Kritik: Depeche Mode in Berlin – Vespa-Gruß an Fletch, muss reichen!

War dies ein gutes Konzert? Natürlich. Irgendwie. Ohne jede Frage. Oder? Depeche Mode sind wie Kiss.

Dreiundzwanzig Songs umfasst die Setlist der „Memento Mori“-Welttournee von Depeche Mode (den an einen ganz bestimmten Glückspilz-Zuschauer gerichteten „Happy Birthday“-Gesang Gahans nicht mitgerechnet, den setlist.fm dann als 24. Song dazurechnet, diesmal wieder. Jedes Konzert! Kann doch nicht sein. Halten die Leute die Schilder nur deshalb hoch, damit sie angesungen werden? Hat wirklich immer jemand im Pit vorne Geburtstag und bastelt ein Schild?).

Und doch geht es jeden Abend, glaubt man den in unzähligen Foren versammelten Die-Hard-Fans, nicht um 23, sondern nur um drei Songs. Den Nummern 10, 11 und 15. Welche zwei Lieder wird Martin Gore während seines Soloabschnitts (10, 11), begleitet nur von Peter Gordeno am Synthieklavier, anstimmen? Acht verschiedene haben sich während dieser Konzertreise für diesen argwöhnisch erwarteten, eigentlich als Andacht gemeinten Set-Mittelpunkt bislang angeboten.

An diesem Abend gibt es „Strangelove“, dessen im Lied beschriebene Selbstkasteiung Gore im Ausdruck auch besser beherrscht als Gahan, und „Somebody“. Kurz davor flüstert Gore seinem Keyboarder Gordeno etwas ins Ohr, hinter vorgehaltener Hand, als wäre er ein Fußballtrainer, dem ein Lippenleser die Taktik entlocken könnte. Momente wie diese zeigen aber auch, dass die ausgesuchten Stücke dieses Zweier-Song-Blocks vorher vielleicht nicht feststehen, sondern spontan ausgesucht werden.

Danach ist dann vier Lieder lang Ruhe. Bis zur Nummer 15. Dann werden die Fans wieder unruhig: Gibt es, in voller Bandstärke, wieder „Behind the Wheel“ zu hören – oder das zuvor als Memoriam für Andrew Fletch Fletcher aufgeführte „World In My Eyes“?

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Statistiken sind nicht sexy, aber mit Statistiken setzen Depeche-Mode-Konzertgänger sich gerne auseinander. Auch in Berlin. Die Suche nach der Überraschung, dem einen Moment, der ein Konzert anders macht als die 89 „Memento Mori“-Performances davor.

Ist diese Anspruchshaltung an Überraschungen angemessen, oder ist man zu verwöhnt? Bei ihrer Las-Vegas-Residency hat Adele doch in 76 Konzerten auch immer dieselben Stücke gesungen. Anders als Adele aber haben Depeche Mode nicht vier, sondern 15 Studioalben herausgebracht. Depeche haben also mehr Potenzial. Und es sehnt die Leute nach Abwechslung, so göttlich „Enjoy the Silence“ (ein Song, der live seit 1990 stets eine Extendend Version erhält – warum eigentlich? Bei „A Question of Time“ oder „Stripped“ geht es doch auch stets ohne) auch ist, so schön das Meer aus Armen bei „Never Let Me Down Again“.

Am Ende von „Stripped“ geht Dave Gahan ganz, ganz tief in die Russenhocke. Emo-Russenhocke. Also eingebeugt, Richtung Igel. Deep, deep inward feelings.

Dreimal gastieren Berlin in diesem Februar in der Mehrzweckhalle am Ostbahnhof, die bald wieder umbenannt und dann den urigsten ihrer bisherigen drei Namen erhalten wird (der zukünftige Name der nebenan liegenden Verti Hall ist sogar noch schräger). Wer Tickets für alle drei Depeche-Mode-Konzerte gekauft hat, wird in Berlin aller Wahrscheinlichkeit nach also nicht 23, sondern 29 verschiedene Lieder gehört haben. Immerhin!

