Kurzschluss im kosmischen Ei
Lauschige Landkommune? Bei Harmonia, der legendärsten Band des deutschen Elektronik-Aufbruchs, prallten Kräfte aufeinander. Trotzdem kommt das Trio nun nach 32 Jahren wieder zusammen
Es war ein kleines bisschen wie die Versuchung des Heiligen Antonius, bloß dass der Teufel nicht selbst nach Forst kam: Er schickte Klaus Dinger. Dinger, den Schlagzeuger und Teilzeit-Imperator der Experimental-Rockgruppe Neu!, der für sein gleißendes Talent und seine glitschigen Launen in der deutschen Musikszene ebenso bewundert wie gefürchtet wurde. Dinger jedenfalls war die rund 250 Kilometer von der Zentrale Düsseldorf nach Forst im Weserbergland gefahren, weil er ein Angebot zu überbringen hatte. Ein nicht verhandelbares.
In Forst saßen die Naturmenschen mit ihren Holzöfen und Saftpressen, ihren Wäscheleinen zum Pilzetrocknen und ihren leckeren Kräutern – nicht unbedingt Hippies, schon komplizierter. Viele von ihnen waren gezielt ausgewandert, in der Kommune im Alten Weserhof zum Beispiel Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius aus Berlin, halb bekannt als Duo für elektronische Musik unter dem Namen Cluster. Pfingsten 1973 war dann auch Michael Rother bei ihnen eingezogen, der Gitarrist, der in Düsseldorf kurz bei Kraftwerk gespielt hatte und anschließend mit dem Superfreak Dinger und Neu! zu unerwartetem Erfolg gekommen war. Und der nun kurz davor war, die Fäden zu kappen und mit den neuen Freunden Roedelius und Moebius auf dem Land eine ganz neue Sache zu starten, zu dritt.
Und genau das wollte Klaus Dinger verhindern, als er im Sommer 1973 nach Forst fuhr. Mit im Wagen saßen sein Bruder Thomas und Hans Lampe, beide auch Schlagzeuger. Für den abtrünnigen Neu!-Partner Rother und die zwei barfüßigen Experimentalisten Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius hatte er einen großen Plan dabei: die Gründung der ersten deutschen Supergruppe. Dinger, Rother an den Gitarren, Moebius, Roedelius an den Keyboards, Thomas Dinger und Lampe an zwei Schlagzeugen. Kraft, Kreativität, spirituelle Farben. „Europa“ sollte die Band heißen. „Das waren die schlimmsten Tage unseres Lebens“, erinnert sich Christine Roedelius, heute die Ehefrau des Künstlers, damals Freundin und Mitbewohnerin. „Cluster waren immer auf der Seite der Freiheit und Avantgarde gewesen. Denen so ein Konzept überzustülpen – das war, als würde man jemandem den halben Kopf abschneiden.“ Dinger bezog sein Gästezimmer wie ein Monarch auf Reisen, hatte den eigenen Kocher dabei, rührte nichts aus der WG-Küche an. Eine straffe Konferenz sollte das werden, ohne private Ablenkung, und das konnten die stadtflüchtigen Bauernhöfler nicht dufte finden.
