Klaus Voormann: Der Kronzeuge
In den sechziger und siebziger Jahren gehörte Klaus Voormann zur Champions League des Rock. Der Mann, der einst mit John Lennon, Eric Clapton und Dr. John spielte und nun, im zarten Alter von 70 Jahren, sein erstes Soloalbum vorlegt, weiß, wie die Engländer ticken.
Ein kleiner Hof, am Rande eines verschlafenen 200-Seelen-Dorfes gelegen, nicht weit vom Südzipfel des Starnberger Sees. In einer Kammer im ersten Stock sitzt Klaus Voormann an einem Holztisch und kramt beim spärlichen Licht einer Schreibtischlampe in einem Karton mit alten Plattencovern. Fast 50 Jahre ist es her, dass er sich auf Hamburgs Reeperbahn mit den „Beatle-Jungs“, wie er sie noch heute liebevoll nennt, anfreundete. Eine Beziehung, die ihn zu Beginn der sechziger Jahre nach London und von dort als Musiker und Grafiker zu Weltruhm führte. Unter anderem spielte er bei Manfred Mann und nahm Platten mit John Lennon, George Harrison, Carly Simon und Randy Newman auf. Wie kaum ein anderer Deutscher hat Voormann die englische Szene der Swinging Sixties von innen kennengelernt.
Was unterschied diese jungen Typen aus Liverpool, die Du in St. Pauli kennengelernt hast, von deinen deutschen Kumpels?
„Die waren witzig, hatten einen angeborenen Humor, den du mit nichts anderem vergleichen kannst. London ist was anderes, aber Liverpool hat eine spezielle Wärme, eine Frechheit, aber auch eine Härte. Man kann das kaum erklären. Das ist eine Gefühlssache, etwas, was ich in Deutschland oft vermisst habe. Ich hatte mich als Berliner ja in Hamburg verliebt. Es gibt eine Menge Parallelen zwischen Liverpool und Hamburg, beide Städte liegen auf demselben Breitengrad, beide sind Hafenstädte. Wir haben uns also von vornherein sehr gut verstanden.“
Du bist dann sehr bald selbst nach England gezogen. Warum?
„Als ich zum ersten Mal nach Liverpool kam, als Stuart (Sutcliffe, erster Bassist der Beatles, der 1962 starb. Anm. d. Red.) dort begraben wurde, habe ich diese Mentalität noch mehr lieben gelernt. Von da an war mir klar, dass ich unbedingt in England leben wollte. George und Ringo wohnten damals in der Green Street, und sie luden mich ein, doch bei ihnen einzuziehen. Ich wollte wie gesagt da hin und als Grafiker dort leben.“
An eine Karriere als Musiker hast Du zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nicht gedacht, oder?
„Nee, das kam mir gar nicht in den Kopf. Nach einer Weile hatte ich mein eigenes kleines Zimmer in London. Und ich hatte eine Gitarre und ein Tonbandgerät mit nach England genommen. Ich hab viel Radio Luxemburg gehört, damals der angesagte Sender. In der Agentur, wo ich als Grafiker arbeitete, saß ich in der Mittagspause immer mit Mike McCann zusammen, einem Schotten, der wunderbar Mandoline spielte. Wir spielten zusammen, er Mandoline, ich klassische Gitarre, was ich ja gelernt hatte. Und dort rief mich eines Tages Gibson Kemp an, der in Hamburg schon mit allen möglichen Leuten wie Kingsize Taylor gespielt hatte. Er brauchte einen Bassisten für seine Band The Eyes, die im Star-Club ein Engagement hatte. Also bin ich wieder rüber nach Hamburg und stand wenige Tage später dort auf der Bühne.“
Als Du nach London kamst, was war anders im Leben der Menschen als in Deutschland – abgesehen vom Linksverkehr?
„Im Leben der Deutschen herrschte damals eine sehr reglementierte, autoritäre Linie. Bei den Engländern, egal ob sie in Hamburg waren oder ob man ihnen drüben in England begegnete, lief alles viel lockerer. Zum Beispiel die Autos auf der Londoner Marble Arch: Die Fahrer regelten alles untereinander, fädelten friedlich im Reißverschlussverfahren ein – in Deutschland dagegen wimmelte es von Stopp-Schildern, und alles war streng geregelt. Das beginnt sich hier erst langsam zu verändern, in England aber nahm man so was schon immer lockerer. Das sieht man ja auch an deren Humor, das ist so ein Sarkasmus, so ein sich selbst auf die Schippe nehmen. Die nehmen sich einfach nicht so sehr ernst. Wir hier müssen immer alles in Schubladen packen. Als ich wieder nach Deutschland zurückkam, hat es mich ziemlich gewurmt, dass hier so streng zwischen U- und E-Musik, also unterhaltender und ernster, unterschieden wurde. So etwas war in England undenkbar, da war das alles schlicht Musik, egal ob Klassik, alte Volkslieder, Schlager oder Popsongs.“
Gab es im England der frühen sechziger Jahre eine breitere Musikszene als bei uns und mehr talentierte Leute?
