Last Man Standing: Deutschlandtourauftakt von Bruce Springsteen in Düsseldorf – die ROLLING-STONE-Kritik
Drei Stunden lang präsentiert sich die E Street Band als die helle Seite der Rockmusik - genau das, was wir jetzt brauchen
Meistens ist das Leben ja ganz schön mühsam. Der Zug nach Düsseldorf braucht eine Stunde länger als früher, die Stadtbahn zur Merkur-Spiel-Arena ist erwartungsgemäß überfüllt, dann muss man auch noch ums halbe Stadion herum laufen zum richtigen Eingang. 43.000 Leute sind da, ausverkauft. Die Schlangen an den Getränkeständen sind lang. „Bei Bruce gibt es keinen Durst!“ schreibt mir ein Freund zum Trost, und er hat natürlich recht. Die Nörgeleien und die Befürchtungen (Ob die E Street Band noch so gut ist, in dem Alter? Ob man Springsteen die 73 Jahre anmerkt?) dauern bis 19 Uhr. Dann kommen erst Max Weinberg und Roy Bittan auf die Bühne, Jake Clemmons und Garry Tallent, Nils Lofgren und Steven van Zandt – und schließlich Bruce Springsteen. In der Sekunde ist alles vergessen.
Springsteen: das gute Amerika, die Hoffnung und der Traum
Springsteen hebt die Hände und lächelt ins Publikum – und warum schießen einem da jetzt plötzlich die Tränen in die Augen? Weil er noch da ist! Weil er wirklich der „Last Man Standing“ ist. Später, vor eben diesem Song, wird er die Geschichte von seiner ersten Band, den Castiles, erzählen, und wie ihm als Teenager drei Jahre wie ein ganzes Leben vorkamen – und dass er inzwischen der einzige Überlebende dieser Jungsgruppe ist. Aber Bruce Springsteen ist viel mehr als das. (Entschuldigung, das geht nun nicht ohne Pathos.) Er ist das gute Amerika, die Hoffnung und der Traum. Zum ersten Mal bei dieser Tournee beginnen sie mit „The Ties That Bind“. Und wie gut das in diese unfreundlichen Zeiten passt! Wer wird die Traurigkeit lindern, wer wird den Schmerz stillen, fragt Springsteen darin – und dass wir an den Verbindungen festhalten sollen, die wir haben. Loyalität, Solidarität: darum geht’s hier immer. Und dann folgen sofort „No Surrender“ und „Ghosts“, zwei weitere Stücke über ewige Liebe und Freundschaft, die Essenz des Daseins. Eigentlich fasst das den Abend schon zusammen. Gut, dass es trotzdem weitergeht! Es ist der längste Tag des Jahres, Sommersonnenwende, doch die Zeit wird relativ, wenn Musik uns eine viel weitere Welt aufmacht.
Bei „The Promised Land“ fällt auf, dass Springsteen vielleicht der einzige Mensch ist, der gleichzeitig Mundharmonika spielen und lächeln kann. Er verschenkt das Instrument dann, wie auch einige Plektren, immer wieder geht er zum Publikum und deutet auf einzelne Leute, freut sich über die Begeisterung. Allzu viele Ansagen und Geschäker bleiben allerdings aus. Braucht es ja gar nicht, bei diesem Repertoire. Es wäre sinnlos, all die Songs aufzuzählen, die frenetisch gefeiert werden, es sind 28, und nur einmal ist man versucht, sich vielleicht doch mal hinzusetzen.
Bruces Liebe zum Soul in allen Ehren, aber das lahme „Nightshift“ ist in dieser Umgebung einfach ein Showstopper, da helfen auch noch so viele tolle Bläser und Backgroundsängerinnen nicht. (Patti Scialfa ist übrigens wieder nicht dabei.) Danach kommt „Mary’s Place“, also nur ein kurzer Durchhänger, und zwischen den „Backstreets“ und den „Badlands“ vergeht alles viel zu schnell. Oje, schon „Thunder Road“, gleich ist es vorbei! Gerade nach den vergangenen Wochen, in denen so viel über die dunklen Seiten der Rockmusik geredet wurde, ist dieses Konzert wie ein Bad im Licht. Positive Energie ohne Eskapismus, eine den Widrigkeiten des Alltags abgetrotzte Ausgelassenheit. (Und da bei Sängerinnen ja ständig von deren Klamotten berichtet wird, soll hier auch mal gesagt werden, dass niemand ein enges Kurzarmhemd so gut tragen kann wie Bruce Springsteen – und er darf es sich in einem Anflug von Albernheit sogar fast bis zum Bauchnabel aufreißen.)
Die Zugaben – natürlich mit der obligatorischen langen Vorstellung der E Street Band samt allen Gastmusiker:innen – sind recht „Born In The U.S.A.“-lastig, aber sie spielen nach „Born To Run“ auch „Tenth Avenue Freeze-Out“, bei dem wieder Bilder von Clarence Clemons und Danny Federici gezeigt werden. Die Geister sind heutzutage stets mit dabei, Springsteen macht keinen Unterschied mehr zwischen den lebenden und den toten Freunden – er gibt eben nicht den Berufsjugendlichen, er schämt sich nicht für sein Alter und seine Erfahrungen. Und so hat er folgerichtig nach dieser Feier der Lebensfreude zum Schluss noch etwas besonders Schönes für uns. Nachdem er jedes einzelne Bandmitglied mit Schulterklopfen oder Umarmungen verabschiedet hat, bleibt er allein mit seiner Akustikgitarre auf der Bühne und singt „Death is not the end/ And I’ll see you in my dreams.“
Es wird behauptet, Glück gebe es immer nur in kleinen Momenten. Das stimmt nicht. Bei Bruce Springsteen dauert das Glück drei Stunden.