Es schwang natürlich mit, dass Dingers und Rothers Gruppe Neu! immens mehr Erfolg gehabt hatte als Cluster, das ambiente, geräusch- und schichtenforscherische Projekt von Roedelius und Moebius. Das in Kunstvereinen spielte, während Neu! und ihr zauberhaft monotoner Blutdruck-Beat „Hallogallo“ 1972 sogar in Discotheken liefen. „Die haben natürlich mit der Geldkelle gewunken“, sagt Roedelius über Dingers Angebot. „Und wir waren ja immer arm. Wir waren glücklich in unserer Armut, und da kam plötzlich jemand und sagte: Ist gar nicht schwer, brauchst nur ’n bisschen üben, und auf einmal hast du die Taschen voll Kohle.“
Natürlich wird auch Dinger im Rückblick unrecht getan. Über seinen LSD-Konsum in der Zeit hat er später selbst berichtet, und für einen derart zielstrebigen Typen muss es damals unmenschlich schwer gewesen sein, brauchbare Partner aus dem Schneidersitz zu locken. Trotzdem ist das ein tolles Bild für die Extreme oder Klischees, die – als die deutsche Popmusik in den frühen Siebzigern ihre ersten, nachhaltig eigenen Züge entwickelte – mit kosmischer Energie gegeneinander krachten: wie der geschäftstüchtige Dinger in der Landkommune mit den Selbstverwirklichern verhandelte. „Wir dachten: Also, wenn man so arbeiten muss, um Geld zu verdienen, dann verzichten wir drauf!“ sagt Christine Roedelius. „Und Klaus ist in seinem Mercedes 600 wieder abgezischt, und wir konnten alle wieder atmen.“
Michael Rother blieb in Forst, begann mit Roedelius und Moebius, an einer gemeinsame Platte zu arbeiten. Im Keller fanden sie eine Standarte des Gesangsvereins Harmonia Ottenstein – Harmonia nannten sie ihr neues Trio, obwohl sie wussten, dass reine Harmonie zwischen so unterschiedlichen, sturköpfigen Musikern in dieser aufregenden Zeit ebenso reines Wunschdenken war. Als Harmonia sich schon im Herbst 1975 offiziell wieder trennten, hatten sie nur zwei echte Band-Jahre hinter sich. Und wenn man dieses Missverhältnis zwischen Aufwand, Dauer und nachfolgender Legendenbildung in Betracht zieht – dann wirkt es schon wieder logisch, dass Dieter Moebius, Hans-Joachim Roedelius und Michael Rother jetzt nach über 32jahren Pause ein zweites Mal zu dritt zusammenkommen. Dass sie am 27. November im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ ein Konzert geben werden, zur Eröffnung des „Worldtronics“-Festivals. Eben ist auf Herbert Grönemeyers Grönland-Label sogar eine neue Harmonia-Platte erschienen, zwar eine a!te Live-Aufnahme von 1974, aber so sensationell gut, dass sie ein neues Licht auf die Gruppe wirft, die mit ihren kompliziert aussehenden Aufbauten und Verkabelungen eine unglaublich minimale, klare, freundliche Musik gemacht hat, die endlich zeigte, was das Boing-Bumm-Tschak der Techniker in Düsseldorf mit dem grenzenlosen Geist der Berliner Freikünstler zu tun hatte, mit Orgeln, Gitarre, Rhythmusmaschine und Effektgeräten, selbstgebauten Zwitscherkisten statt Synthesizer, meist ohne Gesang.
Wer sich in den vergangenen Jahren genau wann mit wem wieder versöhnen musste, um Wiedervereinigung und Plattenveröffentlichung überhaupt möglich zu machen, dazu widersprechen sich die Aussagen. Tatsache ist, dass eine der radikalsten und – von Bowie über Chili Peppers bis Boards Of Canada – einflussreichsten Bands der deutschen Popmusik zurückkommt, deren Geschichte paradigmatisch ist für die Zeit, die oft nachlässig Krautrock-Ära genannt wird. In England, wo die Begeisterung für Can, Kraftwerk und die experimentellen deutschen Bands immer größer war als in Deutschland selbst, hat die Harmonia-Rückkehr schon ein gewaltiges Medien-Sausen ausgelöst.
„Ob’s funktioniert, ob wir zu dritt noch live zusammenspielen können, das ist die Frage“, sagt Hans-Joachim Roedelius. „Wir haben ja alle in den letzten Jahren unsere ureigenen Dinge auselaboriert. Wir sind ja alle drei so hermetisch.“
Warum es damals bis auf ein paar Highlights mit Harmonia nicht geklappt hat, sieht Roedelius im Rückblick genau. „Moebi und ich waren nicht bereit, Michaels Konzept wirklich mitzutragen. Wir wollten uns nicht jeden Tag hinsetzen und die Stücke üben, so schön sie auch waren. Moebi und ich, wir haben lieber gelebt. Wir haben die Musik aus Spaß gemacht, wenn es ging. Und wenn es nicht ging, dann ging es eben nicht.“ Nun ist es auch wieder Michael Rother, der die Initiative mit der Live-Platte ergriff, der Band den Wiederbelebungsblitz gab. Obwohl er selbst an anderen Orten viel mehr Erfolg pflückte, mit Neu! schon in den Siebzigern in Deutschland rund 100 000 Platten verkaufte, von seiner berühmten Soloplatte „Flammende Herzen“ allein rund 150 000, scheint es fast, als ob Rother das zeitlich und kommerziell limitierte Harmonia-Intermezzo wichtiger ist als alles andere.
