Kiss: So unterhaltsam und überraschend ist die „End Of The Road“-Tour

Natürlich bringen Kiss das große ­Besteck. Viel hilft viel, und mehr ist sowieso besser. Ein Bericht von der Abschiedstour einer Band, der es immer um die Show ging.

Gleich beim ersten Song steigen die Schminkemonster wie Comic-­Super­helden vom Himmel bzw. von der Hallendecke herab, während um sie ­herum Feuer, Funken und Fontänen ­toben. Auf ihrer „End Of The Road“-Tour verabschieden sich Kiss von den großen Bühnen der Welt – mit noch offenem, aber unvermeidbarem Ende: Gitarrist Paul Stanley ist 67, und Bassist ­Gene Simmons wird im August 70. Heute spielen sie zum vorerst letzten Mal im legendären Madison ­Square Garden in ihrer Heimatstadt und zelebrieren dabei mit Ansage ihren ­Ikonenstatus: Es gibt keine neue Musik, keine Experimente, dafür die große Rockshow mit Feuer und Schwefel, im Grundprinzip zeitlos, im ­Detail bekannt.

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Drei Klassiker machen den Anfang: „Detroit Rock City“, „Shout It Out Loud“ und „Deuce“. Simmons ­stolziert dazu auf Drachenfüßen umher und, ja klar, schlabbert mit der Zunge, während Paul Stanley mit ausladenden Bewegungen den Zeremonienmeister gibt. Alle vier Musiker spielen souverän, von altersbedingter Zurückhaltung auf der Bühne lässt sich tatsächlich wenig spüren. Dass auch im Rock’n’Roll die Zeit nicht anhält, zeigt hingegen die volle Bestuhlung des Innenraums. Es spricht jedoch für die Darbietung, dass das Publikum (Altersschnitt: 40+, Ausstattung mit Kiss-Shirt: 90 %) trotzdem von Anfang an steht.

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Die Band fährt das volle Programm und bringt ­deshalb sämtliche Showeffekte ihrer Geschichte: Simmons spuckt Feuer bei „War Machine“ und Blut bei „God Of Thunder“, Leadgitarrist Tommy Thayer schießt nach „Cold Gin“ Raketen aus seiner Gitarre, und das Drumkit von Eric Singer erhebt sich zu zuckenden Blitzen in die Lüfte. Neu sind die 16 riesigen Panels, die über den Musikern fliegend Grafiken oder Animationen ­zeigen und zusammen mit dem ­gewaltigen achteckigen ­Bildschirm zu fast jedem Song das optische Ambiente wechseln. Flammen züngeln, 3‑D-­Monster zappeln, schwarz-weiße Videosequenzen 40 Jahre alter Shows erhalten Applaus.

„Immer groß“ gilt natürlich auch für die Setlist

Wir hören vor allem Siebziger-­Stücke wie „Calling Dr. Love“, „100.000 Years“ und „Black Diamond“; gleich vier Stücke stammen vom 1974er-Debüt, sogar fünf von „Destroyer“ (1976). Paul Stanley erzählt die Anekdote, wie er 1972 als Taxifahrer Elvis-Fans zum „Garden“ kutschierte und sich schwor, selbst irgend­wann einmal auf dieser Bühne zu stehen. Genüßlich weist er darauf hin, dass Kiss die Halle nun zum 15. Mal ausverkauft haben. Dass der Mann heute in hohen Tonlagen Songs singen muss, die er als Mittzwan­ziger geschrieben hat, bescherte ihm in den letzten Jahren ebenso nachvollziehbare wie hörbare Schwie­rigkeiten. Mittlerweile scheinen tatsächlich ein paar Sachen vom Band zu kommen, wie Fans mit forensischer Akribie herausgefunden haben. Das kann man in dieser Dosierung durchgehen lassen, zumal es bei Kiss noch nie um perfekten Satzgesang ging. Warum Stanley allerdings sogar die Ansagen mit seiner hohen Krähstimme machen muss, wird ein Rätsel bleiben.

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Die Endrunde des Abends läutet der Frontmann ein, indem er per Seilbahn quer über das Auditorium für „Love Gun“ und „I Was Made For Lovin’ You“ zu ­einer kleinen Zweitbühne fliegt. Für die Zugabe mit dem Schmachtfetzen „Beth“ setzt sich Eric Singer an ein glitzerndes Piano, bevor Simmons und Thayer mit zwei Kränen bis über die Ränge schweben.

Natürlich endet der Abend nach 20 Songs und mehr als zwei Stunden mit dem unvermeidlichen „Rock And Roll All Nite“, zu dem Stanley in einem unfassbaren Konfettiregen seine ­Gitarre zerschlägt – es gibt eben verlässliche Konstanten im Kiss-Kosmos. Darüber freut sich nicht nur der innere 15-jährige Headbanger, der erwachsene Connaisseur effektiver Rock’n’Roll-­Songs kann es auch. Ein ­wenig überraschender, aber zweifelsohne unterhaltsamer Abschied.

Dominic Pencz
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