Lenny Kravitz: „Blue Electric Light“ kommt genau zur richtigen Zeit
Lenny Kravitz schreibt keine Lieder – er empfängt sie „von oben“. Auch sonst hat ihn der Schöpfer ganz gern.
„Was meinen Sie genau, mein Video sei N … S … F … not safe for … what?“ Lenny Kravitz hat eine Frage.
Mr. Kravitz, dürfen wir erklären?
NSFW steht für „Not Safe For Work“, die Kennzeichnung von verschickten Dateien, die Empfänger besser nicht im Büro auf Dienstrechnern öffnen. Etwa Nacktbilder. Kravitz schweigt. Dann sagt er, dass er den Begriff nicht kennt. Und wirkt verblüfft. Das ist erstaunlich, denn er ist im Netz, auch in den Sozialen Medien, aktiv. Kravitz, der immer wieder diverse „Sexiest“-Listen anführt, weiß, wie er sich inszenieren muss, um im Gespräch zu bleiben. Andererseits passt die Ahnungslosigkeit, die unschuldig wirkende Gegenfrage zu ihm. Für ihn ist Nacktheit normal. Und alle sollen ihn nackt sehen dürfen.
Als Kravitz im Oktober vergangenen Jahres das Video zu seiner Single „TK421“ veröffentlichte, trendete „NSFW“ sogleich auf Twitter. Er hatte sich einen begehrten Platz in der immer schmaler werdenden Aufmerksamkeitsökonomie einer potenziellen Zielgruppe gesichert. Der 59-Jährige gewann, kann man so sagen, die Herzen der Leute im Internet, darunter solche, die deutlich jünger sind als er. Gute Promo für sein 12. Studioalbum „Blue Electric Light“, das nun erscheint.
„Ach, nein, come on“, sagt er. „Die Inszenierung in dem Clip ist doch … zahm.“ Und er hat ja Recht. Er ist nackt zu sehen, aber nur von hinten. Und ein hüllenloser Hintern ist kein Aufreger mehr. „Das Video ist hoffentlich lustig“, meint Kravitz. „Man beobachtet, wie ich den Tag beginne, aufwache, mich strecke, in die Badewanne lege. Nichts Schockierendes!“ Und schiebt nach einer Kunstpause hinterher: „Zumindest für mich nicht!“
Nun sieht ein Rockstar Lenny Kravitz, der sich für eine Filmaufnahme in der Badewanne in seiner Villa auf der Bahamas-Insel Eleuthera räkelt, schicker aus als so manch anderer Mensch. Aber reden wir nicht weiter über sein Image. Sondern über seine neue Musik. Denn die ist endlich wieder richtig gut.
„TK421 bringt uns zum Pulsieren, gibt uns Hoffnung“
Die rätselhafte Betitelung „TK421“ ist an David Bowies „TVC 15“ von 1976 angelehnt: die manische Anbetung eines Fernsehgeräts, das ihm im Drogenrausch treue Dienste als Unterhaltungsmaschine liefert. Zur Bedeutung von „TK421“, einem Disco-Song mit der hymnenartig gebellten Refrainzeile „Can you feel it, my TK421?“, äußert Kravitz sich absichtsvoll ungenau. „Ein Lied über Positivität. Das Beste aus dem Leben machen.“ Dann kommt der einzige Moment im Gespräch, in dem er lacht: „Positivität … das muss für Sie keinen Sinn ergeben – tut es für mich aber durchaus!“
Dabei ist auch „TK421“, trotz mysteriösen Titels, typisch Lenny, typisch 1970er-Jahre-Lenny, nicht nur wegen der Bowie-Referenz. „TK421“ ist auch der Name des Soldaten in einem Siebzigerjahre-Film (eine Sturmtruppe aus „Star Wars“), sowie der Markenname einer aufgemotzten Stereoanlage, „mit noch mehr Bass“, aus P.T. Andersons Drama „Boogie Nights“ über die Pornoindustrie der Siebziger. Darin erträumt sich Penisakrobat Buck (Don Cheadle) in der Hi-Fi-Branche einen Reset. „TK421 bringt uns zum Pulsieren, gibt uns Hoffnung“, sagt Kravitz.