„Ich war am Anfang so überzeugt von unserer Musik – ich habe felsenfest geglaubt, dass wir genau so erfolgreich sein würden wie Neu!“, sagt Rother, der wie Moebius die Sommermonate noch immer im Forster Bauernhof verlebt. „Entsprechend tief bin ich gefallen, als es nicht so kam. Dass wir beim Publikum Fassungs- und Ratlosigkeit auslösten, waren wir ja gewohnt. Winfried Trenkler vom WDR, einer unserer größten Förderer, hat mal einen Abteilungsleiter des Senders auf ein Konzert von uns mitgenommen. Der hat am Ende zu ihm gesagt: ‚Das ist doch schwanzlose Musik.‘ So muss man sich das damals vorstellen.“
Sonderlich schwanzlastig war die Tradition auch nicht. Im heißen Jahr 1968 spielte Hans-Joachim Roedelius, Masseur, mit dem Steakhaus-Koch Dieter Moebius und dem ehemaligen Maschinenbauer und Joseph-Beuys-Schüler Conrad Schnitzler im Zodiak Free Arts Lab zusammen – einem Club im Keller der Schaubühne am Halleschen Ufer, quasi das Probentheater der Berliner Experimentalmusik, wo Klaus Schulze, Tangerine Dream und Manuel Göttsching vor viel Publikum machen konnten, was sie wollten. Um als Kluster (anfangs mit K) eine Platte machen zu können, ließen sich Roedelius, Moebius und Schnitzler von einem Düsseldorfer Kantor für ein Kirchen-Label engagieren. Dafür mussten auf den Alben „Klopfzeichen’und „Zwei Osterei“ auch geistliche Textpassagen über die improvisierte Echo- und Geräuschmusik gelegt werden.
Roedelius betätigte sich in der Zeit auch als Kinderbetreuer in der Kommune 1, aber mit Aktion und APO-Politik hatte er direkt nichts zu tun. „Ich war ein gebranntes Kind aus meiner DDR-Zeit. In der K1 wollte ich nur Frieden stiften, zumindest unter den Kindern, die allein waren, weil ihre Eltern den ganzen Tag nur gequatscht haben. Aber mit Dutschke bin ich nicht mitgelaufen. Moebi auch nicht.“
Meistens assoziiert man die Musikexperimente der Siebziger ja mit dem Kollektivgedanken – dabei war Indiviualismus der viel entscheidendere Impuls. Die Möglichkeit, sich ohne fremde Partitur im Sound selbst zu porträtieren. Eine künstlerische Sprache zu finden, die durch nichts verunreinigt war. „Ich war in den 70er Jahren vor allem mit meinen eigenen Sachen beschäftigt“, sagt auch Michael Rother. „Mich hat nicht interessiert, was Amon Düül oder Tangerine Dream in anderen Städten so machen. Das war die Konsequenz aus dem Plan, eine eigene, klare Handschrift zu entwickeln. Dazu gehörte es auch, andere Einflüsse etwas abzudrängen.“
Der beißende Widerspruch, einerseits eine Gruppe zu sein, andererseits die eigene Identität als Künstler aus Prinzip nicht aufgeben zu können: Die Gründung von Harmonia im Juni 1973 setzte diesem musikalischen Grundsatzproblem seinen Meilenstein. Tatsächlich bestand das erste Album „Musik von Harmonia“ von 1974 hauptsächlich aus Solostücken der drei Mitglieder, abgesehen von zwei eingebauten Live-Mitschnitten. „Ohrwurm“ zum Beispiel sind die fünf besten Minuten aus dem ersten Konzert, das das frische Trio in der Weserhof-Scheune für Freunde und Dorfbewohner gab.
„Es kam ja auch nicht viel Geld rein mit Harmonia“, sagt Rother. „Ich erinnere mich, wie wir abends zusammensaßen und meinten: Jetzt wäre eine Flasche Malzbier klasse! In der Kasse waren vielleicht noch 50 Pfennig, damit bin ich dann losgegangen. 100 Meter weiter gab es eine Gaststätte mit Puff. Ich weiß noch, wie mir eine barbusige Frau aufmachte, ganz locker mit mir in den Keller ging und mir das Malzbier gab.“
Dass Moebius und Roedelius sich in der Regel weigerten, strukturierte Stücke zu proben, machte die Arbeit noch schwerer und frustrierte Rother immer mehr, der sich vom kleinen Traumprojekt doch so viel erwartet hatte. Auf jedes geniale Konzert kam mindestens ein verpatztes, und so fuhr Rother Ende 1974 dann doch nach Düsseldorf, um mit Klaus Dinger ein drittes Neu!-Album aufzunehmen. Als Zwischenspiel nur.
