Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen: Die Getriebenen

Das Ergebnis kam nicht überraschend, die hilflosen Reaktionen darauf verwundern allerdings schon

In der Woche vor den Landtagswahlen wusste man nicht, was verzweifelter wirkte: die Reunion der Gallagher-Brüder oder die Neuauflage des Krisengesprächs von Oppositionsführer Friedrich Merz mit Bundeskanzler Olaf Scholz. Aber nur eins der beiden Großereignisse dürfte den Populisten im Land in die Karten gespielt haben.

So wurde nach dem Attentat von Solingen auch der Wahlkampf in Sachsen und Thüringen von einer unsäglichen Kulturkampfrhetorik überschattet. Da wurde ziemlich offensichtlich, wer von wem getrieben wird: AfD treibt CDU, CDU treibt Grüne und SPD. AfD, CDU, Linke und BSW schieben der Ampel die Schuld in die Schuhe und die Ampel-Parteien beschuldigen sich gegenseitig. Dieses Trauerspiel entspinnt sich einmal mehr am Sonntagabend.

Ein Trauerspiel in Grafiken

Mit stoischer Ruhe referiert ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn die Umfragegrafiken und Hochrechnungen. Es sind Zahlen aus der Hölle. 79 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus wird eine offen rechtsextreme, von faschistischen Säuberungsphantasien zersetzte Partei stärkste Kraft bei den Landtagswahlen in Thüringen und zweitstärkste im Freistaat Sachsen.

Und das Bündnis Sahra Wagenknecht, diese merkwürdige Personenkultpartei für Antiamerikanismus, Asylrechtsverschärfung und Friedenstaubenpathos, die mit der AfD auf dem Anti-Establishment-Ticket in Richtung Autokratie fährt – diese Partei kommt neun Monate nach ihrer Gründung auf zweistellige Ergebnisse.

Der sächsische AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban erklärt Moderatorin Julia Krittian, jüdische Bürger würden seine Partei unterstützen, weil diese gegen Islamismus vorgehe. Die Behauptung bleibt unwidersprochen, es wird zum nächsten Interviewpartner geschaltet. Thüringens Noch-Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) freut sich aufgrund der hohen Wahlbeteiligung über einen „Festtag der Demokratie“. Dann redet er jedoch von einer Wahlkampfstimmung, die begleitet gewesen sei von Angst und Morddrohungen.

Gewinner und Verlierer

Das SPD-Personal gibt bei diesen Landtagswahlen eine Darbietung in Zerknirschtheit und Bedröppeltdreinschauen. Kevin Kühnert sagt, es sei „kein Abend zum Jubeln“ und beteuert, man müsse den Bürgern noch besser die Inhalte der SPD vermitteln. Die Bundesvorsitzenden der Grünen, Omid Nouripour und Ricarda Lang, sind besorgt über das Abschneiden der AfD, sehen aber keinen Anlass, über eigene Versäumnisse nachzudenken.

Die Regie des Abends will es so, dass auf Bodo Ramelow („Ich kämpfe gegen eine Normalisierung von Faschismus.“) sein ärgster Widersacher Björn Höcke folgt. Der macht den Moderator erst mal ordentlich ein, weil dieser erwähnt, dass der Verfassungsschutz die AfD Thüringens als rechtsextremistisch einstuft. Anschließend spult Höcke seine übliche Hasstirade ab, wettert gegen „dämliche Brandmauern“ und „Kartellparteien“.

An die FDP, die in beiden Landtagen völlig chancenlos ist, wird anderthalb Stunden nach Beginn des Wahl-Specials auch mal erinnert. Allerdings scheint ihr Generalsekretär Bijan Djir-Sarai den Osten bereits aufgegeben zu haben. Die demokratischen Parteien der Mitte und das BSW bekräftigen ihr Versprechen, nicht mit der AfD zu koalieren. Doch im Hinblick auf künftige Mehrheitsbeschlüsse im Thüringer Parlament erklärt BSW-Kandidatin Katja Wolf: „Wenn die AfD sagt, zwei und zwei ist vier, werden wir nicht aus einem Beißreflex sagen, es sei fünf.“

Sahra Wagenknecht

Die Gewinner des Abends, allen voran Sachsens alter und wahrscheinlich neuer Ministerpräsident Michael Kretschmer, loben sich selbst, die Verlierer verharren in Schockstarre. Über die Ursachen für das Abdriften großer Gesellschaftsteile an die politischen Ränder erfährt man wenig.