Die 1970er-Jahre sind Kravitz‘ Jahrzehnt. Seine Einflüsse sind Bowie, Stevie Wonder, John Lennon, George Clinton, Bob Marley. Er hat ein paar Jahre gebraucht, um diesen Weg eines Retrokünstlers selbstbewusst zu beschreiten. Geboren als Leonard Kravitz in Brooklyn, orientierte er sich zunächst an Gegenwartsmusiker, nannte sich zu Highschool-Zeiten Romeo Blue, möglicherweise die Farbenmystik von Prince und „Purple Rain“ im Sinn, jedenfalls kleidete er sich wie Prince. Ließ sich die Haare glätten und trug blaue Kontaktlinsen, schließlich war er „Blue“. Später sagte Kravitz, „Blue“ sei eine Abwandlung von Belew – Adrian Belew, der Prog-Rock-Gitarrist.
Die Öffentlichkeit, gerade die amerikanische Presse, hat allerdings selbst ein paar Jahre gebraucht, um Kravitz, vorsichtig formuliert, zu akzeptieren. Tatsächlich war er zu Karrierebeginn Anfeindungen ausgesetzt. Der Lebensweg des Lenny Kravitz erzählt auch eine Geschichte des Rassismus. Als 1989 sein Debüt „Let Love Rule“ erschien, stand HipHop in seiner Blütezeit. Warum der Schwarze denn ausgerechnet jetzt, hieß es, versuche, wie ein weißer Gitarrenheld aus der Hippie-Ära zu klingen? Als hätte es Jimi Hendrix nie gegeben.
„Lächerlich war das“, sagt Kravitz. „Und das habe ich damals schon gesagt. Hört mal. Rock and Roll wurde von Schwarzen erfunden. Und die Schwarzen wollten das nicht für sich pachten! Jeder ist geboren für den Rock and Roll.“ Das stimmt. Aber es hat nach ihm keinen schwarzen Rockstar gegeben, der so groß wurde, wie er. Was wohl auch einiges über die Chancen junger Schwarzer im Musikgeschäft aussagt, und noch mehr über Hürden im Kampf gegen Rollenerwartungen.
Im Jahr 1991 gelang ihm mit „It Ain’t Over `til It’s Over“ sein bis heute größter Hit in den Billboard-Charts – Platz zwei, die Nummer eins hielt Bryan Adams mit diesem gewissen Robin-Hood-Liebeslied über Wochen besetzt. Bei „Always On The Run“ gab Guns-N‘-Roses-Gitarrist Slash ein Gastspiel, und Kravitz stellte seinen eigenen Gitarristen Craig Ross vor. Der hatte eine Gibson-schwerlastgebeugte Körperhaltung wie Jimmy Page und einen Afro wie der „Simpsons“-Schurke Tingeltangel-Bob. Und war ein Weißer. Wieder hagelte es Kritik: Macht Lenny mit seiner Truppe jetzt auf Led Zeppelin, oder was? Rock im Jahre 1991, das sollten gefälligst Nirvana und Pearl Jam übernehmen. Kravitz blieb unbeeindruckt. „Lenny“, sagte sein Freund Jay-Z später, „ist konsequent. I look at him as someone who stuck to their guns.“
Das Gespräch fällt nun auf ROLLING-STONE-Gründer Jann Wenner, der für einen 2023 erschienenen Interviewband mit sieben Musikergrößen sprach, alle Männer, alle weiß, und mit einer Erklärung für diese Auswahl nicht hinter dem Berg hielt. Die von ihm in Betracht gezogenen Künstlerinnen seien, ebenso wie die Schwarzen Marvin Gaye und Curtis Mayfield, „auf dieser intellektuellen Ebene nicht artikuliert genug“ gewesen, um in seine Meisterliste aufgenommen zu werden.
