Kritik: The Cure in London – Roberts epischer Abend samt Friday-Fail
Ein solides, etwas spannungsarmes Konzert von The Cure. Aber wann wird man ihnen je wieder so nah sein?
Bis zu einhundert Dezibel Donner und Blitz. Und das zwei Stunden lang vom Band, ab Einlass um 18 Uhr. Das nennt man mal ein angemessenes Pre-Tape! Weltuntergangsstimmung für die „Songs of a Lost World“, die The Cure am Freitagabend (01. November 2024) bei der Album-Release-Party im Londoner Troxy-Club dargeboten haben. Regen ist ab jetzt die beste Cure-Vorband, das steht fest.
Als Robert Smith die Bühne betritt, stellt er sich dem Wasser, das in unseren Gedanken vom Himmel fällt, entgegen. Er streckt, noch vor den ersten Takten von „Alone“, die Arme in einer „Dann nimm mich doch, Wettergott“-mäßigen Theatralik in beide Richtungen aus. Drückt den Rücken durch und blickt nach oben, als könnte er alle Tropfen aufsaugen – wie Andy Dufresne in „The Shawshank Redemption“, als er endlich aus dem Gefängnis ausgebrochen ist und im Gewitter die Freiheit spürt. So darf man sich auch den 65-Jährigen Robert Smith vorstellen. Er brauchte 16 Jahre, um einer neuen Studioplatte die Freiheit zu schenken.
Man kann „Songs of a Lost World“ verehren, wie mindestens drei ROLLING-STONE-Kolleginnen und Kollegen. Oder ausgesprochen langweilig finden, wie der Autor dieser Zeilen. Smith und Band haben sich eingerichtet in ziellosen Atmosphären. The Cure sind keine Entdecker mehr. Sie sind Dekorateure geworden. Sie kleiden ihren zementschweren Hardrock-Stil aus, so, wie sie ihn seit „Bloodflowers“ aus dem Jahr 2000 lieben.
The Cure – das Konzert in voller Länge:
Aber die Dringlichkeit und Hingabe, mit der Smith die acht Lieder über Trauerfälle in der eigenen Familie (dem Chatter in Fan-Foren nach zu urteilen auch über einen Trauerfall in der Familie des Bassisten Simon Gallup) intoniert, bieten eine Qualität für sich. Smith weint vielleicht nicht mehr auf der Bühne, wie einst bei „I Can Never Say Goodbye“, aber er leidet. „I Want Your Death, You Want My Life“, singt er in „Warsong“. Das ist eine der besten Zeilen, die er je erschaffen hat. Nihilismus zeigt sich darin, dass Leben immer auf den Tod hinausläuft, und man genau das in jeder Minute spürt.
Zu „And Nothing Is Forever“ schwingt Smith, wenn man das aus der Ferne richtig gesehen hat, entweder ein Chicken Shake, Klanghölzer oder eine Raumspraydose, im Takt. Sehr selten bei ihm, dabei liegt auch Swing eigentlich in seinem Blut. Wie ein Derwisch getanzt hat er zwar auch zu „The Cure in Orange“-Zeiten nicht, aber nun kommt ein Schuss Beetlejuice-Verrenkung dazu.
Gutes, aber mutloses Set
Man freut sich über die ungewohnte Ritmo-de-la-Noche-Einlage, und sei es zu einem Gothic-Stück, denn dafür sind doch Club-Konzerte da, oder? Fan-Service! Viele unerwartete Dinge für Anhänger der ersten Stunde (wer hat eigentlich die unzähligen Hipster und Influencer auf die Gästeliste gesetzt? So bekommt man ein kleines Konzert auch innerhalb von drei Minuten „ausverkauft“). Umso erstaunlicher, wie mutlos The Cure ihr 31-Song-Set strukturiert haben. Bis auf die „Seventeen Seconds“-Rarität „Secrets“, zuletzt 2011 aufgeführt, bestand das Konzert aus einer leicht gestrafften Version ihrer erst 2023 beendeten Großhallen- und Open-Air-Tournee.
Die Show wirkte also eher wie gut eingespielt als wie eigens eingeübt. Sechs Songs allein von „Disintegration“. Von diesem Werk wird Smith sich wohl nie mehr freimachen können. Vielleicht hat er sich auch von den nur allzu leicht zu erwartenden „Das beste Album seit ‚Disintegration’“-Kritiken zu „Songs of a Lost World“ beeinflussen lassen.
