Lebenskünstler

Normal ist das nicht, das ist schon mal klar. Die Lehmann-Trilogie von Sven Regener folgt ihren eigenen Gesetzen. 2001 erschien mit „Herr Lehmann“ der letzte Teil zuerst, 2004 folgte mit „Neue Vahr Süd“ der tatsächliche Beginn. „Der kleine Bruder“ (Eichborn) ist nun das fehlende Mittelstück. Der mit 300 Seiten eher kurz ausgefallene Roman spielt in Kreuzberg, 1980. Frank Lehmann ist endlich der Bundeswehr entkommen, hat aber keinen weiteren Plan und will deshalb erst mal seinen Bruder besuchen, der allerdings in ganz Berlin nicht auffindbar ist. Dafür bevölkern viele skurrile Gestalten die Stadt, von denen sich jeder tendenziell für ein bisschen besser als den anderen hält. Irre sind sie alle.

Zwischendurch, wenn Lehmann nicht gerade besoffene Bassisten tragen oder Schrottskulpturen anschauen muss, philosophiert er wieder. Die Alltagsweisheiten machen den Charme der kleinen Geschichte aus. Da fragt sich Lehmann zum Beispiel: „Was bringt das schon, wenn man den anderen immer ein Stück voraus ist? Ich meine, wenn einer zu früh ist, dann ist das doch irgendwie auch unpünktlich.“ Nein, ein Karrierist ist Lehmann nicht – kein Wunder also, dass er neun Jahre später immer noch hinterm Tresen steht und Bier verkauft. Es passiert nicht viel an diesen ersten Tagen in Berlin; meistens sind die Protagonisten auf dem Weg zu einer Party, einer Kneipe, zur „ArschArt-Galerie“ oder einer neuen Wohnung. Manchmal gibt es Streit, noch häufiger Bier. Die Typen nennen sich P. Immel oder Dr. Votz, und dass man da manchmal erschaudert, ist sicher beabsichtigt. Nostalgie kommt jedenfalls nicht auf, weil Regener die Zeit so unbarmherzig genau beschreibt, dass man sie bestimmt nicht noch einmal erleben möchte.

Wenn gerade keine zünftige Schlägerei stattfindet oder eine qualvoll moderne Lesung, hat Regener viel Platz, um die Charaktere liebevoll herauszustellen. Karl, später Lehmanns bester Freund, wird hier als ewig lamentierender, so gutmütiger wie nervtötender Lebenskünstler eingeführt. Er ist eine durch und durch Berlinerische Figur, die ihr Herz auf der Zunge trägt und stets einen Ratschlag parat hat. Die Randfiguren mögen teilweise Karikaturen sein, aber es sind treffende. Die aufgesetzte Kunst-Attitüde, die hohle Provokation der sogenannten Szene – da steht Frank Lehmann mittendrin wie eine Bremer Laterne, die hin und wieder angepisst wird, aber sich davon nicht lange irritieren lässt. Er versteht den Zirkus nicht, bewegt sich jedoch mit einem solch unerschütterlichen Stoizismus durch diese fremde Welt, dass er immer irgendwie durchkommt.

Im Spannungsfeld zwischen Punks und Hippies, Performance-Künstlern und Hausbesetzern hält sich Lehmann meist zurück. Er ist nun mal Norddeutscher, da wahrt man auch im größten Chaos eine gewisse Distanz. Ist besser, als sich zu weit aus dem Fenster zu lehnen: „Man weiß nie, dachte er, was wirklich gespielt wird, kaum hat man eine Meinung, schon ist man in die Falle gegangen, dachte er.“

Wer sich nicht helfen kann und bei Lehmanns Gedankenkreisen hin und wieder Sven Regeners Stimme zu hören glaubt, der kann auch gleich auf das Hörbuch (tacheles!) zurückgreifen – oder den Autor bei seiner Lesereise besuchen (Termine unter www.rofmusic.de).

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