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Die Europa-Hallentournee im Winter ist ein DM-Standard geworden und für Acts dieser Größenordnung ein einmaliger Fan-Service. Die Lieblingsband innerhalb eines Halbjahres zweimal sehen zu können, einmal im größten Stadion der Stadt, einmal in der größten Halle, das bietet sonst niemand. Coldplay nicht, AC/DC nicht, Sheeran nicht, U2 nicht. Rammstein aus technischen Gründen nicht, es sei denn, sie wollten die Halle in Brand setzen. Wer Depeche Mode infolge dieses seit der „Playing the Angel“-Tour von 2005 ritualisierten Stadion-dann-Arena-Bookings „stumpfes Abkassieren“ vorwirft, und das passiert häufig, ahnt nicht, wie wenig selbstverständlich diese Arena-Gigs doch sind. Was aber leider auch stimmt: Der „FOS“-Bereich, „Front of Stage“, umfasst nicht wirklich nur den vorderen Bereich bei der Bühne, sondern fast die Hälfte des Innenraums. „FOS“-Tickets sind teurer als solche für den „normalen“ Innenraum. Man zahlt also mehr Geld, um der Band nahe zu sein, steht aber, wenn man Pech hat, nicht gerade vor der Bühne, sondern nahezu in der Mitte der Halle.

Und natürlich sind die Auftritte in der Halle viel, viel besser als in jenem Berliner Stadion mit dem wahrscheinlich schlechtesten Olympiastadionsound der Welt. Ganz zu schweigen davon, dass Konzerte im Komplett-Dunkeln immer besser sind als solche, die unter freiem Himmel am frühen Sommerabend beginnen (was man daran liebt, ist doch in Wirklichkeit die Wärme, das Licht, das Open-Air-Bier, die Open-Air-Bratwurst, also nicht das, was auf der Bühne passiert).

Der Maschinenpark von Depeche Mode ist bestens geölt! Das Quartett leistet sich keine Verspieler! Depeche Mode liefern ab. Berlin ist ist wie Brüssel, wie Paris, wie Dublin – wobei, nein, in Dublin holte Dave Gahan einen Jungen auf die Bühne, um mit ihm ein paar Takte zu „Enjoy The Silence“ zu tanzen. In der Fußballersprache würde man sagen: Dave Gahan ruft seine Leistung bei jedem Spiel ab.

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Seine Ansagen ( „Good evening …“ (hier Name der Stadt einfügen) und In-Song-Shouts (Take it, boys!“ bei „Everything Counts“, „Jee-hoo“, wieder bei „Everything Counts“, „Christian!!!!“ bei „Walking In My Shoes“) sind sogar derart verinnerlicht, dass er sie manchmal auch bei solchen Liedern verwendet, für die sie nicht vorgesehen waren. Galt „World In My Eyes“ noch als Lieblingssong Fletchs, werden Gahans In-Memoriam-Worte „For our friend Andrew Fletcher“ nun einfach bei „Behind The Wheel“ gebracht, weil Position 15 in der Setlist eben neu besetzt wurde. Ist nur ein wenig komisch, dass man bei diesem Stück für Fletch kaum mehr Fletch auf der Leinwand sieht, sondern das 1987er-Musikvideo von „Behind The Wheel“. Das Lied für den verstorbenen Keyboarder – gewürdigt mit einem Film, in dem stattdessen der sonnenbebrillte Sänger von seiner Vespa grüßt.

In „Berlin 1“ gibt es also „Behind The Wheel“. Kein Song an diesem Abend erhält mehr Applaus. Würde man „World In My Eyes“ im Set belassen und stattdessen das Cowboy-Pobackenjeanstaschen-furzige „John The Revelator“ extrahieren, der Applaus wäre vielleicht noch größer. Aber jede Änderung, so selten sie bei Depeche Mode ist, bleibt ab dem allerersten Änderungsmoment unverrückbar.

Über diesen Schiefstand hätte Fletch sicher lachen können, er hatte ja Humor.

War dies ein gutes Konzert? Natürlich. Irgendwie. Ohne jede Frage. Klar. Oder? Depeche Mode sind wie Kiss. Man kann sie angstbefreit lieben, weil man weiß, was man kriegt, bis hin zur kürzesten Ansage. Es könnte sein, dass ihre Konzerte gerade deshalb ausverkauft sind.

Aber es gibt eben Fans – und Fans. Fans seit 1981, Fans, die mitreisen, Fans, die auch innerhalb einer Stadt auf mehr als nur ein Konzert gehen.

Viele würden sich wünschen, dass die Band ein wenig mehr Abwechslung zeigt, Dramaturgien umbaut. Ein Set mit „I Feel You“ startet und mit „Love, In Itself“ beendet. Oder, wie Depeche-Mode-Experte Dennis Burmeister in unserem Interview jüngst sagte: „Bis 1984 findet die Band live quasi gar nicht mehr statt.“

Die Show geht weiter. Am Donnerstag in dieser Halle, und dann am Montag nochmal.

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