„Mehr Talente würde ich nicht sagen. Aber da fangen die Unterschiede ja an: In Deutschland hast du elitäre Gruppen wie die Jazzer oder Klassiker, die auf die anderen hinunterschauen. In Amerika oder England gibt es das nicht. In England war es ohne weiteres möglich, dass man ein Orchester von ausgebildeten Musikern ein Konzert für fünf Staubsauger oder dergleichen aufführen ließ. Dann saßen die da und bliesen in irgendwelche Tröten. In Deutschland undenkbar! Bei einem „„ernsten“ Musiker wie Mozart sitzen sie dann im Konzert und lachen und sind fröhlich, während ein vermeintlicher Unterhaltungskünstler wie Bob Dylan dir Texte vorsetzt, die so ans Eingemachte gehen, dass dir schlecht wird. Warum tut man das in diese Schubladen? Gott sei Dank ist auch das heute nicht mehr so schlimm.“
Stimmt es, dass englische Musiker ein viel ungebrocheneres Verhältnis zu ihrer eigenen kulturellen Geschichte haben?
„Du hast ja in Irland, Schottland und England eine alte Musik, nennen wir es mal eine Art Countrymusik. In Deutschland ist nicht mehr sehr viel übrig geblieben von guter, traditioneller Volksmusik. Allenfalls hast du so etwas hier in der klassischen Musik, wo ein Beethoven in seiner 3. Sinfonie, in der „„Pastorale“, mal einen Bauerntanz einbaut. Das ist dann Folklore. Denk mal an die tollen Sachen in Irland, an die Flötenmusik, die Steptänze und was die alles haben. Es gibt ein paar kleine Fleckchen in Bayern, da wird schöne und auch rhythmische Volkmusik noch gepflegt.“
Es ist ja nicht nur die Folktradition, es ist ja auch die Music-Hall, die Unterhaltungsmusik der 30er und 40er Jahre, die in der englischen Popmusik sehr präsent ist.
„Unbedingt! Das ist einfach drin. Geh nach Amerika, da sitzen sie auf der Veranda, der eine spielt Gitarre, der Opa zupft Kontrabass, und der kleine Sohn mit 14 Jahren spielt das Akkordeon – die machen Volksmusik. Das ist deren traditionelle Musik. Und wir kupfern’s ab. In dieser Hinsicht war die Neue Deutsche Welle phantastisch, weil man da zum ersten Mal wieder etwas Eigenes gefunden hat, das neu war.“
Die Engländer haben da offenbar weniger Berührungsängste. Für die scheint es kein Problem zu sein, etwa einen alten Schlager aus den fünfziger Jahren von Alma Cogan zu singen.
„Witzig, dass du ausgerechnet Alma Cogan erwähnst! Als ich damals bei Ringo wohnte, war sie mal dort zu Gast. Ich saß da und spielte ein wenig klassische Gitarre, und sie war ganz begeistert, sagte: „„Toll, du musst in meiner Show spielen!“ Dann lud sie mich ein, zwei Songs in ihrer Show auf der klassischen Gitarre zu begleiten. Das war für sie ganz normal, all diese verschiedenen Musikstile gehörten ganz organisch zusammen.“
Bist Du eigentlich in den sechziger Jahren als Deutscher in England vielen Ressentiments begegnet?
„Nö, eigentlich kaum. Die Engländer nehmen ja ohnehin alles auf die Schippe. Hin und wieder gab’s mal Sprüche wie „Mein Vater flog damals im Flugzeug über Dresden“. Aber dabei blieb’s dann auch, die wussten ja schließlich, dass ich nichts dafür konnte. Einmal hat mich ein jüdischer Junge, der bei Ringo war, gefragt: „Weißt du denn nicht, dass der Hitler fünf Millionen Juden umgebracht hat?“ Natürlich weiß ich das, hab ich ihm gesagt, und damit war’s dann auch gut. In Hamburg war das anders. Ich erinnere mich, dass Paul in ein Restaurant ging, wo diese Kriegsversehrten mit ihren Holzbeinen saßen und ihre Suppe löffelten. Das war für ihn schon herbe, so nach dem Motto, hoffentlich war das nicht mein Vater, der dem das Bein abgeschossen hat.“
In den Sechzigern dominierte England unangefochten den internationalen Pop. Was war es aus Deiner Sicht, das die Menschen weltweit an der britischen Musik so faszinierte?
