Kurzzeitige Leichtigkeit

Mai 2001 R.E.M. gelang erstmals seit „Automatic For The People“ wieder ein Gesamtkunstwerk, aber kaum einer hat’s gemerkt. Vielleicht waren die Lieder zu sonnig für eine Band, die mit Herbststücken berühmt wurde?

R.E.M. ****¿

Reveal

WEA

Langsam hebt das Flugzeug an, bis schließlich „The Lifting“ beginnt. Wohin es diesmal geht? Bei R.E.M. kann man ja nie sicher sein. „The weather’s fine, the sky is blue“, schwärmt Michael Stipe und gibt die Richtung vor: Sonne. Strand. Glückliche Menschen. R.E.M. und ein Sommer-Album? Das Unfassbare ist geschehen. Eine Band, die so viele Soundtracks für den Herbst geliefert hat, macht sich auf in den Süden.

Es wundert einen nicht mehr viel bei diesem Trio, aber das dann doch. „Reveal“ ist eine Abfolge leichter, sanft schwingender Songs – nicht ohne Melancholie, natürlich nicht, aber fast schmerzfrei. Es ist das erste Album seit „Automatic For The People“, bei dem die Lieder zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen, weil alle dieselbe Stimmung einfangen – und doch nicht eintönig klingen.

„Have I missed the big reveal?“ fragt Stipe in „I’ve Been High“, und die Antwort lautet: nein. Nun, da es auf dem Tisch liegt, erscheint nichts so logisch wie ein Alterswerk, das weder alt noch abgeklärt wirkt. In den vergangenen Jahren haben R.E.M. gelernt, öffentlich zu lachen und die Last der Welt von ihren Schultern abzustreifen. Die Musik, die Mike Mills und Peter Bück dieser Tage schreiben, ist das Resultat eines recht sorgenfreien Lebens. Die Offenbarung lautet: „This life is sweet.“ Leicht verwundert gesungen, aber doch mit Nachdruck. Wer sich um die Zukunft, um Ruhm und Reichtum keine Gedanken mehr machen muss, der braucht sich – im 21. Karrierejahr – nur noch über eins zu ärgern: dass wieder viele sagen werden, „Automatic“ sei besser gewesen oder „Monster“ oder „Green“. Die allerschlimmsten Schlaumeier werden behaupten, dass nichts an das Debüt „Murmur“ heranreicht. Was freilich Unsinn ist. Aber wer die Messlatte so hoch gelegt hat, darf sich darüber nicht wundern.

Käme dieses Album von einer jungen Band, würde sie vielleicht als „next big thing“ gefeiert. Kommt es von R.E.M., werden Vergleiche gezogen. Einer davon ist legitim: „Reveal“ setzt „Up“ fort, und wer das eine nicht mochte, wird auch mit dem anderen nicht viel anfangen können. Vom Rickenbacker-Gitarrensound und dem elegischen Breitwandsound der mittleren Jahre hat sich das Trio verabschiedet, um die große Geste geht es nicht mehr. Stattdessen werden zauberhafte Bilder entworfen, von „Reno“ zum Beispiel. Das wiederholte „You’re gonna be a star“ wird zum Mantra, zur Verheißung: Schon wähnt man sich in Nevada und strebt der kalifornischen Sonne entgegen. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, hier ist sie plötzlich auszuhalten.

Die Texte sind gewohnt geheimnisvoll und tragen Titel, die einen dann doch an die seligen, komischen Anfangszeiten erinnern: „Saturn Return“, „Chorus & The Ring“ und – wirklich! – „Beachball“. Bevor man sich versieht, wiederholt man wie hypnotisiert Zeilen wie die aus „Imitation Of Life“: „That sugar cane, that tasted good/ That’s cinnamon, that’s Hollywood/ Come on, come on, no one can see you try.“ Selten klang Stipe so befreit. Irgendwann fragt man sich, was das alles überhaupt bedeuten soll, aber das hat ja stets den besonderen Reiz von R.E.M. ausgemacht: Man weiß nie genau, was Stipe einem sagen will, aber die einzelnen Fragmente klingen wunderschön.

In „She Just Wants To Be“ wird die Geschichte eines Mädchens erzählt, dass woanders hin will, jemand anderes sein will, ein neues Leben braucht. Um Aufbruch geht es oft, um Veränderung oder – wie im dynamischen „Beat A Drum“, das in einem früheren Stadium noch „All I Want“ hieß – einfach um die Sehnsucht. Wonach? Das muss schon jeder für sich selbst entscheiden. „I knock my head against the sky“, croont Stipe, aber das Rätsel vom Sinn des Lebens ist damit noch lange nicht gelöst. Bei „Summer Turns To High“ geht die Luftigkeit vielleicht etwas zu weit; der Song verflüchtigt sich zwischen Dröhnen, Geklingel und zu hohen Tönen. Der einzige unnötige von zwölf Tracks. „Chorus & The Ring“ könnte „Find The River 2“ heißen, und ein größeres Kompliment kann man einem Lied kaum machen. Die Erinnerungen fließen wie von selbst, die dazugehörige Melodie ebenso. Wasser-Metaphern bleiben Stipes Steckenpferd: „I’ll Take The Rain“ ist ein weiteres grandioses Epos über Freiheit, Hoffnung, Behauptung – die ewigen Themen eben, hier ohne Klischee.

Nebenbei ist auch von Merkur, Drachenfliegen, Goldfischen, Oktopussen und Nektarinen die Rede. Unter anderem. Selten so gestaunt. „Reveal“ ist eine Wundertüte für Erwachsene. Am Ende, wenn man wieder gelandet ist, fragt man sich, was in der vergangenen Stunde eigentlich passiert ist. Es hat einen wieder einmal ein R.E.M.-Album erwischt. Ist es faszinierender als „Automatic“? Vielleicht nicht. Aber es kommt überraschend nah heran.

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