Lee Child: „Jack Reacher und Boris Johnson in einer einsamen Hütte? Da käme Johnson nicht mehr lebend raus“
Bei der „Friendship Tour“ machten sich die britischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller Lee Child, Kate Mosse, Ken Follett und Jojo Moyes gegen den Brexit stark – und versicherten uns, dass nur eine Minderheit der Briten für den EU-Austritt ist.
Klare Worte von Lee Child bei der Pressekonferenz zur „Friendship Tour“: Auf die Frage eines Journalisten, wie sich dessen Romanfigur Jack Reacher mit dem britischen Premierminister Boris Johnson verstehen würde, müssten die beiden Tage in einer einsamen Hütte in Cornwall verbringen, antwortete der Schriftsteller: „Nur einer käme da lebend raus, und das wäre nicht Boris Johnson.“
Bei der am Abend folgenden Veranstaltung wird Child noch deutlicher: „Wäre Johnson nicht auf eine Elite-Privatschule gegangen, sondern auf meine, dann säße er heute wohl im Rollstuhl.“
Dabei ist Lee Child, bürgerlich James Dover Grant, auf einer Friedensmission unterwegs. Die führt ihn diesen Monat durch Europa: Er war schon in Madrid, Mailand, fährt weiter nach Paris – und gastierte am Samstag (23. November) im ausverkauften Großen Sendesaal des rbb in Berlin. Und er kam nicht allein, begleitet wurde er von den britischen Autorinnen Kate Mosse („Das verlorene Labyrinth“) und Jojo Moyes („Ein ganzes halbes Jahr“) sowie Ken Follett („Die Nadel“, „Die Säulen der Erde“).
Gemeinsam machen sie die „Friendship Tour“: In selbstironischen, zweistündigen Frage-Antwort-Runden entschuldigen sich diese klugen Briten für den Brexit und versicherten Europa, dass inzwischen schon deutlich mehr als die Hälfte ihrer Landsleute in der EU bleiben würde, dürften sie ein zweites Mal abstimmen.
Ken Follett sagt, seine Kollegen und er seien beschämt: „Die britische Regierung vermittelt den Anschein, als bräuchte man Europa, also auch die europäischen Leser nicht mehr.“ Man wolle klarmachen, dass das nicht so sei.
Jojo Moyes ergänzt: „Am Morgen nach der Brexit-Abstimmung habe ich geweint – ich fühlte mich wie eine Fremde in meinem eigenen Land.“ Sie könne nicht nachvollziehen, wie das Land, in dem sie groß wurde, derart fremdenfeindlich und abgeschottet werden konnte. „Die Politiker sprechen aber nicht für uns“. Deshalb habe Moyes sich gefreut, als sie von Follett auf die „Friendship Tour“ eingeladen wurde.
Lee Child möchte den in England und den USA wachsenden Populismus auch als Warnung für Europa verstanden wissen: „Wir Briten haben das Chaos nicht kommen sehen – seid wachsam und kämpft gegen Extremismus an.“ In Spanien, Ungarn, Polen, auch in Deutschland seien die Populisten auf dem Vormarsch. Kate Mosse: „Bücher kennen keine Grenzen. Wir sind alle vereint durch die Bücher, die wir lesen.“ Der EU-Austritt, sagt die Schriftstellerin, sei das Ergebnis britischer Panikmache, die schon vor 30 Jahren mit dem Mythos angefangen habe, dass „krumme Bananen begradigt“ werden sollten.
Lee Child im Interview: „Reachers Methoden sind in Amerika zum Mainstream geworden“
Mit Jack Reacher, Statur wie ein Türsteher, Kombinationsgabe wie Sherlock Holmes, hat Lee Child eine der meistgeliebten Romanfiguren unserer Tage kreiert. Eigentlich will Ex-Militärpolizist Reacher nur seine Ruhe haben und nach Jahren des Armeedienstes den amerikanischen Kontinent bereisen. Doch alltägliche Situationen führen oft zu Situationen größeren Ausmaßes, und so muss Reacher einheimische wie ausländische Kriminelle oder gar Terroristen bekämpfen, bisweilen deckt er auch Verschwörungen im US-Staatsapparat auf. Der überwiegend in New York lebende Child hat seit 1997 schon 24 Bücher über den Mann ohne Gepäck geschrieben, die meisten davon eroberten Platz eins der Bestseller-Liste der „New York Times“. In Deutschland wächst die Fangemeinde stetig, auch dank des ersten Kinowerks, „Jack Reacher“ (2013) mit Tom Cruise in der Hauptrolle. Im Blanvalet-Verlag erschien zuletzt Band 21 der Reihe, „Der Ermittler“.
