Laute Kammermusik
Irgendwie machen die drei einen ziemlich ausgebombten Eindruck. Jan Pieper hält sich an seiner Zigarette fest. Siewert Johannsen verströmt soviel vorwärtsstürmende Energie wie Rudolf Scharping. Und Anette Berr ist ein wandelnder Extrawunsch: Erst ist es ihr in der Kneipe zu laut, später zu stickig. Diese drei vorübergehenden Wracks bilden die Band „Anette Berr“. Und sie wischen sich immer noch den Schweiß von der Stirn, den die Arbeit am neuen Album „Schlaflos“ gekostet hat. Ein halbes Jahr lang hingen die drei Berliner rund um die Uhr zusammen – Anette sang und textete, Jan komponierte und saß am Klavier, Siewert quälte seine Gitarre. Die Lieder spiegeln diese Nahkampf-Zeit. Melancholische Tresen-Songs, Liebeskampf-Berichte und mit „Hochseiltänzer“ sogar ein Chanson im Berliner Slang beschreiben Kreuzberg und den Rest der Innenwelt. Innen, Aussen, Liebe, Haß – alles ist zu eng verwoben, als daß es die Musik noch einmal trennen könnte. „Das ist ein Soundtrack für unser Leben“, sagt Anette, deren lakonische Stimme alles trägt. „Und natürlich sind auch Phantasien drin. Leute, die ein funktionierendes Liebesleben haben, schreiben keine Liebeslieder, oder?“
Nach dem Debüt „Krokodile“ von 1991 und „Haus mit dreizehn Zimmern“ aus dem letzten Jahr ist „Schlaflos“ ein weiterer Schritt auf einem Weg, auf dem sich die Berr-Band ziemlich alllein fühlt. Wer macht in Deutschland schon diese Art lauter Kammermusik, die mit Klavier, wenig Gitarre, schlichten Arrangements arbeitet und trotzdem nicht nach Kirchentag klingt?
Anette hat sich in Kreuzberg bereits einen Namen als Autorin gemacht: Ihr Roman „Nachts sind alle Katzen breit“ gehörte in jeden besetzten Haushalt. Auch Jan Pieper las ihn, der damals noch mit Siewert in der Berliner Kultband „Die Stricher“ spielte. Nach einem Konzert lernten die drei sich kennen.
Seitdem glauben sie an ihre Musik wie an einen gemeinsamen Schwur. Und die Fangemeinde wächst, wie die erste Tournee bewies. Manchmal kamen nachher Zuhörer hinter die Bühne, die vor Rührung heulten. „Man bekommt ja nur eine Reaktion, wenn man sich öffnet“, sagt Anette. Lieder, die an der Seelenoberfläche spielen und trotzdem nicht plakativ sind – das gibt es selten. Vergleiche mit Hildegard Knef findet Anette blöd. Schon lieber beruft sie sich auf das Erbe der Ton Steine Scherben. Musik aus dem Dorf Kreuzberg, für die ganze Welt.