Wenner verlor daraufhin seinen Vorstandsposten in der Rock & Roll Hall of Fame. Mittlerweile hat er sich für seine Aussagen entschuldigt. Kravitz kennt Wenner seit 1989, mehr noch: „Wir sind eine Familie“. Aber: „Was er da sagte, war verrückt. Schrecklich. Leider habe ich mit ihm seit diesem Interview nicht mehr gesprochen.“ Er sei mit dessen Söhnen, darunter dem jetzigen ROLLING-STONE-Chef Gus Wenner, befreundet, sehe sie regelmäßig. „Ich bin keiner, der nicht verzeiht. Und in Familien ist es so: Es gibt immer das eine Mitglied, mit dem man sich mal uneinig ist.“
Nachsicht und Verzeihung – ob gegenüber Wenner oder Kritikern der frühen Jahre – können anscheinend ein starker künstlerischer Antrieb sein. Nach „Mama Said“, jenem Album mit dem schmachtenden „It Ain’t Over `til It’s Over“, entwickelte Kravitz sich zu einem der populärsten Sänger der Dekade. „Are You Gonna Go My Way?“ erschien 1993 auf dem Höhepunkt des von Europa ausgehenden Siebziger-Revivals, das ausgerechnet Erasure ein Jahr zuvor mit ihrer „Abba-esque“-E.P. eingeleitet hatten; vier Jahre nach „Let Love Rule“ war man also so weit. „Are You Gonna Go My Way?“ hatte nicht nur einen Hendrix-artigen Titel. Kravitz klang auch so gut wie Hendrix. Wenn er mit diesem Song seine Konzerte beschließt, und das macht er traditionell bis heute, geht man später mit Herzklopfen ins Bett.
„Lenny geht mit Lederhose ins Fitness-Studio“
Nach diesem Welthit versuchte Kravitz, sein Image als Nostalgiebarde abzustreifen. War das zu kühn? Undankbar? Er hatte eben Angst, als restaurativ abgestempelt zu werden. „Rock and Roll Is Dead“ proklamierte er 1995, als Statement stark genug, um Prince nur drei Monate später zum „Gegensong“ namens „Rock ‘N’ Roll Is Alive! (And It Lives In Minneapolis)“ zu provozieren. In sein 1998er-Album „5“ führte Kravitz elektronische Klänge ein, was jedoch befremdlich erschien. Das stumpfgedreschte „Fly Away“ wurde seine bekannteste Nummer, leider auch wegen der Verwendung in einer Autowerbung. „Ausverkauf!“, jubilierten Rezensenten schadenfroh.
Kravitz wurde zu einer Celebrity, zu einem Markennamen. Er konnte es sich leisten, keine Story mehr zu erzählen, sondern ein Album schlicht „Lenny“ zu betiteln – wie ein fester Händedruck samt „Sie kennen mich“-Zusicherung. Er ließ die Siebzigerjahre los. Dafür verlor er die Orientierung. Wer Lenny Kravitz heutzutage googelt, stößt leider kaum noch auf seine Musik. Suchergebnisse der ersten Seiten: „Lenny geht mit Lederhose ins Fitness-Studio“, „Tochter Zoë verlobt – das hält Lenny von den Heiratsplänen“, „Lenny entwirft meterlangen Schal und läuft damit durch Paris“, „Lenny geht shoppen mit Jason, dem Ex seiner Ex-Frau Lisa“.
Dabei versteht Kravitz sich seit vielen Jahren wieder als politischer Musiker. Die Wahl Barack Obamas inspirierte ihn 2011 zu seinem Album „Black and White America“, und sein letztes, „Raise Vibration“ von 2018, ist eine Anklage gegen Trumps Amerika. „It’s Enough“, sang er, weil weiße Polizisten Schwarze töten, dazu ein mahnendes, Metronom-artiges Glockenspiel, wie in Marvin Gayes „Inner City Blues“ von 1971, seiner Kritik an den lebensunwürdigen Zuständen von Schwarzen in den Großstädten.
An Gayes „Inner City Blues“-Harmonien angelegt ist auch „It’s Just Another Fine Day (In This Universe of Love)“, das Eröffnungsstück seiner neuen Platte „Blue Electric Light“. „Lockdown!“, ruft Kravitz darin. Dass er vielleicht einer der letzten Superstars ist, der über die Pandemie singt, und das in einem nicht gerade Klaustrophobie verursachenden Landsitz in den Bahamas, juckt ihn nicht. Außerdem erschien der Albumvorgänger noch in einer anderen Ära. Kravitz hatte einiges zu verarbeiten. „Der Lockdown hat mich geprägt. Prägt mich bis heute“, sagt er. „Erstmals konnte ich nicht, wann immer ich wollte, bei den Menschen sein, die ich liebe. Beziehungen wurden über große Distanzen geführt. Lauter Trennungen, die mir schwerfielen.“
Und doch klingt Kravitz erstmals seit vielen Jahren so, als sei eine Last von ihm gefallen. Die beschworene Positivität zeigt sich in Liedern wie „Love is My Religion“ oder „Let It Ride“, in dem er schmusebrummt wie Barry White. Seine Balladen waren immer schon ein wenig besser als die Rocknummern. Auf seine ersten vier Alben schafften es insgesamt nur 7 Uptempo-Songs – von immerhin 48 Stücken. Kravitz liebt die Gemächlichkeit.