„Ich glaube, es war einfach der ganz eigene Ansatz. Man darf nicht unterschätzen, wie wichtig dabei die Texte waren, nachdem sie über die erst noch übliche Herzschmerz-Poesie hinausgingen. Und natürlich die Musik. Zunächst spielten wir in England einfach nach, was unsere großen Vorbilder in Amerika gemacht hatten. Und die Beatles konnten das am besten, weshalb sie eben auch für mich die beste Band waren. Letztlich machten Bands wie die Beatles aus ihrer, sagen wir mal, Unfähigkeit, das haargenau zu kopieren, eine Tugend und entwickelten ihren ganz eigenen Stil. Zum Beispiel so was (er nimmt eine Gitarre und spielt einen einfachen Boogie-Rhythmus), das kann jeder nachspielen, so einfach ist das. Auf einer Platte von beispielsweise Little Richard hatte das so ein Gigant wie Barney Kessel eingespielt, der spielte zwar im Prinzip dasselbe, aber den kann man natürlich nicht nachmachen. Nimm die Hausband von Motown, das waren die Vorbilder, und diese Musik bildete tatsächlich die Grundlage für das, was dann als britischer Pop berühmt wurde.“
Aber ist es nicht so, dass die englischen Musiker dieser US-Musik auch ihre ganz eigene, sehr fröhliche und optimistische Note zugefügt haben?
„Und wie! Da war einmal dieser britische Humor, der sich ja sehr vom amerikanischen unterscheidet. Und dann natürlich die musikalische Tradition. Nimm einen wie Van Morrison. Obwohl er zu guter Letzt ja sehr amerikanisch in seiner Musik wurde – der Kern ist immer noch deutlich irisch.“
Wer war für Dich denn der typischste, der englischste Musiker dieser Ära?
„Schwierig, da muss ich nachdenken. Eigentlich Ray Davies. Auch wenn das eine sehr regionale Sache war, er hatte ja diesen typischen Cockney-Akzent, und den verbarg er auch nicht. Du wirst im übrigen immer merken, dass englische Musiker versuchen, amerikanisch zu klingen, auch in der Sprache. Neulich traf ich Alan White (früher bei der Plastic Ono Band und bei Yes, Anm. d. Red.). Er kam ursprünglich aus Newcastle und sprach so sehr den dortigen Dialekt, dass ich kein Wort verstand, schlimm. Und heute spricht er wie ein waschechter Ami. Das hört man auch auf den Platten. Viele Engländer haben sich nach und nach absichtlich einen US-Akzent zugelegt. Ray Davies aber hat sich seine Sprache und auch seinen Blick auf die Dinge bewahrt. Für mich ist er der typischste englische Musiker.“
Gibt es für Dich einen Song, der das englische Lebensgefühl jener Zeit auf den Punkt bringt?
„Vielleicht die Kinks! Ich würde sagen: „Sunny Afternoon“.“
Du hast ja nicht nur als Musiker, sondern auch als Grafiker in England gearbeitet, hast neben dem berühmten „„Revolver“-Cover auch Arbeiten für andere, zum Beispiel die Bee Gees, designt. Wäre das, was Du damals künstlerisch gemacht hast, zu dieser Zeit auch in Deutschland möglich gewesen?
“ Ja, davon bin ich überzeugt. Ich hatte ja schon in den späten Fünfzigern für die deutsche Polydor Cover entworfen. Da waren solche Sachen durchaus möglich. Denk nur mal an die Zeitschrift „Twen“, die zu dieser Zeit schon eine sehr moderne Grafik hatte.“
Was war anders, als Du dann in den Siebzigern in Los Angeles als Studiobassist gearbeitet hast?
„Das war ganz deutlich zu spüren, dass man plötzlich da war, wo all diese Musik ursprünglich herkam. Die hatten es einfach drauf. Viele amerikanische Musiker haben ihre Tradition ganz tief drin, für die ist das völlig normal, die alte Musik zu spielen. Da wird das nicht unterschieden, da gibt’s nicht auf der einen Seite Pop und auf der anderen Seite Schlagermusik. Man muss nur zuhören, was bei denen an Fähigkeiten, an Stimmen, Stil, Ausdruck und Emotion rüberkommt. Mit wem würde man denn Aretha Franklin oder einen Ray Charles bei uns hier vergleichen wollen?“
Wie hat sich die englische Musikszene aus Deiner Sicht seit den sechziger Jahren verändert?
„Natürlich ist die Welt inzwischen viel enger zusammengewachsen. Manchmal kann man kaum noch erkennen, ob eine Band aus England kommt oder aus Amerika oder sogar aus Deutschland. Es hat sich eben alles etwas mehr vermischt, und auch Geschmack und Qualitätsanspruch haben sich angepasst. Gab es in den sechziger Jahren noch deutliche Unterschiede zwischen der Popular Music in den USA und England, ganz zu schweigen von Deutschland, man denke nur an den Motown oder Phil Spectors Sound, so hat sich das zwischenzeitlich ziemlich angeglichen. England hat großartige Acts hervorgebracht. Mir fallen spontan Gruppen wie Pink Floyd, Genesis oder Dire Straits ein. Oder denk mal an Coldplay. Ich liebe diese Gruppe!“