Kreisklasse-Kult
September 2004 Beim Metal-Festival in Wacken trifft sich jedes Jahr die wachsende Gemeinde des Lauten, Urtümlichen, Derben. Das fröhliche Biergelage lässt seine Fans zivilisatorische Zwänge für drei Tage vergessen.
Wir haben ein paar Kilometer nach Itzehoe – das liegt zwischen Hamburg und der Küste – die Autobahn verlassen und nähern uns nun einem kleinen Dorf, in dessen Namen sich ganz offensichtlich der norddeutsche Sturschädel verewigt hat. Die Gegend um Wacken sieht aus, als wäre sie gerade frisch renoviert worden: das malerische Grün der Wiesen lädt zum Grasen ein, der Roggen steht wie eine Eins, bei den Kühen hat der Bauer den Tuschkasten rausgeholt, um die schwarzweiße Befleckung ein bisschen aufzubessern – und sogar die gewaltigen Strohräder hat er heuer hübsch eingeschlagen in violette Plastikfolie. Denn an diesem Wochenende wird gefeiert, ein kulturelles Ereignis von internationalem Rang und länder-, ja ozeanübergreifender Ausstrahlung jährt sich zum 15. Mal: das Wacken Open Air, eines der größten Metal-Freiluft-Festivals auf diesem Erdball.
Gut 33.000 (zahlende!) Menschen zog es dieses Jahr in die Provinz, im letzten waren es noch ein paar Tausend weniger. Der Zoll hatte also wieder alle Hände voll zu tun, weil mehr als ein Drittel der Gästeschar aus dem Ausland kommt und, wie es echte Camper so tun, ihre Verpflegung zumeist selbst mitbringt. Man muss ja viel trinken an so einem heißen August-Wochenende! In wenigen Jahren hat sich das Wacken Open Air von einer lokalen Sommer-Veranstaltung, in ihrer Bedeutung etwa vergleichbar den hiesigen Schützenfesten und Stoppelfeld-Rennen, zu einem recht professionell durchgeplanten Metal-Event gemausert. Dass auch im 15. Jahr seines Bestehens die sanitären Bedingungen bisweilen zum Weglaufen sind, stört vor allem die mitgereiste Damenwelt, die man öfter erwartungsfroh mit der rosaroten „Happy End“-Rolle (dreilagig) zu den Dixi-Reihen spazieren, einmal alle Türen öffnen und dann mit verbittertem Gesicht wieder abzockeln sieht. „Was haste denn erwartet?“, schreit ein kopfschüttelnder, nach zwei Festivaltagen schon ziemlich auf den Hund gekommener Besucher einer drall aufgebrezelten Amazone hinterher, die sich ebenfalls nicht entschließen konnte.
Allerdings scheint sich die Frauen-Quote erhöht zu haben. Immer wieder steigen zarte junge Dinger dem Mob aufs Dach, werden nach vorne durchgereicht und von der gut genährten Security mit praktischem Kurzhaarschnitt galant an den Seitenrand spediert. Das beliebte Slamdancing, der Ritt auf der Menge, ist längst keine Männersache mehr, scheint aber auch, zumindest auf diesem Love-&-Peace-Festival hier, eine vergleichsweise watteweiche Angelegenheit geworden zu sein.
Auch an der „Meet & Greet“-Bühne recken sich gelegentlich sekundäre Geschlechtsmerkmale den bewunderten Musikern ins Gesicht, und die lassen sich nicht lange bitten, prüfen, ob sich das Dargebotene als Schreibunterlage auch wirklich eignet, und setzen dann ihren Warrel Dane drauf. Letzterer ist Sänger der in der Szene fast schon hündisch verehrten Prog-Power-Metal-Band Nevermore, etwas dick geworden und leidlich angeschossen. So macht er auf der Bühne eher einen müden, statischen Eindruck, aber das Wacken-Publikum hat ja eben einen Ruf zu verlieren, also wird auch dieses Set am frühen, immer noch heißen Samstagabend frenetisch abgefeiert – wie übrigens alle anderen Bands auch.
Helloween gleich im Anschluss fielen unangenehm auf durch die kindischen Zwischenrufe ihres Gründungsgitarristen Michael „Weiki“ Weikath und holzten etwas grobmotorisch. Andy Deris, die Stimme, war vor allem bei den älteren Sachen in den hohen Lagen beängstigend überfordert – und wieder stellte sich die Frage, ob die Demission von Pink Cream 69 damals wirklich eine weise Entscheidung war. Aber Wacken applaudierte! Einige Male denn auch wirklich zu Recht. Anthrax boten von Anfang bis Ende einen bei aller Geschwindigkeit und Riffbolzerei beeindruckend filigranen und geschlossenen Auftritt, und als sie dann auch noch den guten alten Trust-Klassiker „Antisocial“ losschlugen, mit doppeltem Tempo versteht sich, da ging die Sonne gleich noch mal auf. Und auch Saxon waren wieder einmal da und spielten einfach so wie immer – und das reichte natürlich auch, so wie immer.