The Cure haben bei Club-Konzerten schon deutlich mehr Kreativität in der Songauswahl bewiesen, wie im Jahr 2000 in der Hamburger Markthalle oder 2004 im L’Olympia von Paris. Streitbar ist außerdem, ob es wirklich so klug ist, das erste Set des Abends mit „Alone“, und das zweite mit dem sehr ähnlichen, aber eben viel besseren End-of-the-World-Stück „Plainsong“ zu beginnen – in beiden Songs holt Smith tief Luft für größere Lieder, die darauf folgen. Ein Aggressionsschub wie in „One Hundred Years“ oder „Shake Dog Shake“ hätte für den zweiten Teil einen anderen Akzent gesetzt. Beide fehlen hier. Und werden vermisst.
Das Kinderkarussell
Die Visuals auf den Leinwänden sind nicht immer stimmig. Ob gerade die Einblendung von Songtiteln, wie bei „M“, für coole Bands wie The Cure nicht eher uncool ist, ist diskutabel. Warum jedoch bei „Drone:No Drone“ zwar Drohnenaufnahmen gezeigt werden, aber eben von Großstädten, ist nicht nachvollziehbar. In einem Interview berichtete Smith von seinem Ärger über eine Drohne, die nachts über seinem einsam gelegenen Landsitz ihre Kreise zog. DAS ist doch gruselig und wäre einen Bühnenfilm wert.
Umso versöhnlicher der Kurzfilm zum Lied über seinen verstorbenen Bruder Richard, „I Can Never Say Goodbye“, das einen Ray-Bradbury-Jahrmarkt zeigt. Dieser Dark Carnival jedoch ist verlassen und strahlt keine Gefahr mehr aus. Das Kinderkarussell, das seine Mitfahrer im von Smith zitierten Roman „Something Wicked This Way Comes“ in Zeitraffer altern lässt und dadurch tötet, dreht sich hier nur ganz langsam. Vielleicht kann Smith mit dem Tode Richards abschließen. Zu „All I Ever Am“ wiederum und der Richard-David-Precht-artigen Frage nach Identität erscheint die Band auf der Leinwand in Unendlichkeitsspiegeln.
Dauerwahwah
Keyboarder Roger O’Donnell ist vom Krebs genesen, bringt bei „Push“ wie immer seinen Elton-John-Tastenswoosh, und auch die gute Seele der Band, also der technisch nicht notwendige zweite Keyboarder und Gitarrist Perry Bamonte, ist nach der letzten Welttournee dabei geblieben.
Unklar, was Smith an Reeves Gabrels findet. Sein Dauerwahwah zerstörte bereits ein komplettes Album von David Bowie; ein Glück, das er zu „Never Enough“-Zeiten noch nicht bei Cure anheuerte. Bei „Songs of a Lost World“ durfte er erstmals bei Smith im Studio mitarbeiten. Seine Aufnahmen sind also von Smith abgesegnet. In den Soli von Backkatalog-Stücken wie „A Night Like This“ oder „From The Edge Of The Deep Green Sea“ aber hat Gabrels nichts verloren. Er kann Effekte, Gefühle kann er nicht. Vielleicht hält Smith an Gabrels fest, um Bowie in Gedanken näher sein zu können. Die Akustikgitarre bei „Secrets“ wiederum beherrscht Gabrels; wie an anderen Abenden etwa auch bei „Piggy in The Mirror“.
Von einem „epischen Abend im East End“ ist jetzt schon die Rede. Ist ja auch toll: Vielleicht treten The Cure nie mehr in einem Rahmen von nur rund 3.000 Menschen auf. „Inbetween Days“ und „Just Like Heaven“ aus allernächster Nähe, und zwar von überall, der Publikums-Chor von „Play For Today“, von den Franzosen im „Paris“-Livealbum erfunden und danach durch die Hallen der ganzen Welt getragen, nun in einem kompakten Saal, mit einer Akustik wie aus hunderttausend Kehlen.
Es ist Freitagabend. Natürlich kommt „Friday I’m In Love“. Den C-Teil („Dressed Up To The Eyes …“), die beste Passage des Lieds, vergeigt Robert Smith, singt stattdessen gleich den Chorus. Aber die Band fängt ihn auf, man findet sich wieder, rechtzeitig dann, wenn der Chorus eigentlich kommt. Es ist halt Freitag, die Anspannung fällt ab.
Oder, wie Smith am Ende des Lieds ins Mikro brüllt: „Aaaaaaaaaah!“.