wenn ich von Depression spreche“, sagt er und wägt jedes Wort vorsichtig ab, „dann spreche ich von einer klinischen Depression, die dich dein ganzes Leben begleitet, die mit Angst und Schmerz verbunden ist – das Gefühl, dass nichts positiv verläuft, dass so etwas wie Freundschaft außerhalb deines Horizontes liegt und all deine Lebensentwürfe in sich zusammenbrechen. Ich bin glücklich, dass sich meine Depression – in kaum wahrnehmbaren Schritten und mit Hilfe guter Lehrer und einer Menge Glück – langsam zurückgebildet hat und sich zumindest nicht mehr in der Heftigkeit bemerkbar macht, die einen großen Teil meines Lebens geprägt hat.“ Cohen hält es durchaus für möglich, dass der Grund dafür auch in seinem fortgeschrittenen Alter zu suchen sei. „Ich habe irgendwo gelesen, dass mit wachsendem Alter die Hirnzellen absterben, die mit Angstzuständen assoziiert werden. Das hieße, dass es nicht so sehr irgendwelche Übungen sind, die eine Besserung herbeiführen, sondern dass deine Gemütslage schlicht und ergreifend vom Zustand deiner Neuronen bestimmt wird.“
Unlängst erzählte er seiner Biografin Sylvie Simmons, dass er „in allem, was ich tat, immer nur versuchte, den Teufel zu besiegen, immer versuchte, die Oberhand zu gewinnen“. Abgesehen von Judaismus und Zen-Buddhismus flirtete er auch kurzzeitig mit Scientology. Er war nie verheiratet, hatte aber einige ernsthafte Beziehungen, unter anderem mit Joni Mitchell, Schauspielerin Rebecca De Mornay und der Frau, mit der er Anfang der Siebziger zwei Kinder bekam, Suzanne Elrod (keine Verbindung zu der „Suzanne“ des gleichnamigen Songs). Er trank und rauchte intensiv und experimentierte mit den verschiedensten Drogen. Auf besagter 72er-Tour, die in „Bird On A Wire“ dokumentiert wurde, taufte er seine Band auf den Namen „The Army“, woraufhin die Band ihn „Captain Mandrax“ nannte – das Schlafmittel war damals seine bevorzugte Droge.
In dem Film wirkt er ausgelaugt und reizbar – eine „ausgemergelte Nachtigall“, wie er sagt – und traktiert sein Publikum mit zickigem Humor. Auf seiner „Comeback-Tour“ hingegen war er dankbar für jeden Zuruf, jeden Applaus. „Es stimmt, ich war von den Publikumsreaktionen aufrichtig gerührt“, sagt er. „Ich erinnere mich an einen Auftritt in Irland und an ein derart wundervolles Publikum, dass ich Tränen in den Augen hatte. Ich sagte mir:, Du kannst dich doch nicht mit Tränen sehen lassen‘, drehte mich um und sah, dass unser Gitarrist ebenfalls heulte.“
Die Tournee war nicht zuletzt einer finanziellen Notlage geschuldet, nachdem sich sein Manager mit Cohens Ersparnissen abgesetzt hatte. Sträubte er sich, unter diesen Umständen noch einmal auf die Bühne zu gehen? „Sträuben ist vielleicht nicht das richtige Wort“, sagt Cohen, „aber eine gewisse Beklemmung und Nervosität waren nicht zu leugnen. Wir haben lange geprobt – länger, als es notwendig und sinnvoll war. Aber vorher ist man sich nie hundertprozentig sicher.“
Er hofft, in vielleicht einem Jahr noch zusätzliche Konzerte geben zu können und plant auch ein weiteres Album. Er ist bereits jetzt älter als Johnny Cash es zum Zeitpunkt seines letzten Albums war. Auf der Rückseite eines seiner Notizbücher hat er vermerkt: „Coming to the end of the book but not quite yet.“
Nach der Pressekonferenz werde ich in einen Raum geführt, wo ich doch noch Gelegenheit habe, ein kurzes Einzelinterview mit Cohen zu führen. Auch im direkten Gespräch strahlt er eine unerhörte Präsenz aus, eine Mischung aus altmodischer Höflichkeit und innerer Gelassenheit. Seine raspelnde Stimme, vom Rauchen tiefschwarz, klingt so beruhigend wie ein Wiegenlied. Ich frage ihn, ob er sich manchmal wünscht, den langen und schmerzhaften Prozess des Schreibens künftig vereinfachen zu können.
„Wissen Sie“, sagt er, „wir leben in einer Welt, wo Leute hinunter in die Minen geschickt werden, wo sie Coca-Blätter kauen und den ganzen Tag Schwerstarbeit verrichten müssen. In der Hunger herrscht, die Leute sich ducken müssen, um nicht von umherirrenden Gewehrkugeln getroffen zu werden, in der sie in dunkle Gewölbe verschleppt werden, wo man ihnen die Fingernägel ausreißt. Angesichts dieser Realität fällt es mir schwer, der Arbeit eines Songschreibers eine besondere Bedeutung beizumessen. Ja, ich arbeite hart – aber verglichen womit?“
Lernt er etwas beim Vorgang des Schreibens? Kristallisieren sich während der Arbeit an einem Song neue Ideen heraus?
„Ich denke schon, dass man etwas ans Tageslicht fördert, aber ich würde nicht von Ideen sprechen. Ideen sollte man lieber entsorgen. Ich mag keine Songs mit Ideen. Sie tendieren dazu, Slogans zu werden, sie tendieren dazu, sich immer auf der richtigen Seite eines Arguments zu befinden – ob es nun Umweltschutz, Vegetarismus oder eine Anti-Kriegs-Botschaft ist. All das mögen wunderbare Ideen sein, aber ich arbeite so lange an einem Song, bis sich diese Ideen – so relevant sie auch sein mögen – in eine subjektive Gewissheit des Herzens aufgelöst haben. Ich habe keine Ambitionen, einen didaktischen Song zu schreiben. Es geht immer nur um meine Erfahrung. Alles, was ich in einen Song hineinstecken kann, ist meine eigene Erfahrung.“
In „Going Home“, dem ersten Song des neuen Albums, heißt es, er wolle ein „manual for living with defeat“ schreiben. Kann man aus seinen Songs etwas über das Leben lernen?
„Ein Song funktioniert auf so vielen Ebenen. Er kann dem Herzen helfen, Prüfungen zu bestehen und Niederlagen zu verkraften, aber er kann auch hilfreich sein, wenn man das Geschirr spült oder putzt. Auch für eine beginnende Romanze hat er als Soundtrack im Hintergrund seine Funktion.“
Empfindet er es immer noch als Kompliment, wenn eine weitere Coverversion von „Hallelujah“ veröffentlicht wird?
„Es gab schon diverse Stimmen, die ein Moratorium forderten: Müssen wir den Song wirklich am Ende eines jeden TV-Dramas hören? Ein, zwei Mal verspürte auch ich den Impuls, mich dieser Forderung anzuschließen, aber wenn ich dann darüber nachdenke: Nein, ich bin sehr froh, dass man das Lied so oft singt.“
Definiert er Erfolg noch immer als Überleben?
„Ja“, sagt er und lächelt. „Für mich reicht das völlig.“