Auf „Blue Electric Light“ sind es Lieder wie „Honey“ oder „Spirit In My Heart“, die so herzensgut, fast schon naiv und dabei so hochmelodiös klingen, als hätte es sie schon immer gegeben. Etwas Besseres als genau dieses Gefühl kann sich beim Hören nicht einstellen. „Honey“ täte sich auf einem Al- Green-Album gut, „Spirit In My Heart“ auf einem von Neil Diamond.
Darüber freut sich Kravitz. Er spricht dann wie sein Idol Stevie Wonder, der sich weniger als genuiner Erschaffer, sondern „Empfänger“ von gottgesandten Songs versteht, ohne selbst schöpferisch werden zu müssen – die nicht nicht immer bescheiden wirkende Geschichte vom erleuchteten Messenger also. „Die Stücke wurden mir von oben geschickt“, erklärt Kravitz feierlich. „Ich bin nur eine Antenne. Meine Aufgabe ist es, Schwingungen zu spüren. Ich fühle mich geehrt, diesen Song-gewordenen Schwingungen Schönheit verleihen zu dürfen.“ Deshalb würde er für die Komposition seiner Musik auch niemals auf Künstliche Intelligenz zurückgreifen. „K.I. ist mit Spiritualität unvereinbar. Und Spiritualität ist mein Leben. Gott ist mein Leben.“
„Mich trifft jede kriegerische Auseinandersetzung“
In diesem Jahr steht in den USA eine Wahl an, die für die Welt schlimme Konsequenzen haben kann. Möglicherweise muss Kravitz bald wieder ins Studio, um ein weiteres Album gegen Donald Trump aufzunehmen. „Unabhängig davon, dass ich im Lockdown gleich drei Platten aufgenommen habe“, sagt Kravitz, „wünsche ich mir, dass die Menschen das Richtige tun.“ Viele Politiker würden Hass predigen, um einen Mythos zu nähren: „Dass Konflikte nur mit Gewalt gelöst werden können. Und das ist tragisch.“ Kravitz spricht, wie es zur Kultur der Protestmusiker gehört, von den „powers that be“, den Mächtigen, deren Anliegen die Aufrechterhaltung jenes Status Quo ist, der in vielen Ländern die Einschränkung der Freiheit meint. „Wir werden zunehmend auf Konflikt programmiert, ohne es zu merken. Stark sind wir aber nur mit vereinten Kräften.“
Als spiritueller Mensch bewegt Kravitz sich zwischen den Religionen, sein Vater war ukrainisch-jüdischer, seine Mutter bahamesisch-afroamerikanischer Abstammung. Seine Weltsicht ist von seinem Glauben bestimmt. Die Ukraine befindet sich im Krieg, und Juden sind, nicht erst seit dem Israel-Gaza-Konflikt, zum verstärkten Ziel von Attentaten geworden, weltweit. Kravitz ist Halb-Ukrainer und jüdisch – wie betroffen fühlt er sich? „Mich trifft jede kriegerische Auseinandersetzung. Jede. Punkt. Ob im Mittleren Osten, der Ukraine, im Kongo oder in Somalia.“ Er wirkt aufgebracht.
Kravitz weiß, was manche Leute wollen, dann präsentiert er den nackten Hintern, lässt sich trenden, singt von einer gepimpten Stereoanlage und zeigt Eindrücke aus einem Anwesen, in dem sich Corona durchaus aussitzen lässt. Aber er lässt auch keinen Zweifel daran, dass in ihm ein Kämpfer für die gerechte Sache steckt. Den Kämpfer musste er selbst, zu Beginn seiner Karriere, formen.
Das Jahr ist noch lang, und Kravitz hofft, wie er sagt, dass alles gut ausgehen wird. „Wir Menschen können so klug sein. Warum sind wir es nie?“