Leben und sterben Lassen
Natürlich ist Wilco zunächst mal der Name einer Band. Aber hinter diesem Namen steckt auch eine Geschichte, in der sich ein ganzes Jahrzehnt spiegelt. Es ist die Geschichte vom künstlerischen Niedergang der Plattenmajors, von neuen Nutzungsstrategien der Popmusik und – bedeutender noch – von der Dekonstruktion einer Weltmacht. Aber es ist auch eine sehr persönliche Erzählung vom Coming-of-middle-age eines Songwriters. Von sich verändernden Prioritäten und zerbrechenden Freundschaften, von Problemen und Ängsten, die jeden plagen, wenn er merkt, dass die Jugend vorbei ist und es allmählich ernst wird im Leben. Was immer das heißen mag.
Fast hätte diese Geschichte an dem Tag begonnen, der dann aus ganz anderen, tragischen Gründen einen Platz in der Historie fand. Am 11. September 2001. Für diesen Tag war nämlich der US-Release eines neuen Wilco-Albums angekündigt. Und die Erwartungen waren hoch. Auf allen Seiten. Die Plattenfirma hoffte auf einen Hit, die Fans der Vorgängerband Uncle Tupelo hofften auf die Rückkehr zur Americana und die Anhänger des letzten Albums „Summerteeth“ hofften einfach auf ein erneutes Pop-Meisterwerk.
Das neue Album erfüllte all das, nur haben es einige Leute nicht gleich gemerkt. Der Plattenmajor Warner/Reprise etwa hielt die Lieder nicht für radiotauglich und jagte die Band mitsamt den Aufnahmen zum Teufel. Damit war die Veröffentlichung fürs Erste geplatzt. Bemerkt hätte sie an diesem amerikanischen Schicksalstag aber wohl eh niemand.
Am 18. September sorgte das nicht erschienene Album dann aber sehr wohl für Aufsehen. Denn an diesem Tag wurde „Yankee Hotel Foxtrot“ (so heißt das Werk) auf der bandeigenen Internetseite als Stream zugänglich. Einer der Songs klang wie ein unheimlicher Widerhall der tragischen Ereignisse eine Woche zuvor. „I would like to salute/ The ashes of American flags/ And all the fallen leaves/ Filling up Shopping bags.“
Im April 2002 erschien „Yankee Hotel Foxtrot“ schließlich auf dem einstigen Klassik- und Weltmusik-Label Nonsuch, das ironischerweise – genau wie Reprise – zum AOL Time Warner-Konzern gehörte. Das Cover zierten zwei Türme. Nicht die des World Trade Centers, sondern die des Marina City in der Wilco-Heimatstadt Chicago. Doch das verzerrte Echo der Vergangenheit war nicht zu überhören.
Diese neue Wilco-Musik war weit weg von der Americana früherer Tage, und doch ging es hier um Amerika. Die mithilfe von Jim O’Rourke produzierten Tracks beschrieben die amerikanische Landschaft mit den Mitteln des Post-Rock, und dazu sang Jeff Tweedy seine staubigen Folk-Songs über die nächtliche Aura der Metropolen, erzitternde Wolkenkratzer, Entfremdung, Einsamkeit, Gewalt, Geldautomaten, kalorienfreie Softdrinks und eine Heavy-Metal-Jugend.
Nach den Anschlägen vom 11. September war Amerika plötzlich auch für junge Künstler jenseits von Retroseligkeit und Roots-Geknarze wieder ein wichtiges Thema in der Popmusik. Und es schien, als hätten Wilco diese Stimmung schon vorausgeahnt. Musiker, die von der Presse später mit Labels wie „New Weird America“ oder „Freak Folk“ bedacht wurden, gruben längst vergessene Traditionen aus und gaben ihnen einen utopischen Gehalt. Sie entwarfen ein Amerika jenseits von George-W.-Bush-Country.
Auch Wilco gingen ihren einmal eingeschlagenen Weg weiter, wenngleich der von einigen Hindernissen versperrt war. Jeff Tweedy litt an ständigen Angst- und Migräne-Attacken, die er mit Schmerzmitteln und Alkohol zu bekämpfen versuchte. Das führte zu Unfrieden und zahlreichen Umbesetzungen in der Band und schlug sich in den beklemmenden Songs von „A Ghost Is Born“ nieder. Das Album war der perfekte Soundtrack in Zeiten von Terrorpanik, Krieg und Zukunftsängsten, die so viele beschäftigten in diesen Jahren.
Tweedy begab sich schließlich in Entzug und Therapie. „Wenn man Frieden geschlossen hat mit dem Leiden und sich erlaubt zu leiden, statt zu irgendwelchen Hilfsmitteln zu greifen, wird auch die Kunst besser“, erklärte er später. Mit „Sky Blue Sky“ folgte 2007 ein befreiendes, ja, befreites Album von großer emotionaler Tiefe und stimmlichen Höhen (Tweedy hatte das Rauchen aufgegeben). Der neue Gitarrist Nels Cline erzeugte mit seinen Gitarreneskapaden einen Sog des Unbewussten, der zugleich gefährlich und unwiderstehlich war, und Tweedy verlor selbst im Song über den Tod seiner Mutter nicht die Hoffnung.
Die Band hatte in diesem turbulenten Jahrzehnt zu einem neuen Selbst gefunden, das – wie sie 2009 mit einem neuen Album unterstrich – weiter den alten Namen trägt: „Wilco“. Und auch Amerika, immer noch wichtigstes Thema in Tweedys Songs, ist nicht mehr dasselbe wie zu Anfang der Dekade, schöpft unter Präsident Obama wieder Hoffnung. „You have to lose/ You have to learn how to die/ If you want to want to be alive“: Diese Zeilen aus dem „Yankee Hotel Foxtrot“-Song „War On War“ bringen mein Jahrzehnt auf den Punkt – politisch, musikalisch und privat.