LEINWAND Neu im Kino
von Kenneth Branagh ab 5. Januar Die Cholera liegt über Ingolstadt. Zerlumpte Bewohner strömen mit ihren Habseligkeiten durch Gassen und Gossen zum Tor. Nur Victor Frankenstein bleibt. Er hat einen Traum. „Es muß möglich sein, den Tod zu überlisten und gesundes Leben zu schaffen“, ereifert er sich gegenüber seinem Studienfreund Henry. Der erschrickt und mahnt: „Laß Gott aus dem SpieL“ Doch Gott, weiß Frankenstein, ist schon lange tot und er gebärt ein Leben, das entsetzlicher ist als der Tod. Francis Ford Coppola hatte einen Traum: Er wollte das totale künstliche Kino, eine Filmfabrik, in der er allein am Regie-Computer über Leben, Liebe und Tod entscheidet. Dieses filmische Universum sollte produktionstechnischen Widrigkeiten trotzen und Coppolas ohnehin gewaltigen Perfektionismus steigern. Coppola wollte Gott spielen. Der cineastische Egomane und Eigenbrötler investierte sein Vermögen in die Romanze „Einer mit Herz“. Der Film war eine Totgeburt, Coppola danach ruiniert. Erst ein Jahrzehnt später wagte er mit „Bram Stoker’s Dracula“ einen weiteren Wahnsinnswurf. An der Kinokasse überlebte dieser nicht. Immerhin brachte ihm seine ganz und gar artifizielle Allegorie künstlerische Genugtuung ein. Coppola – ein Wiedergänger. Nun hat der Gebieter über Illusion, Innovation und Irrsinn für Regisseur Kenneth Branagh die Adaption von „Mary Shelley’s Frankenstein“ produziert. Wieder die Version eines Horror-Romanes und Kino-Klassikers mit im Titel artikuliertem Anspruch, der literarischen Vorlage gerecht werden zu wollen. Wieder Manie, Manierismus und Mythologie an der SchweUe von Himmel und Hölle. Und wieder ein Wagnis, Kino als kommerzielle Kunstform stilisieren zu können. Branagh, kaum minder besessen als Coppola, hat mit seinem in Sprache und Dramaturgie berstenden Regie-Debüt „Henry V.“ bewiesen, daß originalgetreue Literaturverfilmungen origineller sein können als viele verschnarchte Historiendramen. Neben Neil Jordan, der gerade Anne Rices, Jnterview mit einem Vampir“ verfilmt hat, ist Branagh die europäische Alternative in Hollywood. Jetzt muß sich der Ire wie Coppola und Jordan an Klischees messen lassen, die Filme der Vergangenheit in den Köpfen der Zuschauer gezeugt haben. Peter Cushing spielte Frankenstein in billigen Produktionen der britischen Hammer-Studios der 60er Jahren als wahnsinnigen Wissenschaftler. Boris Karloff prägte mit seiner beachtlichen Darstellung in James Whales Tonverfilmung von 1931 Frankensteins Kreatur als Inkarnation des Anormalen. Monster und Mutationen. Branagh beginnt die Moritat des Frankenstein als Familienchronik. Der Sohn eines Genfer Gutsbesitzers und Arztes (Ian Holm) erhält im Knabenalter mit Elizabeth eine Adoptivschwester. Sie wachsen zu lebensfrohen Edelmenschen heran, picknicken, tanzen und verlieben sich ineinander. Dazwischen betreibt er Physik und Chemie. Die snobistische Leichtigkeit schwindet, als seine Mutter (Cherlie Lunghi) bei der Frühgeburt ihres zweiten Sohnes stirbt. Das Übel in der Natur, das unweigerliche Jenseits -Frankenstein mag es nicht dulden. Am Gebärstuhl und dem blutbesudelten Leichnam seiner Mutter gelobt er, dem Tod ewiges Leben abzuringen. Dafür läßt er Elizabeth (Helena Bonham Carter) zurück und reist nach Ingolstadt, um dort Medizin zu studieren. Frankenstein opponiert gegen Professoren, die rein anatomische Fakten vermitteln und ethisch-moralische Fragen des Lebens aussparen. Damit weckt der störrische und strebsame Jüngling das Wohlwollen von Professor Waldman (John Cleese). Der grauhaarige, grimmige Schrat hat fast die Formel von Leben und Sterben dechiffriert, war jedoch vor einem Versuch am Menschen bislang zurückgeschreckt. Als Waldman bei einer öffentlichen Impfung gegen die Cholera von einem widerspenstigen Krüppel (Robert De Niro) erstochen wird, führt Frankenstein dessen Werk allein zuende. Mit Rohmaterialien, also Körperteilen aus dem Leichenschauhaus, dem Gehirn von Waldman und Kopf des Mörders, flickt er den neuen, überlebensgroßen Menschen zusammen. Frankensteins ungeheuerliche Tat erschafft ein Ungeheuer. Branaghs Epos selbst ist oft wie Frankensteins Kreatur.