Lebenshilfe mit Fernbedienung
War es nun „das verlorene Jahrzehnt“, wie „Der Spiegel“ titelte? Das Jahrzehnt der Verunsicherung? Der Unvernunft? Der verpassten Chancen? Die „Nuller-Jahre“ klingen ja schon so, wie sie dann auch waren: ziemlich wertlos.
Während also die Welt noch immer der Zeit vor dem 11. September 2001 hinterhertrauert oder der Welt vor der Finanzkrise, schlichen sich in deutsche Wohnzimmer immer mehr kleine Wohlfühlgeister ein. Zur HauptSendezeit kamen sie, um uns zu zeigen, dass es Hoffnung gibt. Eine garantierte Ganztagsbetreuung für Kinder ist immer noch Utopie, doch zumindest für Erwachsene hat sich im Laufe der 2000er Jahre eine Art 24-Stunden-Fürsorge durchgesetzt. Der Fernseher ist zum Helfer und Heilsbringer geworden, man hat sogar ein neues Wort dafür geschaffen: „Coaching-TV“.
Zunächst mussten die geschmacklosen Kachel-Couchtische und erdrückenden Schrankwände weichen, die machten einen ja schon ohne Hartz IV oder Ein-Euro-Job depressiv. Gegen die Farblosigkeit heimischer Stuben zog Tine Wittler in den Kampf. Nach ihrem „Einsatz in vier Wänden“ sahen zwar alle Wohnungen vor allem nach Tine Wittler und nie nach dem eigentlichen Mieter aus, doch die notorisch fröhliche Westfälin ließ einen glauben, dass jeder sein Schicksal in die Hand nehmen kann – mit Schraubenzieher und MDF-Platte, indirekten Lichtquellen und intensiven Wandfarben. Aber Obacht, nicht übertreiben mit dem Renovieren, das kostet ja alles Geld. Und daran hapert es bekanntlich allerorten.
Deutschland ist längst nicht mehr nur knietief im Dispo, sondern überschuldet. Wenn die „Kochprofis“ das Restaurant nicht retten können, wenn „Hagen hilft“ nicht mehr funktioniert, wenn Angelika Kallwass die Kaufsucht nicht kurieren konnte, dann blieb einem – kurz vor der Privatinsolvenz nur noch ein Mann. Ein Berliner, dessen liebster Satz lautet: „Sie leben über ihre Verhältnisse!“ Wenn Peter Zwegat vor seinem Flip-Chart mit vielen roten Zahlen steht und schmalllippig Anklage erhebt, weiß man: „Raus aus den Schulden“ kommt man nicht auf die sanfte Tour. Und doch: In einem Geschäft, das vom Voyeurismus lebt und permanent Tragik, Tränen und Trara braucht, gelingt es Zwegat seit Jahren, tatsächlich seriös zu wirken. Was vielleicht daran liegt, dass er den Schuldnerberater nicht spielt, sondern wirklich einer ist.
Andererseits: Katharina Saalfrank ist ja auch Sozialpädagogin. Doch wenn „Die Super-Nanny“ kommt, geht es nicht darum, den Familienfrieden wiederherzustellen oder lausigen Eltern die Leviten zu lesen. Vor allem will sich der Zuschauer im wohligen Gefühl suhlen, dass im Verhältnis zu den Verhältnissen, die man dort sieht, bei ihm zu Hause alles in Ordnung ist. Und wer sich trotzdem beschwert, kommt auf die „stille Treppe“.
Größere und doch ähnlich wehrlose Kinder haben längst andere Berater: Sie orientieren sich an Superstar-Suchmaschine Dieter Bohlen oder bewerben sich bei Heidi „Ich habe heute kein Foto für dich“ Klum. „Germany’s Next Topmodel“ wurde bisher zwar nicht gefunden, aber eins haben wir immerhin gelernt: Wer sich keine Spinnen aufs Gesicht setzen lassen will, wer Zickenalarm scheut oder nicht bereit ist, jederzeit in Hysterie auszubrechen, der versucht es lieber bei einer Model-Agentur als bei ProSieben.
Der einzige Bereich, in dem die Nation überraschend beratungsresistent zu sein scheint, ist die Küche. Da kann Tim Mälzer noch so viele einfache Gerichte vorschlagen, können Lafer und Lichter unaufhörlich Schmankerl zubereiten – die Deutschen vertrauen weiter auf ihre Tiefkühlpizza.
Jahrzehnte nach „Herzblatt“ erfuhr schließlich noch die Kuppel-Show ein Revival. Für prekäre Randgruppen, deren Markt sich verlaufen hat, gibt es diverse Anlaufstellen: „Schwiegertochter gesucht“ heißt die Partnersuche für Muttersöhnchen, denen der bärtige Psychologe aus „Schluss mit Hotel Mama“ nicht helfen konnte, Inka Bause steht mit „Bauer sucht Frau“ einsamen Landwirten bei. Bei der Sendung „Frauentausch° mussten allerdings mehrere Protagonisten feststellen, dass Authentizität bei Doku-Soap-Formaten nicht erwünscht ist. Wer den Regieanweisungen nicht folgen will, wird später per bösem Off-Kommentar abgestraft – und kann nicht klagen, weil der Knebelvertrag der Produktionsfirma fast alles erlaubt.
Und da schließt sich der Kreis. Man kann sich über Managergehälter und Boni aufregen, gegen Kriege protestieren und gegen Schulreformen, Mindestlohn fordern und Steuersenkungen, aber am Ende bleibt doch dieses diffuse Ohnmachtsgefühl. Und wenn Wittler oder Zwegat, Saalfrank oder Bause, Bohlen oder Klum kommen, wollen die auch nur eins: Quote.