Die in Forst Daheimgebliebenen nutzten die Zeit für neue Cluster-Aufnahmen, und am Ende geschah das ganz Erstaunliche: So wie man „?ieu! ’75“ eindeutig den Einfluss der frei schwebenden Roedelius-Moebius-Musik anhört, ist Clusters „Zuckerzeit“ (an der Rother entgegen der Angaben auf dem Plattencover nicht mitgewirkt hat) klar von der rhythmischen Lieblichkeit des abwesenden Gitarristen geprägt. Schon da war zu spüren, dass Harmonia eine der seltenen Gruppen ist, die – verglichen mit ihrem schmalen, umkämpften Werk – aus rätselhaften Gründen überproportional viel Einfluss ausstrahlt. Julian Copes berühmtes Fan-Buch „Krautrocksampler“ löste in den Neunzigern bei jungen Elektronikern und Neo-Space-Age-Bands die nächste Welle aus, und schon 1974 war Ex-Roxy Music-Klangbildhauer Brian Eno nach dem „Musikladen“-Auftritt zum Harmonia-Konzert nach Hamburg gegangen. „In der zweiten Hälfte kam er auf die Bühne, hat sich immer dahin gestellt, wo gerade keiner war, und hat mit uns gespielt“, erzählt Roedelius. „Das funktionierte wunderbar.“ Eno versprach, sie in Forst zu besuchen. Als er zwei Jahre später wirklich vor der Tür stand, wohnten zwar alle drei noch da, aber Harmonia gab es nicht mehr.
Eigentlich nicht mehr. Aber Eno war angereist, um Musik mit ihnen zu machen, natürlich nicht so wie Klaus Dinger beim sonderbaren Staatsbesuch, und daher fanden sie sich zu einer letzten Session zusammen. Eno am Tonband als Produzent, der ihnen Zettelchen mit Akkordfolgen auf die Frühstücksteller legte. „Der Bowie rief immer aus Montreux an: ‚Komm jetzt endlich! Wir wollen das hier fertig machen!“‚, sagt Roedelius. „Brian hat uns den Hörer hingehalten: ‚Hört mal, wie der rumkräht! Solche Leute muss man warten lassen.“‚ Einmal ging Eno mit zum Holzholen in den Wald, setzte sich mit dem Taschenrechner ins Moos und erläuterte, wieviel Geld sie verdienen könnten, wenn sie sich mehr aufs Musikmachen konzentrieren und weniger Zeit vergeuden würden. „Was suchen die im Wald?“ fragte Eno hinterher Roedelius‘ Freundin. „Du, das gehört zu ihrer Musik dazu!“ antwortete sie.
1979 verließ Roedelius den Weserhof und zog nach Osterreich. Cluster trennten sich 1981. Cluster vereinigten sich 1989 wieder. 1997 trennten Cluster sich zwar erneut, dafür begannen ein Jahr später Dieter Moebius und Michael Rother, wieder gemeinsam aufzutreten. Alle drei stapelten Solowerke auf, fanden die Leitung zur jüngeren Musikergeneration, beobachteten, wie sie selbst es sich wunderbar leisten konnten, jenseits der 50 auf die Bühne zu gehen, weil ihre Musik ja auch mit 25 keine Feier des Virilen gewesen war. Rother trat sogar mit den Red Hot Chili Peppers auf.
Jetzt, 2007, spielen auch Cluster wieder. Rother und Moebius haben noch einige Konzerttermine, bis Ende November auf der Berliner Bühne Harmonia erscheinen werden. Ob es gemeinsam weitergeht? „Nicht auszuschließen“, sagt Michael Rother vorsichtig. „Es gibt viele Anfragen, aber wir sollten das Konzert abwarten. Das Prinzip Harmonia erfordert ja ein anderes Denken: Die Leute wollen nicht drei Solo-Shows sehen, es soll einen Zusammenhang geben.“ Proben werden Rother, 57, Moebius, 63, und Roedelius, 73, übrigens nicht vorher. Keine Zeit. Es könnte also gut werden.