Den Osten verstehen

Man muss nicht Dirk Oschmann lesen, um das Ergebnis der Landtagswahlen und den Osten zu verstehen, aber ein paar andere vielleicht schon. Diese Empfehlung gilt übrigens für alle Himmelsrichtungen des Bundesgebiets. Wissenschaftlich untermauerte Gründe für den Erfolg der Populisten gibt es auf jeden Fall genug.

Um nur ein paar zu nennen: Die mangelnde Übung im Umgang mit Andersartigkeit und das Einnisten rechtsradikaler (oftmals westdeutscher) Strippenzieher auf ostdeutschem Terrain. Die harten Transformationsjahre nach der Wiedervereinigung und der sich nahtlos anschließende Globalisierungsschub. Die daraus resultierende Veränderungsmüdigkeit in den neuen Bundesländern und die traditionell schlechte Wählerbindung in den Gebieten der ehemaligen DDR.

Die einseitig bis nicht aufgearbeitete SED-Diktatur, in der rassistische und antisemitische Einstellungen aus der Zeit des Nationalsozialismus prima „überwintern“ konnten. Die Schwäche der Zivilgesellschaft und die fehlende Bindung an Gewerkschaften, Kirche und Wohltätigkeitsvereine. Die Bevormundung durch westdeutsche Eliten und der Ausverkauf ostdeutscher Ländereien und Immobilien.

Viel zu lange hat man es ausgerechnet der SED-Nachfolgepartei PDS/Die Linke überlassen, sich um die Folgen der Einigungspolitik zu kümmern. Die wurde jetzt ebenso pulverisiert wie FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Wer sich im Vorfeld der Landtagswahlen die Plakate und Internetauftritte der Alt-Parteien angeschaut hat, musste sich nicht fragen: Wie gefährlich ist die AfD? Sondern: Warum sind die anderen so harmlos?

Fehlendes Engagement aus Berlin

Die sächsische Staatsministerin für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Petra Köpping (SPD), hat im Frühjahr ihre Berliner Kollegen aufgefordert, sich mehr in den Wahlkampf auf Landesebene einzumischen und verstärkt die ostdeutschen Lande zu bereisen. Sagen wir so: Das Engagement der Herren und Damen Bundesminister hielt sich in Grenzen.

So lange sich die überregionale Presse und der Kanzler höchstselbst mit ein paar Sylt-Urlaubern beschäftigen, die frei nach DAF den Adolf Hitler tanzen, während im Osten des Staatsgebiets täglich rassistisch motivierte Straftaten begangen werden, Gymnasiallehrer AfD wählen und neurechte Vordenker wie Götz Kubitschek ungehindert wirken können – so lange ist in der medialen und politischen Gewichtung noch Luft nach oben.

Kulturchauvinismus ist keine Lösung

Am ersten Januar dieses Jahres verzweifelte der mäßig begabte Polit-Kabarettist Nikolaus Blome in seiner „Spiegel“-Kolumne am deutschen Osten und fragte sich, mit welchen Mitteln potenzielle Rechtswähler noch umzustimmen wären: „Noch einmal zehn Milliarden Euro überwiegend westdeutsches Steuergeld für eine Chipfabrik und hypermoderne Arbeitsplätze? Alle Renten verdoppeln und eine Bushaltestelle an jeder Milchkanne? Jeder Wessi schreibt hundertmal an die Tafel, wie zauberhaft die Ossis sind?“

Man könnte jetzt ewig herumrätseln, aus welchem Denkbunker der Mann diese Mischung aus Paternalismus, Wohlstandsdünkel und kulturellem Chauvinismus hat. Bonner Wasserwerk? Anyone? Oder man konstatiert: Dude, you’re part of the problem! Es braucht jetzt Lösungsansätze, keinen billigen Altmänner-Populismus.

Es braucht politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Anstrengungen gleichermaßen. Und ein Mindestinteresse an zeitgeschichtlichen Zusammenhängen. Ansonsten könnte der Osten zum unheilvollen Vorreiter für Gesamtdeutschland werden. Denn der Rechtsruck in Ostdeutschland – auch das ist eine Binse – ist im europäischen und sogar internationalen Vergleich der Normalfall.

Christoph Soeder picture alliance/dpa
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