“Funktionsgestört, mitleiderregend – und tot“, notiert Frankenstein nach dem Experiment in seinem Tagebuch. Branagh spielt diesen faustischen Forscher – und De Niro dessen Schöpfung als tragische Gestalt, die mißgestaltet und mißverstanden das Menschsein sucht und nur zu ihrer brutalen Seite findet Das selbstlose Schauspiel dieser beiden hätte bereits ein grandioser Film werden können: die Rache und die Liebe, Lebensphilosophie und Todessehnsucht, aufwendige Kulissen und Kostüme, Feste und Frevel. Doch die beiden Drehbuchautoren Steph Lady und James V. Hart scheinen nicht ihren Dialogen zu trauen, und der Regisseur nicht seinen Bildern. Gedanken und Gefühle werden angerissen und von den nächsten fortgerissen. Für biographische Notizen lahmt die Geschichte eine halbe Stunde. Manche Szenen haben monumentales Pathos. Während seines Menschenversuches schuftet Branagh mit entblößtem Oberkörper wie ein Stahlwerker in einem Labor aus Stromblitzen, kupfernen Apparaturen und Ur-Suppen. Beim finalen Griff zur Wiederbelebung thront der Freibeuter der Forschung auf seinem Hexenkessel. Bei Branagh, dem Shakespeare-Schüler und ehemaligen Bühnenleiter, bleibt Kino immer auch Theater. Für seine mitreißenden Posen mag das stimmig sein. Aber die mächtige Marmortreppe im väterlichen Landhaus, über die sich eine rote Schleppe wallt, ist einfach zu pompös. Mary Shelley hatte ihren Roman als melodramatische Parabel auf den haltlosen Fortschrittsgeist des 19. Jahrhunderts gedacht. Da sich heute viele Zweifel zur Gentechnologie aufdrängen, werden Interpretationen von „Mary Shelley’s Frankenstein“ als Gleichnis zur Zeit unvermeidlich bleiben. Vor allem aber geht es um Leidenschaft, die Gutes will und Böses schafft, und die Sehnsucht eines Individuums in der Gesellschaft. Und Robert De Niro ist der einzige Mime für derartige Verzweiflungsrollen. Seiner Filmfigur fehlt ebenso Identifikation wie seinem Vietnam-Veteranen Travis Brickle in „Taxi Driver“, und sie rächt sich wie sein Frauenmörder Max Cady in „Kap der Angst“. Als die Kreatur ihr Los begreift, bricht sie nach Genf auf und fordert von Frankenstein ein ebensolches Weibsbildnis wie sie selbst. Hier, fast am Ende des Films, liegen Herz und Seele frei. Das Begehren von Frankenstein und seiner Kreatur um Elizabeth fallen ineinander, das Schicksal der dreien ist verflucht und untrennbar miteinander verbunden. Doch ob Märchen, Melodram, Menetekel: Nur der Verwandlungsvirtuose De Niro bleibt mit seiner genialischen Routine als Quasimodo wirklich haften. „Frankenstein oder Der neue Prometheus“ betitelte Mary Shelley ihren Roman. Prometheus, Titan der griechischen Sage, gab der Menschheit das Feuer und gilt als Kulturstifter. Zur Strafe schmiedete ihn Zeus an einen Felsen, wo ihm ein Adler die stets nachwachsende Leber aushackte. Ein Antarktisforscher, (Aidan Quinn), dem Frankenstein seinen Fanatismus und seine Fatalitäten gebeichtet hat, ließt das passende Bibelzitat: „In seiner Weisheit lag Schmerz.“ Frankenstein mißachtete die Naturgesetze und büßte dafür mit seinem Leben. Coppola zog sich mit eigenwilligen und gigantomanischen Projekten den Zorn von Hollywood zu. Nun ist er mit Kenneth Branagh wieder im großen Stil gescheitert. Der Wissenschaftsgläubige und diese Filmfanatiker – sie sind Brüder im Geiste. Oliver Hüttmann