Kritik: „After Life“ von Ricky Gervais – „Was ich schon immer mal sagen wollte …“

Ricky Gervais lebt seinen Traum weiter: Er traut sich all das seinen Mitmenschen zu sagen, was sonst keiner tut. Nun auch in einer eigenen Netflix-Serie.

Man kann nicht sagen, dass Ricky Gervais ein ängstlicher Mensch ist. Er stellt sich vor hunderten Prominenten auf die Bühne und macht sie dann fertig. Seine heute – zumindest im Netz – beliebtesten Comedy-Einlagen sind keine Szenen aus „The Office“, etwa der „David Brent Dance“, sondern die Moderationen des Filmpreises „Golden Globe“, die der Brite viermal (2010-2012, 2016) leiten durfte. Sie gelten als legendär bis berüchtigt, weil er Witze machte über angebliche Alkoholiker (Mel Gibson), Transsexuelle (Caitlyn Jenner), Lesben (Jodie Foster), Pädosexualität (Roman Polanski) und Scientologen (Tom Cruise). Dass der englische TV-Entertainer Gervais damit durchkam, mehr noch: von allen anderen geliebt wurde, obwohl von einigen Hollywood-Stars wie Sean Penn und Johnny Depp verteufelt, hat vielleicht Spuren hinterlassen.

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In seiner neuen Netflix-Serie „After Life“ macht Gervais die Beleidigung zum Überlebensprinzip. Er spielt Tony, den frisch verwitweten Redakteur einer Gratis-Lokalzeitung, der sich längst das Leben genommen hätte, müsste er sich nicht noch um den Hund kümmern. Tony beschließt, für den Rest seines Daseins den Mitmenschen mit gnadenloser Ehrlichkeit zu begegnen. Er bedroht ein Kind mit einem Hammer. Nennt seinen Kollegen „Shrek“ und „Fettsack“ und sagt zu einem Gast in der Redaktion permanent, dass er stinkt. Lobt jemand James Cordens „Carpool Karaoke“, schlägt er selbst ein „Carpool Kamikaze“ vor.

Sven Regener hat mal gesungen: „Erst, wenn alles scheißegal ist, macht das Leben wieder Spaß“, bei Tony führt die Scheißegal-Haltung jedoch nicht zu einem größeren Freiheitsgefühl. Zumindest am Anfang noch nicht.

Gervais hat sich einiges von amerikanischen Tragikomödien abgeschaut. Etwa die Dramaturgie einer mit fortschreitender Handlungsdauer langsam heranschleichenden, dann überwältigenden Sentimentalität. Sein Umfeld, die mit ihm am Nebengrab trauernde Witwe (Penelope Wilton) oder die „Hure Mit Herz“ (Roisin Conaty) versichern ihm, dass er eigentlich ein liebenswerter Typ sei und er einfach nur leben solle.

Wie David Brent, nur ohne Selbstlob

Ricky Gervais bezeichnet das Genre seiner neuen Serie als „Dark Comedy“, und natürlich ist „After Life“ bisweilen sehr lustig, vor allem in den Seitenhieben auf Gervais‘ Kollegen, aus denen eben nicht der fiktive Tony, sondern er selbst spricht. Eine Szene, in der Tony über das Gesicht Kenneth Branaghs ein vernichtendes Urteil fällt, ist von entwaffnender Richtigkeit. Der größte Fan des Comedian Kevin Hart ist natürlich die unerträglichste Büro-Kollegin. Und auch an Twitter-Trollen lässt der Social-Media-Junkie Gervais, der sich in den sozialen Medien bisweilen auf Kleinkriege einlässt, kein gutes Haar.

Etwas ist anders in „After Life“. Die größte Gemeinsamkeit zwischen David Brent und Gervais‘ zweiter wichtiger Figur, Andy Millman („Extras“), lag in deren verzweifelten Versuchen eine Fassade aufrechtzuerhalten. Beide definierten sich nicht über ihre Selbstwirksamkeitserwartung, sondern ausschließlich über den Wert, den die Kollegen („The Office“) oder Prominente („Extras“) ihnen zuwiesen. Tony geht einen anderen Weg. Er hat kein Selbstbewusstsein, nicht, dass er sonst ein Feigling wäre, aber er bettelt auch nicht um Bestätigung. David Brent sagte zwar auch stets, was er dachte – aber immer aus der Befürchtung heraus, man würde ihn sonst nicht bemerken.

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Der Hund muss also auch die nächste „After Life“-Staffel, wenn es sie denn geben wird, überleben, damit auch Tony noch einen Grund hat seine Umwelt auszuhalten. Die britische Küstenstadt, in der er lebt und arbeitet, heißt Tambury und ist möglicherweise fiktiv. Sie sieht aus wie aus einem Cornwall-Traum oder wie Pontypandy. Es laufen immer dieselben Figuren durch die Straßen, es wiederholen sich Routinen, wie der Besuch beim greisen Vater (David Bradley) oder der Gang vorbei an der Schule des Neffen, und die Sonne scheint so grell wie in Marbella. Vielleicht ist dies schon das „After Life“, das Leben im Jenseits – warum sonst gibt es immer diese Schleifen? Hat Tony sich schon umgebracht? Was müsste er tun, damit er den ewigen Kreislauf unterbrechen kann?

Tony geht mit seinem Hund zum Strand, es sieht aus wie in einem Südsee-Paradies. Er stürzt sich vollbekleidet in die Wellen und beschließt im letzten Moment doch nicht unterzugehen, weil sein Hund so brüllt wie noch nie, das Tier hat Todesahnung. Eine Szene wie aus einer Hollywood-Witwer-Schmonzette.

Dass der Mann es dennoch vermag, seinem trauernden Tony Würde zu verleihen, also aus ihm weder einen Possenreißer noch einen Trauerkloß zu machen, ist der vielleicht größte Erfolg des Komödianten Gervais.

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