Tags zuvor erzählte Jutta Weinhold, die nach Breslau, Zed Yago und Velvet Viper mit ihrer neuen Band – tja – Weinhold wieder mal um die Gunst des kauffreudigen Metal-Publikums buhlt, etwas kraus von Walhalla, den Walküren und dass die ihr eingeflüstert hätten, den heiligen Boden von Wacken zu grüßen, was sie dann ja auch tat. Wie gesagt, Wacken applaudierte! Auch zu diesem schleppenden Operetten-Rock. Und die üppige Jutta hüpfte vor Freude, dass sie beide Hände brauchte, um alles an Ort und Stelle zu behalten.
Der Höhepunkt des ersten Tages war zweifellos der Auftritt von Dio. Ronnie James, der Patron der Band, schleicht und fuchtelt immer noch wie eine Mischung aus mittelalterlichem Hofnarr und Merlin, so als hätten die Siebziger gerade begonnen. Aber wenn der kleine Mann sich in die Brust wirft und seinen Beitrag zur Hardrock-Geschichte in die einsetzende Dunkelheit knurrt, ein Best Of seiner Kollaborationen mit Rainbow, Black Sabbath und der eigenen Band Dio, dann mag das schon leicht angestaubt sein, hat aber allemal Klasse. Mit Doro kam die Nacht – so und so. Man kann sie vielleicht hübsch finden, vor ihrer Hartnäckigkeit den Hut ziehen, aber als Musikerin ist sie eigentlich nicht satisfaktionsfähig, und schon gar nicht mit einem Klassik-Orchester im Rücken. Das klingt so schmierig, so billig-prätentiös und verschmockt. Und dass sie sich dann auch noch am Judas- Priest-Evergreen „Breaking The Law“ vergreift, dafür gehört ihr wirklich der lederbehoste Arsch versohlt.
Den erwartbaren Mini-Skandal produzierten indessen die norwegischen, ziemlich bösen Black Metaller Mayhem, die mit einem halben Dutzend Schweineköpfe auftraten. Gute, frische Ware, die zunächst in Brand gesteckt wurde und in die hernach Sänger Maniac, einmal mehr mit notorischem Pandabären-Make-up, seine schwer blitzende Klinge trieb, immer wieder, bis er sich selbst damit piekste und eine Menge Eigenblut vergoss. Später am Abend im V.I.P.-Bereich, die Schminke verwischt, die Wunde verbunden, wollte er sich wohl mit einem Cocktail das viele Blut und die Schuld von der Seele trinken, ging zur entsprechenden Theke – und stellte sich höflich hinten an. Die Kirche ließ er im Dorf respektive uneingeäschert.
Offenbar zeitigt hier der Genius loci domestizierende Wirkung. Wacken war und ist der christlichen Ethik verpflichtet. Da packen schon mal zwei barmherzige Menschen einen komatösen Besucher, der in der prallen Augustsonne liegt, an Armen und Beinen und tragen ihn zu einem schattigen Plätzchen, damit er nicht im nächsten Jahr wegen Hautkrebs ausfällt – und sie vergessen auch nicht, ihm mit schwarzem Edding ein warnendes „Ich bin voll wie die Sau“ auf den freien Oberkörper zu malen. Und wenn auf dem Campingplatz die Zeit nicht reicht, um den ganzen mitgebrachten Shit wegzurauchen, dann wird der nicht wieder mit nach Hause genommen, sondern selbstverständlich großzügig an die umliegenden Zelte verteilt. „Pfeift ihn euch rein!“ Gesagt, getan.