Hat die Tatsache, dass die Briten sich mit dem Brexit gegen Europa abschirmen, Einfluss auf Ihre Romanfigur Jack Reacher?
Reacher ist ein guter Kerl, er will eigentlich immer nur das tun, was richtig ist. Aber seine Methoden sind meist wild, brutal und fundamentale Selbstjustiz. Mit diesen Eigenschaften meiner Figur fühlte ich mich noch ein wenig wohler, als sie noch im Kontrast stehen konnten zu einer liberalen Gesellschaft, die von einem gewissen Zivilität geprägt war. Reachers Methoden waren eben entschuldbarer, als sie sich abhoben von der Normalität. Es ist bisweilen schon unfreiwillig lustig, wie anders sein Art ist, Dinge zu klären.
Und wie fühlen Sie sich jetzt?
Es beunruhigt mich zu sehen, wie Reachers Methoden in den USA immer mehr zum Mainstream werden. Es gibt auch keine ironische Distanz mehr zur Härte, die er aufbringt. Die Ungleichheit zwischen Fantasie und Realität hat abgenommen. Die Realität imitiert zunehmend die Fantasie.
Der Brexit soll auch gewährleisten, dass weniger Geflüchtete ins Vereinte Königreich kommen. Wie ist Ihre Haltung zur Flüchtlingskrise?
Dazu fallen mir drei Dinge ein. Erstens, es regt mich auf, wenn Geflüchtete schlecht behandelt werden und ihnen nicht geholfen wird. Als wäre es überhaupt schon einfach, ein Geflüchteter zu werden. Man wird nicht zum Spaß Geflüchteter. Sondern aus Verzweiflung über eine schreckliche Lebenssituation. Man verlässt seine Heimat und reist tausende Kilometer weit unter schlimmen Bedingungen. Das ist für mich eine Faustregel: Wer so eine Flucht wagt, qualifiziert sich automatisch für den Anspruch auf Hilfe. Zweitens, die populistische Wut, die sich in Großbritannien wie Amerika breit macht, hat ihren Ursprung auch in der Migration der Hilfesuchenden – was zeigt, wie falsch die Populisten liegen. Und, drittens: Die jetzigen Migrationsbewegungen waren noch längst nicht alles.
Wie schätzen Sie die Entwicklungen ein?
In den kommenden Jahrzehnten werden mehr und mehr Geflüchtete im Zuge der Klimakrise zu uns kommen. Der Meeresspiegel steigt an, es werden Millionen, es könnten Milliarden Menschen sein, die sich bis zum Ende des Jahrhunderts auf die Flucht begeben. Unsere Welt versänke im totalen Chaos.
Sie wurden mit dem britischen Ritterorden „The Most Excellent Order of the British Empire“ ausgezeichnet, sind jetzt ein „CBE“, ein „Commander“. Wie ist ihr Verhältnis zur Monarchie?
Ich bin kein Monarchist, nicht im geringsten. Ich missbillige das System. Ich finde, die Monarchie verzerrt unsere Gesellschaft auf eine sehr subtile Weise. Ich könnte kein formelles Staatsoberhaupt sein, natürlich nicht, ich würde es auch nicht sein wollen. Ich könnte es aber vor allem nicht, weil ich eben in der falschen Familie geboren wurde, kein blaues Blut habe. Ich hätte wohl auch kein Top-Rechtsanwalt werden können. Erziehung, Klasse, regionale Herkunft hätten mir im Weg gestanden. Unsere Gesellschaft wäre nur dann egalitär, wenn wir die Monarchie abschaffen würden. Zur Ordensauszeichnung selbst: Sie wird mit der Monarchie in Verbindung gebracht, aber sie ist eigentlich eine Staatsauszeichnung wie die „National Medal of the Arts“ in den USA, offiziell im Namen des Volkes. Ich nehme Auszeichnungen an, alles andere wäre unhöflich.
Sind Sie ein Patriot?
Das kommt auf die Definition an. In meinem Roman „Night School“ wird Reacher gefragt, ob er einer ist. Blind vor Liebe zu sein hat mit Patriotismus nichts zu tun. Man muss auch zugeben können, dass das eigene Land oft falsch liegt, dass die Regierung fehlerhaft handelt. Ich finde, es ist die Pflicht jedes einzelnen, auf solche Missstände hinzuweisen.
Lee Child, „Der Ermittler: Ein Jack-Reacher-Roman“, Blanvalet Verlag, 417 Seiten.