Kritik: Blumfeld in Berlin – Richtige Refrains zur richtigen Zeit
Blumfeld waren die größte Protestband der 1990er-Jahre. Aber ihre Hymnen sind aktueller denn je. Wir brauchen diese Musik.
Wir durchleben einen der schlimmsten Sommer seit 73 Jahren, es gibt Hetzjagden von Nazis durch unsere Städte, die AfD ist nach manchen Umfragen zweitstärkste Partei in Deutschland.
Dagegen gibt es zum Glück Protest. Beim „Wir sind mehr“-Konzert traten unter anderem Die Toten Hosen auf, Kraftklub und Feine Sahne Fischfilet. Zum Dorf-Festival „Jamel rockt den Förster“ kam Herbert Grönemeyer.
Die „Hamburger Schule“-Bands, allen voran Blumfeld und Tocotronic, sangen schon Anfang der 1990er-Jahre gegen Rechtsextremismus an, sie wurden geprägt von Mölln und Rostock-Lichtenhagen.
Umso erstaunlicher, dass heute kaum Bezug auf diese Künstler genommen wird. Zu antifaschistischen Festivals, von denen es aktuell zu wenige gibt, wurden sie nicht eingeladen. Dabei waren es diese Bands, die vor mehr als 20 Jahren schon, als alle dachten, die Anschläge seien nur das Werk einiger verstreuter Trottel, die Fackel hochhielten und mahnten.
Der Ruhm von Blumfeld gründet sich vor allem auf die Alben, die vor der Jahrtausendwende erschienen. Diese Alben waren Geschichtsbücher. „Ich-Maschine“ (1992) und „L’etat Et Moi“ (1994) behandelten die Wiedervereinigung und warnten vor neudeutschem Größenwahn, „Old Nobody“ (1999) schilderte den Versuch zu Altern, ohne dabei unpolitisch, feist und träge zu werden. Diese drei waren auch die besten Blumfeld-Platten.
Aber vielleicht nicht ihre wichtigsten.
Im neuen Jahrtausend gelangen Distelmeyer jene Werke, die nicht einfach Chroniken waren, sondern bittere Perspektiven schilderten. Dies sind die Werke, die überdauern werden. Weil sie prophetisch erscheinen.
Es geht um „Testament der Angst“ und „Heavy“. Deren Lieder werden beim Blumfeld-Konzert im Festsaal Kreuzberg auch am meisten gefeiert. „Testament der Angst“ erschien 2001 ein halbes Jahr vor Nine Eleven und nahm, aus jetziger Sicht furchterregend, alles vorweg: die Angst vor einem Krieg, die Angst, dass die Angst vor einem Krieg die Mitmenschen zu Idioten macht: „Im Norden, Süden, Osten, Westen – die Diktatur der Angepassten.“
„Wohin mit dem Hass?“
Distelmeyers erstes Soloalbum „Heavy“ erschien 2009, in einem Jahr, in dem Merkel in verhältnismäßiger Ruhe regierte. Und trotzdem ließ der Sänger im Video von „Wohin mit dem Hass?“ die Molotow-Cocktails fliegen.
Manche fragten sich damals: Was soll, gerade jetzt, dieser Stress? Wenig später gab Distelmeyer für „Musikexpress“ ein Interview – gemeinsam mit Sido. Da war bereits zu spüren, dass es in diesem Land brodelt, dass nun auch HipHopper die Stimmung aufnehmen, aber die Garde der 1990er-Musiker um Distelmeyer die Lage noch immer einschätzen kann.
Das wirklich Bemerkenswerte an diesem heutigen Konzert-Abend in Berlin ist: Kein Song wird stärker gefeiert als „Wohin mit dem Hass?“. Stärker als die ewigen Hits „Verstärker“ und „Tausend Tränen tief“. Der „Hass“-Refrain stammt, man kann es nicht genug betonen, von 2009 – und ist fast zehn Jahre später wuchtiger denn je: „Die Menschen in den Straßen benehmen sich wie Vieh / Laufen mit und fühlen nach Vorschrift /Sie sind es so gewohnt und hassen still vor sich hin /So lang bis ihnen jemand sagt: Wohin mit dem Hass?“
Auf dass die Leute in Chemnitz, Dortmund und sonstwo sich angesprochen fühlen.
„Kommt gut nach Hause. Lasst euch nicht verarschen“, sagt Distelmeyer am Ende des Auftritts.
Ok, wir geben unser Bestes.
Wann kommt das nächste Blumfeld-Album?