Sogar zu den Güllefahrern, die einmal am Tag (!) die Dixis leerpumpen und dekontaminieren, baut sich früh ein herzliches Verhältnis auf. Ein neidischer Blick auf die schon vormittags zechende Zeltrunde, schon springt einer zur Kühltasche und kredenzt den beiden für die gute Sache arbeitenden Männern die lauwarmen PET-Flaschen „Adelskrone“. Der eine im roten Overall blickt skeptisch aufs Etikett, aber dann hellt sich seine Miene auf. „Mensch, da habt ihr ja ein richtig anständiges Bier eingekauft.“
Toleranz ist hier oberstes Gebot! Das muss auch so sein, denn das Programm ist durchaus vielfältig. „Die Leute können immer wählen, was sie machen wollen, was sie sich ansehen wollen“, sagt Mit-Veranstalter Thomas Jensen, „denn das Angebot ist groß genug. Wenn ich die ganze Bandbreite im Metal abdecken will, Black, Gothic, Speed, Thrash, Power Metal, geht das nur mit mindestens drei Bühnen.“ Er grinst. „Wir haben vier.“
Trotz der anfänglichen monetären Durststrecke und gelegentlicher GmbH-Pleiten kann das Festival alles in allem auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Das liegt auch daran, dass man es früh verstanden hat, das Dorf einzubinden – nicht zuletzt geschäftlich! Mittlerweile verdienen fast alle ein bisschen dran – vor allem der örtliche Spar-Markt -, da fällt es dann offenbar leichter, über ein paar zertretene Rabatten hinwegzusehen. Sogar die Herren vom zuständigen Ordnungsamt sind beeindruckt, „wie friedlich, ja schon fast harmonisch und freunschaftlich“ die Veranstaltung abläuft. Das wird wohl ein paar Präsentkörbe gekostet haben!? Jensen will davon nichts wissen. „Es hat gelegentlich Auseinandersetzungen gegeben, aber insgesamt gibt es hier weniger Schlägereien als beim Kreisklasse-B-Spiel.“
Nur beim Chaos-Festival 2002 stand noch einmal alles auf Messers Schneide, als Orkanwarnungen fast zu einem Abbruch geführt hätten, die Menschenmassen buchstäblich im Schlamm versanken und anschließend das Gemecker im Internet so massiv wurde, dass das Spartenblatt „Rock Hard“ seine langjährige Zusammenarbeit aufkündigte. Inzwischen haben sich die Wogen wieder etwas geglättet – und im Jahr darauf kamen allen Unkenrufen zum Trotz genauso viele Menschen.
Es gibt ein paar Besonderheiten, die schon seit Jahren den Charme des Festivals ausmachen. Zum einen bekommen hier – wie bei keiner anderen Veranstaltung dieser Größenordnung – Newcomer die Möglichkeit, sich zu profilieren. Ich treffe Battermann, den Bassisten von Gutbucket, einer dieser großen weißen Hoffnungen, und der kriegt das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. „Für uns war das eine große Sache“, schwärmt er. „Wir wollten mal sehen, ob unsere Musik auch vor einem so großen Publikum funktioniert. Dass es in den kleineren Clubs ganz gut klappt, wussten wir ja, aber vor einer solchen Kulisse hatten wir noch nie gespielt, und es war fantastisch. Wir hatten bei zwei Songs technische Probleme, die Gitarre ist ausgefallen, und da hat das Publikum uns geholfen. Nicht wir, die haben die Wartezeit überbrückt, die haben für uns gesungen, das war grandios.“ Das darf ihn umso mehr freuen, als Gutbuckets kantiger Old-School-Schrubb’n’Roll mit leichten Punk-Einschüssen eigentlich nicht zum Wacken-Mainstream gehört. Battermann lacht: „Ja, wir sind nicht wirklich truuuuue.“
Überdies betreiben Jensen und Kollege Holger Hübner, die vor allem für das Billing verantwortlich sind, so etwas wie eine aktive Aufarbeitung der Heavy-Metal-Geschichte, indem sie immer wieder Reunions von Szene-Legenden stiften – in diesem Jahr waren Zodiac Mindwarp, Satan und The Rods dran. „Das fing 1993 an“, erinnert sich Jensen, „mit den Reunions von Holocaust und Trespass, Bands, die es nicht ganz bis nach oben geschafft haben, aber doch als Einflussgeber einen gewissen Stellenwert haben. Das ist bei den Leuten gut angekommen. Denn eins muss einem immer klar sein, nach Wacken kommen die Die-Hard-Metal-Fans, das sind Leute, die ständig auf Konzerte gehen, die Metallica schon 15 Mal gesehen haben. Die kennen sich aus und wissen solche Spezialitäten zu schätzen. Aber mit den Reunions ist das so eine Sache, manchmal denkt man auch, hätte ich das man lieber nicht gemacht … Ich hab hier schon Legenden sterben sehen.“
Und noch etwas zeichnet Wacken aus. Die ganz großen Namen des Genres und die aktuellen Bestseller fehlen in der Regel. Wenn man mit den Addicts ins Gespräch kommt, hat man den Eindruck, als sei auch das noch Kalkül, als seien Gestrigkeit, Mittelmaß und Randständigkeit hier geradezu ein Einlasskriterium. Tammi, ein Szene-Veteran und Wacken-Besucher der ersten Stunde, reckt selbstbewusst das Kinn: „Das ist ja wohl auch das Markenzeichen! Iron Maiden oder auch Metallica, für die gibt’s genügend andere Festivals, die wollen wir hier gar nicht sehen, die sind zu groß.“
Der Autor Frank Schäfer ist sowohl Heavy-Metal- als auch Literatur-Experte, schreibt neben dem ROLLING STONE für die „Neue Zürcher Zeitung“ und andere Publikationen und hat schon diverse Bücher veröffentlicht.