Lenny Kravitz im Porträt: Einer mit Wut
Krieg im Nahen Osten, US-Imperialismus rassistische Cops: Mit seinem elften Album, „Raise Vibration“, will Lenny Kravitz die Menschheit wachrütteln
Lenny Kravitz verschwendet keine Zeit, er legt sofort los: Wir stehen an einem Scheideweg! „Totale Zerstörung des Planeten oder seine Rettung – trefft eine Wahl!“ Vielleicht indem wir im Netz Gemeinschaften bilden? Nicht unbedingt ein Vorteil: „Die Leute offenbaren zunehmend, auf welcher Seite sie stehen. Es gibt immer mehr Rassisten, sie werden lauter, ihre Plattformen immer größer.“ Mit „Raise Vibration“, seinem elften Album, will der 54-Jährige ihnen alles entgegensetzen, was er hat.
Schon oft wurde Kravitz als Hippie bezeichnet – und auch belächelt. In den späten 80er-Jahren war der rastalockige Gitarrist in den Charts eine Ausnahmeerscheinung. Auf „Let Love Rule“ beschrieb er den Traum von einer Menschheit, die sich von verbindenden Gefühlen statt von kühler Taktik leiten lässt. Wer die Platte aber etwas länger hörte, vernahm auch dunkle Töne, wie in „Mr. Cab Driver“, der Geschichte eines Afroamerikaners, den kein Taxifahrer mitnehmen will. Und tatsächlich, 2001, als er längst ein Superstar war, wurde Kravitz festgenommen: Die Cops verwechselten ihn mit einem Kriminellen, die einzige Gemeinsamkeit mit dem Gesuchten war die Hautfarbe.
Den Song „Let Love Rule“ spiele er noch immer von Herzen gern: „Die Leute erfühlen den Text immer wieder aufs Neue.“ Kravitz’ neue Schlüsselstücke werden aber hoffentlich „Low“ und „It’s Enough“ sein – es sind die eindringlichsten, die er seit vielen Jahren komponiert hat. Zuletzt galt Kravitz ja eher als Celebrity denn als Künstler. Er war der Shopping-Partner seiner Nachbarin Barbara Becker, Unternehmensgründer (Kravitz Design Inc.: Hotels und Champagner), und auf der Leinwand spielte er in „Die Tribute von Panem“ den Stylisten von Jennifer Lawrence. Die Alben dieser Zeit? Wie Bewerbungsballaden für Castingshows. Dazu Schwanzrock, als wäre er ein Komiker.
„Die Leute offenbaren, auf welcher Seite sie stehen. Es gibt immer mehr Rassisten“
Nun singt Kravitz: „Is my sexuality creating such a tragedy?“ Lyrik für eine Zeit, in der die LGBTQ-Gemeinde sichtbarer denn je um Anerkennung kämpft. Das markante „Hoo-hoo“ in „Low“ stammt von Michael Jackson, der die Gesangsspuren zwei Jahre vor seinem Tod aufnahm. „Ich wollte seine posthume Popularität nicht ausnutzen“, sagt Kravitz. „Deshalb auch kein Duett. Michael kann ja, wie B. B. King, mit nur einem Ton die Welt erfassen. Eine Note, und deine Seele ist berührt. Ich verwendete vier bis fünf seiner Schreie.“
„It’s Enough“ wiederum funktioniert als moderner „Inner City Blues“. Wie Marvin Gaye trägt Kravitz den Soul eher bittend vor, aber ebenso harsch kontrastiert er ihn mit einem metronomartigen, mahnenden Pling des Glockenspiels: Die Zeit läuft ab. Kravitz singt von Krieg im Nahen Osten und von US-Polizisten, die schwarze Teenager erschießen. Doch nicht alles auf „Raise Vibration“ ist von Politik bestimmt – etwa das schönste Lied, obwohl es mit „Johnny Cash“ einen hipsterfreundlichen Titel trägt. Denn heutzutage loben ja Hans und Franz den „Man in Black“ in den Himmel – Kravitz aber verknüpft eine echte, intime Geschichte mit dem Country-Helden. Cash war bei Kravitz, als dieser am Telefon vom Tod seiner Mutter erfuhr. Deshalb singt er nun, 23 Jahre später, „hold me like Johnny Cash“.
Der Krebstod Roxie Rokers, einer Schauspielerin, ist eines seiner beständigsten Songthemen (es begann 1998 mit „Thinking Of You“). „Ich wohnte in Los Angeles bei Rick Rubin, auch Johnny hatte dort ein Studiozimmer“, erzählt Kravitz. Er schildert eine Szene, die cineastischer kaum sein könnte: „Johnny kam die Treppe runter, langsam, die Hand am Geländer. Er sah mich an, durchdringend, und er wusste, etwas stimmte nicht. Ich erzählte ihm, was passiert war. Eigentlich kannten wir uns kaum. Aber er und seine Frau umschlossen mich, hielten mich, sagten die richtigen Worte.“
Deshalb musste der Song „Johnny Cash“ auf „Raise Vibration“. Doch schon bald, sagt Kravitz, möchte er sein nächstes Werk veröffentlichen: eine Funk-Platte, unter anderem mit George Clinton.
Das Gespräch muss er nun aber beenden. Lenny Kravitz ist auf Tournee – und es gibt viele Leute, die auf ihn warten. Und viele, die ihn sehen wollen. Fast 30 Jahre nach „Let Love Rule“ gilt die Hoffnung noch immer: Menschen auf die richtige Seite zu ziehen, so viele wie nur möglich.
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