Kritik an Kritikern
Mit "Hall Of Shame" rächt sich Jim DeRogatis an Kanon-fixierten Kollegen
Zunächst erscheint die Idee gut: Jim DeRogatis betrachtete die in „Stranded: Rock And Roll For A Desert Island“ vor Jahren empfohlenen Alben und befand, dass sie reif für die Insel sind: die Autoren des Buches, Herausgeber Greil Marcus und die Platten allemal. DeRogatis fragte seine Frau, was er später für ein Vorwort tippen würde: „Warum sollte man in einer Kunstform (immerhin der Musik des Teufels!), in der es im besten Fall darum geht, alles in Frage zu stellen, irgendetwas als Dogma akzeptieren?“ Also kontaktierten sie einen Haufen Leute, um die Oldies/ Goldies in den Dreck zu ziehen. Als Reaktion auf Clevelands „Rock’n’Roll Hall of Fame“, als Widerrede gegen pseudo-akademische Wichtigtuer und Geschmacksdiktat – und nicht zuletzt als verspätete Reprise DeRogatis‘ auf seine kurze Zeit beim amerikanischen Rolling Stone, der „Institution, die sich dieser Auflistung der Klänge, die wir zu verehren haben, am intensivsten verschrieben hat“.
Auch wenn man nicht bei jeder Silbe im Takt mitnickt, so liest man DeRogatis gern, schon allein weil er so verrückt und weltfern war, eine Biografie über einen Musikjournalisten zu verfassen, den hierzulande so unbekannten, nichtsdestotrotz unzerstörbaren Kritiker-Papst und -Teufel Lester Bangs.
2005 erschien „Kill Your Idols“ in den USA, also zur selben Zeit, als hierzulande Franchise-Erfolge der Kanonindustrie immer wildere Blüten trieben. Für Literatur diktierte lange und wie im Monopol die Reich-Ranicki-Ich-Ich-Ich!-AG, was lesenswert und -unwert ist. 2004 hatte die SZ entdeckt, dass damit Abonnenten zu gewinnen und zu binden sind. Viele hielten die Auswahl gar für bindende Urteile. Oder sogar für Dogmen? Also Ring frei für den Gegenentwurf. „Hall Of Shame. Die größten Irrtümer in der Geschichte des Rock’n’Roll“ (Rogner & Bernhard). Nicht nur der Titel erinnert an das neulich von Sky Nonhoff veröffentlichte „Don’t Believe the HYPE! Die meistüberschätzten Platten der Popgeschichte“ (Fischer, 2005). Nach dem Kanonfutter lauter Sätze heiße Ohren. Eiskalte Abrechnungen mit allgemein üblichen „Klassikern“ – oder nur gemein-üblen Hypes – sind schon deshalb jedem recht, weil jeder irgendwann schon von Rezensenten oder Freunden oder Klugscheißern geblendet wurde. Doch nach einigen Abrechnungen wird das Lesevergnügen flau, nicht nur weil einiges demontiert wird, was einem nun eben doch viel bedeutet, obwohl es 20 Millionen anderen auch gefiel. Und dann wird es richtig dröge. Verriss als Prinzip. Aus Liebe zum Rock’n‘ Roll? Hm. Ein dissonanter Klang taucht auf, nicht zwischen den Zeilen, sondern schwarz auf weiß: Da ist von der „unbestreitbaren Magie des Albums“ die Rede, jemand anders „muss gestehen, dass ich die Band mag“; der für Led Zeps „IV“ angeheuerte Autor flüchtet in eine Shortstory, in die Arme seiner Abschlussballpartnerin, wo Liebe und Leiden und Leidenschaft so verworren oder verwoben sind, dass der Beitrag genauso gut in „Lit Riffs“ hätte landen können, einer MTV-Books-Anthologie mit von Songs inspirierten Geschichten.
Einige der 32 Alben kommen auch in Uwe Schüttes „Basisdiskothek Rock und Pop“ vor, die meisten bei Nonhoff. „Pet Sound V’und „Sgt. Pepper“, „Harvest“, „Dark Side Of The Moon“, undsoweiterundsofort, bis hin zu „Appetite For Destruction„, „Nevermind“, „OK Computer“…
Nonhoff deckt mehr ab, watscht nebenbei Stuckrad-Barre ab, flechtet in seine Satz-Gewitter viel deutsches Umfeld, mehr Neueres – und versammelt weniger Gastautoren. Daher ist die Tonlage in „Hall Of Shame“ vielseitiger. Die Argumentationen kommen aus unterschiedlicheren Ecken, sind oft sehr zögerlich. Letzten Endes wird die ganze Idee ja auch ad absurdum geführt: Aus Unmut über das Trend-Diktat macht man einen auf Spielverderber und motzt ein wenig rum. Wofür Miesepeter wie Wiglaf Droste in der Spaßgesellschaft sorgen, mehr für miefigen als frischen Wind, das besorgen diese Bücher unter den Konsenskonsumisten.
Wie (un)sinnig diese Zeilen des Hasses sind, dokumentieren die Mini-Bios der Autoren: Fast jeder in „Hall Of Shame“ führt unter seinen Top Ten entweder Alben auf, die extrem skurril sind (da sind sie wieder, all die Pop-Snobs)oder sich mit dem decken, was vorne in aller Breite plattgemacht wird.